Zahlreiche Prominente ließen sich vorsätzlich mit gestrecktem Mittelfinger fotografieren oder wurden dabei „ertappt.“ Haben diese Bildnisse die Deutung der Geste verändert oder geschieht die Interpretation im Alltag?
Die berühmten Beispiele von Johnny Cash im Gefängnis von St. Quentin über die Rolling Stones bis Frank Zappa, Sportler, die global präsent sind, spielen bei der Deutung der Geste eine sehr große Rolle. Auf der anderen Seite gibt es eine ganz alltägliche Verbreitung dieser Geste, die nicht an die spektakulären Anwendungen gebunden sind.
Das Victory-Zeichen, das Joseph Ackermann im Gerichtssaal zeigte, erregte bei vielen Menschen Ärger, obwohl es gar keine Beleidigung ist. Hätte er auch gleich den Mittelfinger zeigen können?
Ganz sicher nicht. Das Problem Ackermanns war es, dass er diese Geste nach dem Freispruch zeigte. Es war also keine aggressive Situation mehr für ihn. Da wäre eine aggressive Geste ausgesprochen unangebracht gewesen, denn er muss ja nicht mehr seine Abwehr artikulieren. In dem festgehaltenen Augenblick ging es nur noch darum, wie er es im Bündnis mit seinen Anwälten geschafft hat, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Nichtsdestotrotz ist jemand eines ökonomischen Zuschnitts wie Ackermann sehr schlecht beraten, überhaupt eine Geste zu nutzen. Oder anders: Wenn er körpersprachlich aus der Norm fällt, die von einem Entscheidungsführer zu erwarten wäre, dann spricht das dafür, dass der Druck und der Stress so groß war, dass ich annehme, dass er sich seiner Sache nicht so sicher war.
Recht einfach: Rechtsprechung zum Thema Beleidigung
Trotz Rauchverbots pafften in einer Erfurter Disco zwei Männer. Als sich eine Studentin beschwerte, blies ihr einer der beiden eine Lunge voll feuchten Zigarettendunstes ins Gesicht. Die Studentin warf ihm als Reaktion ein Glas an den Kopf. Der Raucher zeigte die Studentin wegen Körperverletzung an. Vergebens. Die Richter sahen in der Qualm-Attacke eine demütigende Ehrverletzung. Der Glaswurf sei daher Notwehr gewesen (Amtsgericht Erfurt, 910 Js 1195/13 48 Ds).
Nach einem Drittligaspiel zwischen SSV Jahn Regensburg und Carl-Zeiss Jena gerieten in einem Regensburger Biergarten Fans beider Vereine aneinander. Eine Polizistin schaltete sich ein und wollte schlichten. Statt Dank erntete sie Spott. „Hat der Pumuckl heute auch was zu sagen?“, schrie ein Fan. Der Spruch brachte ihm zwei Monate Strafe auf Bewährung wegen Beleidigung (Amtsgericht Regensburg, 24 Ds 125 Js 16800/12).
Eine Frau bestellte in Schwaben ein Taxi zum Bahnhof. Das Taxi kam verspätet; der Zug war weg. Erbost rief die Kundin den Chef des Taxiunternehmens an: Das Unternehmen solle sie per Taxi an ihr Endziel bringen. Der Unternehmer sagte: „Leck mich am Arsch“, und legte auf. Die Beleidigungsklage der Kundin wurde abgewiesen. Der Richter klärte die Dame auf, dass im „schwäbischen Sprachgebrauch“ das beanstandete Götz-Zitat „alltäglich“ verwendet werde. Es diene dazu, ein Gespräch endgültig zu beenden oder eine „als Zumutung empfundene Bitte zurückzuweisen“ (Amtsgericht Ehingen, 2 Cs 36 Js 7167/09).
Also war auch Peer Steinbrücks Entscheidung, mit der Geste des Mittelfingers sich fotografieren zu lassen, falsch?
Bei ihm war es in gewisser Weise stimmig. Der Stinkefinger ist eine sozial niederrangige Geste, die in der Arbeiterklasse öfter verwendet wird. Mit seiner Geste nähert er sich seinen Wählern an, die aus der Arbeiterschicht kommen. Auf der anderen Seite ist Steinbrück alles andere als ein proletarischer Haudegen. Ich könnte mir vorstellen, dass es für einen jungen Gerhard Schröder, der aus schwierigen sozialen Verhältnissen kam, eine angemessenere Geste gewesen wäre.
Gibt es eine Situation, in der Sie auf Basis historischer Erfolge der Geste Managern oder Unternehmern empfehlen würden, den Mittelfinger zu zeigen?
Ich kann mir das nur sehr schlecht vorstellen. Wenn jemand völlig ungeachtet des Inhalts in einer Diskussion, in der es um hunderte Millionen zur Rettung von Banken oder hunderte Millionen zur Kürzung von Renten geht, eine solche Geste verwendet, ist das schwierig. Solche Themen sind von ihrer sozialpolitischen Relevanz so weittragend, dass eine argumentationslose Diskussion mittels Geste schlicht und ergreifend nicht der Weg sind, den man in einer politischen Kultur gehen sollte. Es gibt ein Foto, dass den Millionär Rockefeller bei einer Demonstration zeigt, wie er den Teilnehmern seinen Mittelfinger entgegenstreckt. Das ist nun in den USA geduldeter als es bei uns der Fall wäre. Aber auch da ist das ein Zeichen der Arroganz.
Gesten als Verknappung von Kommunikation sind dann immer schlecht geeignet?
Ja, auch Daumen hoch und Daumen runter sind nicht besser. Es gibt überhaupt nur ein einziges System von körpersprachlichen Zeichen, das gut funktioniert in der Wirtschaft und das ist die von den Börsenmaklern im Parkett.
Warum steht dann ausgerechnet vor der Mailänder Börse eine Skulptur, die den Stinkefinger zeigt?
Das ist ein Kunstwerk. Der Bildhauer Maurizio Catellan ist eher einzuordnen in die Gattung Spaß-Avantgarde. Der versucht, bestimmte Sachverhalte für seine Aussage zu nutzen. Wenn der nun den ausgestreckten Mittelfinger als Plastik vor die Mailänder Börse stellt, dann ist das Kritik am System. In Mailand ist besonders gut zu beobachten, wie die Menschen im Bankenviertel ihre eigene Welt erschaffen haben, die vom restlichen Leben der Stadt abgetrennt ist.