Virtuos beleidigen "Gesten sind wie eine Fremdsprache"

Er gilt als Beleidigung und diente doch viele Jahrhunderte als Zeichen der Macht. Der Professor Reinhard Krüger über die richtigen und falschen Momente der Mittelfingergeste. Und wie man sie geschickt einsetzt.

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Ein Kunstwerk vor dem Gebäude der Mailänder Börse. (REUTERS/Stefano Rellandini) Quelle: REUTERS

Herr Krüger, Sie forschen zur Geste des ausgestreckten Mittelfingers und kennen die Jahrtausende alte Historie. Aber zunächst: Wann haben Sie zuletzt selbst den Mittelfinger gezeigt? Im Straßenverkehr, wo er zum guten Ton gehört?

Ich bin im Autoverkehr eher gelassen. Ich weiß, woher der Ärger herkommt. Ich lasse mich dadurch nicht provozieren. Ich fahre vielleicht an dem Gegenüber so vorbei, dass mein Mittelfinger an der Wange ruht und die Hand den Kopf stützt und fahre ohne hinzusehen weiter. Das ist die euphemistische Verwendung des Mittelfingers. Und die ist niemals justiziabel.  

Sind Sie nie in Versuchung, ihre Kenntnisse über die verschiedenen Bedeutungen der gleichen Geste anzuwenden?

Ich könnte den Mittelfinger höchst virtuos in verschiedenen Kulturen einsetzen. Ich wüsste, was ich in Rom machen müsste, ich wüsste, was ich in England oder in den USA machen muss für eine angemessene Wirkung. Ich würde auch in Mexiko schon richtig verstanden. Ich habe mir das durch entsprechendes Handtraining angeeignet, so wie man eine Fremdsprache erlernen kann. Aber als Injurien gemeinte Gesten gehören nicht zu meinem Repertoire.

Vita

Dafür zu Ihrem Forschungsgebiet. Die Mittelfingergeste ist Jahrtausende alt, wird aber mittlerweile mehr oder minder offen von Politikern wie George Bush oder Barack Obama gezeigt. Regt das überhaupt noch wen auf?  

Das hängt auch heute noch von der Konstellation ab. Wenn ich mit einem Freund beim Bier säße, er einen ausgegeben haben möchte, ich das aber nicht mehr zahlen will, dann zeige ich ihm den Mittelfinger in einer kameradschaftlichen, freundlichen Art und Weise. Er wird das richtig einordnen. Dann hat die Geste das gleiche Aggressionslevel, wie das Emoticon des Mittelfingers, das jetzt bei WhatsApp verwendet wird. Das ist etwas Augenzwinkerndes, das unter Freunden unproblematisch ist. In Situationen, in denen der Konflikt klar ist, ist es praktisch unmöglich, das so zu sehen.

Wenn man von der Polizei angehalten wird, ...

... würde der Mittelfinger sofort als Beleidigung interpretiert. Wir haben es mit einem Spektrum von Deutungen zu tun, von legitim über „kann man aushalten“ bis zu handfester Beleidigung.

Gesten, die im Ausland unbeliebt machen
A young France's fan with the face painted in national flag colors shows victory sign as he waits for the start of the Group D Euro 2012 soccer match against Sweden Quelle: REUTERS
Nicole (8) streckt am Dienstag (21.06.2005) in einem Freibad in Gelsenkirchen dem Fotografen die Zunge heraus. Quelle: dpa/dpaweb
Der deutsche Tennisspieler Tommy Haas zeigt am Sonntag (17.06.2012) bei den Gerry Weber Open in Halle (Westfalen) im Finale gegen den Schweizer Federer mit dem Zeigefinger zur Seite. Quelle: dpa
Mann mit der Hand am Hals Quelle: Fotolia
A newly commissioned second lieutenant gives a thumbs up at the Air Force Academy Quelle: REUTERS
A fan wearing a mask gives the thumbs up as he enters the venue of the concert of US singer Madonna Quelle: dpa
Köchin zeigt mit ihren Händen "okay" Quelle: Fotolia

Hat es Sie gewundert, dass der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis damit noch so viel Aufsehen erregen konnte?

