Vintage-Fahrrad Eine Zeitreise auf Rädern

Bei Vintage-Radrennen wie der L'Eroica Britannia treffen sich die Liebhaber alter Räder zu gemeinsamen Touren. Sie feiern in Wolljerseys und Kniestrümpfen die Liebe zu alten Zeiten - Schnelligkeit wird zur Nebensache.

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Zeitreise auf Rädern: Die Teilnehmer sitzen auf Modellen, die scheinbar direkt aus dem Museum kommen. Quelle: REUTERS

Anfang Juni, ein sonniger Morgen im britischen 4000-Einwohner-Städtchen Bakewell bei Manchester. Ein Wimpel mit dem Union Jack flattert über die Water Lane. Die schmale Gasse ist gesäumt von Steinhäusern aus dem 19. Jahrhundert. Ein herrlich ruhiges Dorfidyll – wären da nicht Hunderte von Rennradfahrern in, nun ja, auffallender Montur.

Die einen tragen Wolljerseys, andere bunte Mützen mit Sonnenblenden, alle sitzen leicht nervös auf ihren Rennrädern. Doch deren Rahmen sind nicht aus Aluminium oder Carbon wie die modernen Rennmaschinen der Tour de France. Vielmehr stammen sie aus einer früheren Epoche.

Wer damals den Gang wechseln wollte, musste sich tief herunterbeugen und einen Hebel am Rahmen betätigen. Materialfahrzeuge, die Rennradfahrer heutzutage auf Etappen begleiten, gab es auch noch nicht. Daher haben sich einige Fahrer in Bakewell zwei Ersatzschläuche über die Schultern gehängt. Kann ja sein, dass doch etwas schiefgeht.

Diese Fahrräder taugen als Statussymbol
In Japan baut der traditionsreiche Yacht-Konstrukteur Sueshiro Sano Fahrräder aus Mahagoni-Holz, das aus Honduras kommt. Seine Räder seien mindestens so leistungsfähig wie Räder mit modernen Carbonrahmen, würden aber eher eine "ältere" Klientel anziehen, sagt er. Älter und natürlich gut situiert: Das japanische Mahagoni-Fahrrad kostet stolze 14.500 Euro. Quelle: Screenshot
Edel-Fahrrad aus Mahagoni von Sueshiro Sano Quelle: Screenshot
Edel-Fahrrad aus Mahagoni von Sueshiro Sano Quelle: Screenshot
Edel-Fahrrad aus Mahagoni von Sueshiro Sano Quelle: Screenshot
Südlich der Alpen hat der italienische Luxusräder-Hersteller 43 Milano mit dem Sportwagendesigner Pininfarina zusammengearbeitet. "Fuoriserie" - auf Deutsch etwa Sondermodell - nimmt Anleihen bei einem Sportwagen aus den 1930er Jahren, wie Pininfarina-Chef Paolo Pininfarina sagt: "Das geflochtene Leder des Sattels und des Lenkers sind vom Inneren des Wagens inspiriert." Quelle: Screenshot
Das Fahrrad mit seinem Chromstahl-Rahmen und einem diskreten Elektromotor mit dem stattlichen Preis von 8.400 Euro sei gedacht für "Führungspersönlichkeiten, die im Stadtzentrum wohnen, wo die Straßen in der Regel voll sind". Quelle: PR
Fuoriserie im Pininfarina-Design von 43 Milano Quelle: PR

Auf Geschwindigkeit alleine kommt es hier niemandem an, aber selbst durchs Ziel fahren will dann doch jeder. Auch wenn es diesmal länger dauert. Denn das Material ist nicht unbedingt für Rekorde geeignet.

Zwar wirken viele Räder dank ihrer dünnen Rohre grazil und leicht. In Wahrheit sind sie aus Stahl und wiegen an die 15 Kilogramm. Umso wichtiger ist es, auf der Fahrt nicht hinzufallen. Zum Vergleich: Ein durchschnittliches modernes Rennrad wiegt nur etwa sechs Kilo.

