Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts Gegen den Stress der Massen braucht es mehr als Achtsamkeit

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Die Herausforderung der 2020er: Die Armee der Gestressten verkleinern

Der Schritt in die echte und wirksame Achtsamkeit kann also, wenn der Stress erst einmal da ist, nur noch mit rabiaten Mitteln durchgesetzt werden – gegen die Mitmenschen, die Familie und nicht zuletzt gegen sich selbst. Kein Wunder, dass im ausgehenden Jahr auch einige Ratgeber und Erfahrungsberichte deutlich radikalere Maßnahmen zur Erreichung des inneren Gleichgewichts im Programm hatten. Für all diejenigen, die mit den Fünf-Minuten-Ratgebern schon gescheitert sind.

Ein paar willkürliche Beispiele: Cordula Nussbaum, Beraterin und Coach für Zeitmanagement, legte ein Buch über das Offline-Gehen vor. Denn so einfach es auch klingt, so schwierig ist es in der Praxis, seine Geräte tatsächlich „einfach“ mal auszuschalten: „Lass mal alles aus“ lautet denn auch der Buchtitel. Es braucht offensichtlich Ratgeberliteratur dafür, wie man die richtigen Off-Knöpfe findet, um sich selbst vor dem digitalen Dauerstress in Sicherheit zu bringen. Heißt im Umkehrschluss auch, dass die Sucht vieler Menschen nach dem ständigen Check auf Chatnachrichten, Mails, Nachrichten- oder Sport-Pushs stärker ist als die in vielen von uns längst gewachsene Erkenntnis, dass das eigentlich nicht guttut. Konzentration und Schlaf leiden dauerhaft darunter und sogar das Gehirn verändert sich durch die permanente Reizstimulation.

Der Hotelier Bodo Janssen aus Nordfriesland schrieb ein Buch über seinen Klosteraufenthalt nach einer beruflichen Krise und wie ihm bis heute regelmäßige Auszeiten im Benediktinerkloster Halt und Rückzug bieten. Keine alltägliche und nicht für jeden organisatorisch umsetzungsfähige Variante, für Janssen jedoch heilsam wie nichts anderes. Denn im Kloster läuft alles nach festgelegten Regeln ab, der Rückzug zu sich selbst – schweigend, scheinbar nichts tuend – gehört ebenso dazu wie gemeinsame Rituale in der Gruppe.

Die inzwischen ehemalige Deutsche-Bahn-Managerin Antje Neubauer verkündete Anfang 2019, sich zurückzuziehen. Nach 25 Jahren nonstop im Berufsleben und ohne Pausen wolle sie sehen, was das Leben sonst noch so zu bieten habe. Das Medienecho war groß, denn dass jemand in herausgehobener Position aus freien Stücken „hinschmeißt“, war neu, galt es doch bis dato als Privileg, eine Karriere bis ganz nach oben zu vollenden. Doch der Preis dafür ist hoch und immer mehr Menschen stellen sich die Frage, ob Managergehalt und Gestaltungsmöglichkeiten (aber auch -pflicht) den Verzicht auf so viele andere lebensverschönernde Dinge wert sind.

Andreas Utermann, CEO von Allianz Global Investors, nahm sich vielleicht ein Beispiel an seiner Bahnkollegin. Auch er gab im November seinen Rückzug vom Chefposten bekannt, weil er nach einem jahrelangem Vorstandsleben, das häufiger in Flugzeugen, Hotelzimmern und Meetingräumen stattfand als im Kreis seiner Familie mit drei Töchtern, nun für diese da sein wollte. Hinzu kam, dass seine Frau mehr Zeit für ihre eigene Karriere forderte und er konstatierte: „Jetzt bin ich dran – und das ist fair.“ Menschen, die es bis zum CEO bringen, haben in der Regel eine gute Konstitution und Stressresilienz. Im Interview mit der WirtschaftsWoche räumte der 53-Jährige jedoch ein, dass ihm sein Job viel Disziplin und Verzicht etwa auf gesellige Abende mit Freunden auferlegt habe, um gesund zu bleiben.

Die Beispiele zeigen, dass Erfolg, Karriere und ein glückliches, psychisch wie physisch gesundes Leben nur bedingt nebeneinander zu verwirklichen sind. Dass eine anspruchsvolle Karriere Disziplin und Opfer verlangt, ist nicht neu. Wohl aber, dass heute Menschen bewusst umschwenken und wie Neubauer und Utermann aussteigen. Neu ist ebenfalls, dass viele Menschen bewusst keine Karriere bis zum Chefposten anstreben, wie jüngst eine Studie der Initiative Chefsache zeigte. Das gilt gehäuft für die Generationen Y und Z – die Arbeitnehmer zwischen 20 und 40 Jahren.

Was bedeutet all das für die Arbeitswelt der vor uns liegenden 2020er Jahre? Vielleicht dies: Durch Digitalisierung verdichtete Arbeit braucht deutlich mehr Ausgleich als nur ein paar Achtsamkeitsfloskeln. Wer über Jahre hochkonzentriert komplexe und vielfältige Arbeit verrichten soll, kann dies nicht acht Stunden am Tag tun. Erste erfolgreiche Versuche mit dem Fünf-Stunden-Tag gibt es bereits. Die Ansprüche an Freizeit und Familienleben sind gestiegen. Das erfordert noch mehr flexible und familienfreundliche Arbeitszeitregelungen, in einer idealen Welt wäre das die vor Jahren schon einmal vorgeschlagene 32-Stunden-Vollzeit-Woche für Eltern. Unternehmen müssen darüber hinaus mehr in sogenannte verhältnispräventive Maßnahmen investieren. Die betreffen zum Beispiel die Arbeitsorganisation und können umfssen, dass die Arbeit durch mehr Personal wieder „entdichtet“ wird oder Aufgaben anders verteilt und umorganisiert werden.

Eine der größten Herausforderung der Arbeitswelt der 20er wird sein, weniger stresskranke Menschen zu produzieren. Wie können wir die Armee der Gestressten auf einen Weg lenken, auf dem sie gesund und leistungsfähig bleiben – und das nicht nur für den Job, sondern für ein insgesamt gutes Leben? Und gleichzeitig wird es immer welche geben, die nichts so schnell umhaut, die (noch) unverbraucht und forsch diejenigen, die schon im Stress-Teufelskreis strampeln, verunsichern, an ihnen vorbeiziehen. Bis sie womöglich selbst an ihre persönliche Grenze stoßen, eine Auszeit brauchen oder gleich ganz aussteigen. Hier ein Gleichgewicht hineinzubringen, allen gerecht zu werden, ohne die Kaputten einfach zurückzulassen und ohne die Fitten zu frustrieren, wäre ein Meisterstück für die ganze Gesellschaft.

Bis es so weit ist, bleibt vielleicht nur dies: Eine Rückbesinnung auf den wahren Kern der Achtsamkeit, wie sie schon unsere Großeltern in einer analogen Welt kannten. Weniger ist mehr – mach es wie Oma und Opa, lies abends ein Buch und schalte um zehn Uhr das Licht aus. Reduziere alle Aktivitäten außerhalb des Jobs und gönn dir erst einmal ausreichend Schlaf. Lass die Selbstoptimiererei und einfach mal alles los, was nicht unbedingt sein muss. Lass die Küche mal unordentlich oder gleich ganz kalt und sei einfach mal richtig faul, wenn sich die Chance dazu bietet. Führe ein Leben wie einer der Spießer, der du früher nie sein wolltest – bis du wieder Kraft hast.

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