Nein, das hat mich nicht gewundert. Der ausgestreckte Mittelfinger gehört auch in Deutschland in konfliktreichen Situationen zu den gebräuchlichen Gesten. Diese Aufregung ist eher ein Sturm im Wasserglas gewesen, der von TV-Moderator Günter Jauch entfacht wurde. Er wollte hier demonstrieren, was die Griechen für unanständige Lümmel sind und insbesondere so ein marxistischer Wirtschaftsminister. Das ist der eigentliche Hintergrund der Aufregung.

Sie schildern in Ihrem Buch „Der Stinkefinger – Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste“, dass die Geste in der Spätantike über das Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit kaum bildlich festgehalten wurde und mithin etwas geringere Bedeutung hatte. Erst im 20. Jahrhundert sei sie wieder vermehrt zu sehen. War der Stinkefinger seit jeher eine Beleidigung?

Sie ist eine der ältesten Gesten, die man identifizieren kann. Nein, in ihren Anfängen ist die klar phallische Geste nicht als Beleidigung gemeint gewesen. Sie wurde als Machtdemonstration gesehen. Genau wie auf Felsritzungen der Bronzezeit und des Neolithikums Waffenträger mit erigiertem Penis zu sehen sind, der Macht demonstrieren soll. Das ist noch keine Beleidigung. Der Stinkefinger ist eher Primaten-Gebaren, mit dem demonstriert werden soll, wer der mächtigere ist.

Promis und der Mittelfinger

Zahlreiche Prominente ließen sich vorsätzlich mit gestrecktem Mittelfinger fotografieren oder wurden dabei „ertappt.“ Haben diese Bildnisse die Deutung der Geste verändert oder geschieht die Interpretation im Alltag?

Die berühmten Beispiele von Johnny Cash im Gefängnis von St. Quentin über die Rolling Stones bis Frank Zappa, Sportler, die global präsent sind, spielen bei der Deutung der Geste eine sehr große Rolle. Auf der anderen Seite gibt es eine ganz alltägliche Verbreitung dieser Geste, die nicht an die spektakulären Anwendungen gebunden sind.

Das Victory-Zeichen, das Joseph Ackermann im Gerichtssaal zeigte, erregte bei vielen Menschen Ärger, obwohl es gar keine Beleidigung ist. Hätte er auch gleich den Mittelfinger zeigen können?

Ganz sicher nicht. Das Problem Ackermanns war es, dass er diese Geste nach dem Freispruch zeigte. Es war also keine aggressive Situation mehr für ihn. Da wäre eine aggressive Geste ausgesprochen unangebracht gewesen, denn er muss ja nicht mehr seine Abwehr artikulieren. In dem festgehaltenen Augenblick ging es nur noch darum, wie er es im Bündnis mit seinen Anwälten geschafft hat, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Nichtsdestotrotz ist jemand eines ökonomischen Zuschnitts wie Ackermann sehr schlecht beraten, überhaupt eine Geste zu nutzen. Oder anders: Wenn er körpersprachlich aus der Norm fällt, die von einem Entscheidungsführer zu erwarten wäre, dann spricht das dafür, dass der Druck und der Stress so groß war, dass ich annehme, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war.

Recht einfach: Rechtsprechung zum Thema Beleidigung

Also war auch Peer Steinbrücks Entscheidung, mit der Geste des Mittelfingers sich fotografieren zu lassen, falsch?

Bei ihm war es in gewisser Weise stimmig. Der Stinkefinger ist eine sozial niederrangige Geste, die in der Arbeiterklasse öfter verwendet wird. Mit seiner Geste nähert er sich seinen Wählern an, die aus der Arbeiterschicht kommen. Auf der anderen Seite ist Steinbrück alles andere als ein proletarischer Haudegen. Ich könnte mir vorstellen, dass es für einen jungen Gerhard Schröder, der aus schwierigen sozialen Verhältnissen kam, eine angemessenere Geste gewesen wäre.

Gibt es eine Situation, in der Sie auf Basis historischer Erfolge der Geste Managern oder Unternehmern empfehlen würden, den Mittelfinger zu zeigen?

Ich kann mir das nur sehr schlecht vorstellen. Wenn jemand völlig ungeachtet des Inhalts in einer Diskussion, in der es um hunderte Millionen zur Rettung von Banken oder hunderte Millionen zur Kürzung von Renten geht, eine solche Geste verwendet, ist das schwierig. Solche Themen sind von ihrer  sozialpolitischen Relevanz so weittragend, dass eine argumentationslose Diskussion mittels Geste schlicht und ergreifend nicht der Weg sind, den man in einer politischen Kultur gehen sollte. Es gibt ein Foto, dass den Millionär Rockefeller bei einer Demonstration zeigt, wie er den Teilnehmern seinen Mittelfinger entgegenstreckt. Das ist nun in den USA geduldeter als es bei uns der Fall wäre. Aber auch da ist das ein Zeichen der Arroganz.