Aus der Zeit gefallen

Statt eines lauten Startschusses spricht ein Zeremonienmeister mit Zylinder feierliche Worte. Dann bewegt sich der Wurm aus Menschen, die aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, durch das britische Nest, dessen ältestes intaktes Bauwerk eine Brücke aus dem 13. Jahrhundert ist. Willkommen bei der Eroica Britannia.

Dahinter verbirgt sich eines der jüngsten Festivals der Radkultur, die derzeit europaweit einen Aufschwung erleben und nun auch in Deutschland zunehmend Anhänger finden.

Deutsche Vintage-Radrennen

Kein Wunder: Seit einigen Jahren gehören Rennräder aus der Zeit vor Aluminium und Carbon zum Straßenverkehr jeder Großstadt. Die Fahrer sind oft jünger als ihr Gefährt, sie kurven in der Unterlenkerposition wie einst Eddy Merckx zur Uni oder zum Eiscafé. Vergessen geglaubte Markennamen des Fahrradbaus wie Peugeot oder Motobécane erleben eine Renaissance – und das kostet. Bis zu 3000 Euro zahlen sportliche Nostalgiker für ein Rennrad.

All diese Klassikermodelle sieht man auch auf den historischen Radfesten. Deren Ablauf ist meist gleich: Über mehrere Tage treffen sich die Teilnehmer zu einer Mischung aus Volksfest, Musikfestival und Zeltlager. Im Mittelpunkt steht alles rund um alte Fahrräder. Höhepunkt ist stets eine Tour, die mal gemütlich, mal herausfordernd geplant ist, aber immer nach gewissen Regeln abläuft. Die meisten Veranstalter pochen darauf, dass das Rad ein Mindestalter von etwa 30 Jahren bereits überschritten hat – und der Fahrer in spezieller Montur startet.

Mit Stahl-Monstern über staubige Schotterwege

Vorbild der Radjahrmärkte ist die L’Eroica in Italien. Dahinter steckt der italienische Fahrradsattel-Hersteller Selle Royal. 1997 versammelten sich im Chianti-Gebiet in Gaiole erstmals 82 Teilnehmer, um auf Rennrädern die Strapazen früherer Rundfahrten nachzuempfinden. Es folgten weitere Eroica-Ausgaben im kalifornischen Paso Robles und dem spanischen Cenicero im Rioja.

In Flandern gibt es die Tour Retroronde, in Österreich die Velo Veritas. Inzwischen nehmen am Vintage-Radrennen in der Toskana 5700 Menschen teil. Sie können wählen zwischen vier Routen, von 38 bis 209 Kilometer, die über oft staubige Schotterwege führen. Die Nachfrage ist inzwischen so groß, dass die Organisatoren die Plätze verlosen müssen.

Die ausgefallensten Fahrräder der Embacher-Collection
#203: Pacific Cycles / IF ModeEin Faltrad des britischen Designers Mark Sanders aus dem Jahr 1987. Es ist der Versuch, den Fahrkomfort eines normalen Rades – hier mit 26 Zoll großen Reifen – und der Transportfähigkeit eines Klapprades zu vereinbaren. Das IF Mode hat es dank seiner Optik in den Science-Fiction-Film „The Coming Days“ geschafft. Quelle: Presse
#198: Pedersen-RadDie Geometrie entwickelte der Schmied Mikael Pedersen bereits 1893. Dieses Modell aus dem Jahr 1978 ist das dritte, das je gebaut wurde. Es ist ein Prototyp, der auf Basis der wiederentdeckten Pläne entstand. Fahrkomfort ist das große Ziel der Konstruktion, was angesichts der Qualität des Fahrbahnbelags Ende des 19. Jahrhunderts wenig überrascht. Quelle: Presse
#189: C4 TrackDa fehlt doch was? Genau: Das Sattelrohr. Was nicht da ist, kann nichts wiegen. Wenn ein Rad weniger wiegt, ist es schneller. Und um Tempo ging es bei der Konstruktion dieses Bahnrads aus dem Jahr 1988, das aus dem damals noch kaum verwendeten Material Carbon hergestellt wurde. Quelle: Presse
#177: Wilhelmina Plast / IteraDer Ausstellungskatalog spricht vom wohl bizarrsten Rad, das je hergestellt wurde. Das bezieht sich weniger auf die Form, die zwar außergewöhnlich ist, aber den Gegenstand noch als Fahrrad erkennbar sein lässt. Es ist das Material, das verwendet wurde: So gut wie jedes Teil ist aus Kunststoff. Für die Konstruktion des Rades von 1984 bekam der Hersteller Unterstützung von der Schwedischen Nationalbank. Quelle: Presse
#170: Capo Sport / Eis BikeNicht überall ist Asphalt oder wenigstens Schotter der Bodenbelag. In frostigen Gegend kann das auch Eis sein. Für diese Regionen mit viel zugefrorenen Gewässern eignet sich dieses Rad aus den Sechzigerjahren mit einer Kufe anstelle eines Vorderrads. Quelle: Presse
#168: MFA / LambrettaDer Motorroller Lambretta gehört zu der Reihe an italienischen Fahrzeugen, die es in die Herzen der Fahrer geschafft haben. Kinder bewunderten diese Gefährte auch zu ihrer Hoch-Zeit in den Sechzigern. Und für die wurde dieses Kinderrad gebaut, das aussieht wie seine großen Schwestern. Quelle: Presse
#135: Carnielle GraziellaBonanza ist nicht nur der Name einer Fernsehserie, sondern auch der Name einer in den Siebzigerjahren überaus beliebten Radkategorie. Sie lehnen sich auch als Kinderfahrrad an die Ästhetik von Chopper-Motorrädern an. Dieses Modell hat sogar gefederte Räder. Der Preis der Coolness: happige 19,5 Kilogramm Gewicht. Quelle: Presse

So weit ist es bei der zweiten Auflage der Eroica Britannia noch nicht. Rund 3000 Radler waren für die drei Routen mit einer Länge von 45, 88 und 160 Kilometern gemeldet. Darunter auch die Deutschen Christian Hagge und Tim Meyer-König aus Flensburg.

15 Kilometer nach dem Start, im Örtchen Tideswell. Das deutsche Duo lässt es sich im Schatten einer Kirche gut gehen. Helfer servieren Tee und Kaffee, es gibt Brötchen mit dicken Speckscheiben. Hagge und Meyer-König sind das erste Mal dabei, sie sind extra nach England gereist – allerdings ohne Fahrräder. Die haben sie sich vor Ort geliehen.

Hetz mich nicht!

Für die Guv’nor’s Assembly käme das nicht infrage. So nennt sich eine Gruppe, die bei der Eroica Britannia mit zwölf Rädern antritt. 45 Kilometer und 800 Höhenmeter bewältigen die Teilnehmer der Assembly auf ihren Nachbauten eines britischen Rennrads aus den Dreißigerjahren. Eine Schaltung mit mehreren Gängen, die einen leichteren Tritt bietet, gab es damals noch nicht. So verflucht zehn Kilometer vor Schluss der ein oder andere am letzten steilen Anstieg die Wahl des Geräts. Am Ende der Route sammelt sich die Truppe in ihrer stilechten Kleidung und wartet auf die langsameren Mitglieder, um gemeinsam ins Ziel zu fahren.

Hetzen ist verpönt. Die Distanz soll die Fahrer strapazieren, aber die Geschwindigkeit ist nicht so wichtig. Statt digitaler Chips für eine sekundengenaue Zeitnahme bekommt jeder Radfahrer eine Karte, die an mehreren Stationen abgestempelt wird. Als Zeugnis der Leistung und als Souvenir.