Gesten als Verknappung von Kommunikation sind dann immer schlecht geeignet?

Ja, auch Daumen hoch und Daumen runter sind nicht besser. Es gibt überhaupt nur ein einziges System von körpersprachlichen Zeichen, das gut funktioniert in der Wirtschaft und das ist die von den Börsenmaklern im Parkett.

Warum steht dann ausgerechnet vor der Mailänder Börse eine Skulptur, die den Stinkefinger zeigt?

Das ist ein Kunstwerk. Der Bildhauer Maurizio Catellan ist eher einzuordnen in die Gattung Spaß-Avantgarde. Der versucht, bestimmte Sachverhalte für seine Aussage zu nutzen. Wenn der nun den ausgestreckten Mittelfinger als Plastik vor die Mailänder Börse stellt, dann ist das Kritik am System. In Mailand ist besonders gut zu beobachten, wie die Menschen im Bankenviertel ihre eigene Welt erschaffen haben, die vom restlichen Leben der Stadt abgetrennt ist.

Warum funktioniert die Geste in der Popkultur als Werbung?

Wenn die Geste so ablehnend ist, wie sie sagen – warum funktioniert es in der Popkultur als Werbung?

Der von Frank Zappa mitten im Konzert in die Höhe gestreckte Mittelfinger ist ein Zeichen, mit dem er sagt, dass das alle machen sollten als Geste gegen die herrschende Elite. Hier ist es keine Aggression gegen das Publikum, sondern eine Herstellung von Gemeinsamkeit. Wenn sich die Rockmusik anti-bürgerlich definiert, dann ist die Ablehnung ein gutes Mittel, Identität zu stiften. Es hilft natürlich auch, die Verkaufszahlen nach oben zu treiben, in dem mit dieser vermeintlich non-konformistischen Geste, eine bestimmte Kundschaft angesprochen wird. Im Falle des Covers des erotischen Bildbandes der Popmusikerin Madonna, das zeigt, wie sie sich den Mittelfinger in den Mund steckt, handelt es sich wiederum klar um eine sexuelle Geste.

In seiner herkömmlichen Darstellung ist der Mittelfinger aber emanzipiert – er hat bei Frauen die gleiche Bedeutung wie bei Männern?

Nein, da gibt es keinen Unterschied. Das ist geschlechtsneutral.

So benehmen Sie sich in Deutschland richtig

Sie sind von Haus aus als Romanist und Literaturwissenschaftler dem Text verbunden. Hat die Geste eine literarische Qualität?

Meine Forschungen in der Literatur führten dazu, dass ich erkannt habe, dass in Erzähltexten nicht nur berichtet und geredet wird, sondern dass auch Körpersprache inszeniert wird. So bin ich auf diese Ebene von Sprachkunstwerken gekommen. Die Darstellung von körperlicher Kommunikation in Erzähltexten ist ein eigenes Element. Wie wird Körpersprache in der Literatur verwendet? Mit dieser Frage habe ich mich dann beschäftigt. Danach wurde ich von einem Wissenschaftler gefragt, ob ich nicht an einem Buch über Gesten mitarbeiten wolle. Es begann dann vor mehr als 20 Jahren mit dem Lexikon der Berliner Alltagsgesten. Seitdem habe ich kontinuierlich jedes Vorkommen der mir relevant erscheinenden Gesten festgehalten und gesammelt.

Sprache hat sich in den Jahrzehnten, Jahrhunderten massiv verändert, Gesten kaum. Wieso?

Gesten sind erheblich beständiger als Sprache. Gesten, die Körperliches ganz elementar ausdrücken, wie die phallische Herkunft des Mittelfingers, überdauern viele Jahrtausende. Gesten, die eher von kurzlebigeren Phänomenen ausgehen, verschwinden rasch. Ich glaube nicht, dass man in 500 Jahren noch nennenswert die Details des deutschen Faschismus kennen wird und mithin das Heben der rechten Hand so zuordnen wird. Über den Hitlergruß wird in 500 Jahren kaum noch wer was wissen. Über den gestreckten Mittelfinger schon.

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