Die Stempel gibt es an einer der vielen Verpflegungsstationen, die bei historischen Radrennen eher an ein überdurchschnittliches Buffet erinnern. Anhalten, vom Rad steigen und in aller Ruhe die noch nicht allzu leeren Energiespeicher wieder auffüllen, ist fester Bestandteil jedes Vintage-Rennens.

Statt Wasser, Bananen und Gels gibt es deftige Wurstbrötchen mit geschmorten Zwiebeln. Wie wichtig reichhaltige Genüsse bei so viel körperlicher Ertüchtigung sind, verschweigen die Veranstalter nicht. Ganz im Gegenteil.

Früher war vieles besser – aber nicht alles leichter

In Italien werden Brote mit Parmaschinken gereicht, in Spanien Tapas, in Großbritannien Scones zum Tee am Nachmittag. Kurz vor dem Ziel, vor der imposanten Kulisse des Schlosses Chatsworth, erhalten die Teilnehmer Eis, Sandwiches und Cava in Plastikbechern.

Eine gute Gelegenheit, sich schon kurz vor dem Ende über die Erlebnisse von unterwegs auszutauschen. Viele berichten von platten Reifen, nachdem sie zu eifrig über die Schotterwege gesteuert sind. Andere schwärmen von der Liebe zum Material, das trotz seines hohen Alters immer noch genauso glänzt, als sei es nie gefahren worden.

Bei vielen Vintage-Radrennen findet deswegen auch ein Schönheitswettbewerb statt. Dort werden besonders liebevoll hergerichtete Stahlrenner ausgezeichnet, egal, wie wertvoll sie früher mal waren. Außerdem ist bei den Rennen ein lebhafter Handel mit teuren Ersatzteilen entstanden.

Hohe Preise für Ersatzteile

An den Ständen zahlen Liebhaber für gut erhaltene Bremsen gerne mal mehrere Hundert Euro. Neben den Bühnen für Livemusik und den Cocktailbars in ausrangierten roten Doppeldeckerbussen warten an den Ständen Tausende von Einzelteilen ausgeschlachteter Räder auf neue Besitzer.

Praxistipps beim Fahrradkauf

Und unterwegs kann einiges kaputt gehen. Die für Vintage-Rennen typischen Routen über nicht asphaltierte Pisten verlangen nicht nur dem Radfahrer, sondern auch dem Material einiges ab. Schaltwerke können zerbersten oder Ketten reißen, wenn die Fahrer am Anstieg mit aller Energie treten. Abwärts lauern ebenfalls Gefahren. Der Duft von verbranntem Gummi steigt in die Nase, wenn bei steilen Abfahrten Geschwindigkeiten von 60 oder mehr Stundenkilometern erreicht werden und am Ende eine scharfe Kurve auf die Fahrer wartet.

Wer an moderne Fahrräder mit ihren geräuschlosen Dynamos und sanften Hydraulikbremsen gewöhnt ist, weiß die Leistung vergangener Radfahrer-Generationen nun umso besser zu schätzen. Alles ist behäbiger, schwerer und raubt mehr Kraft: den Waden, die in die Pendale treten, genauso wie den Fingern, die die schwergängigen Bremsen mit bald roher Gewalt ziehen müssen, um die Räder zu stoppen.

Spätestens im Ziel wissen alle Teilnehmer die schmerzhaften Erfahrungen zu schätzen. Dort sind die Anekdoten der Nährstoff der Heldenerzählungen beim verdienten Bier. Statt eines kraftvollen und furiosen Sprints über die Ziellinie rollen die Teilnehmer gemächlich und genüsslich auf den Bakewood Festival Ground, auf dem einige Tausend Zuschauer Spalier stehen für die kostümierte Schar.

Noch vor der Ziellinie steigen alle ab und warten geduldig, bis auch sie für ein Foto mit ihrem Gefährt posieren dürfen. Das Bild wird die Fahrer für immer an diesen Tag erinnern. Ein Tag, der sie lehrt, dass früher vielleicht vieles besser war – aber nicht alles leichter.

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