Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts Gegen den Stress der Massen braucht es mehr als Achtsamkeit

Eine der größten Herausforderung der Arbeitswelt der 20er wird sein, weniger stresskranke Menschen zu produzieren. Quelle: imago images

Stress macht krank und ist Grund für Hunderte Fehltage von Arbeitnehmern. Trotz allen Geredes über Achtsamkeit nimmt der Stress aber weiter zu. Im neuen Jahrzehnt wird es Zeit für radikalere – und einfachere – Lösungen.

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Gestresste haben es heute einerseits besser als früher: Leiden unter Stress gilt nicht mehr als Eskapade von Weicheiern, sondern ist – mit wissenschaftlichem Segen – als Ursache psychischer Erkrankungen im Kontext Arbeit anerkannt. Es gibt Hilfsstrukturen in Unternehmen wie psychosoziale Beratung, Sport- und Entspannungsangebote – in den Buchläden Tonnen von Ratgeberliteratur, im Internet Hunderte von Coachingprogrammen gegen Stress und bei jedem Hausarzt liegen einschlägige Flyer herum.

Die Versorgung ist also da – der Stress aber auch immer noch. Gestiegenes Bewusstsein und Hilfsangebote haben nicht dazu geführt, dass ein mit der heutigen Arbeitswelt kompatibles Mittel gegen Stress gefunden worden wäre. Im Gegenteil. Seit Jahren steigt der Anteil der Krankschreibungen mit psychischem oder psychosomatischem Hintergrund. Im vergangenen Jahr (für 2019 liegen die Daten noch nicht vor) war jeder 18. Arbeitnehmer wegen psychischer Probleme krankgeschrieben; 236 Fehltage pro 100 Versicherte gingen laut DAK auf psychische Erkrankungen. Im Vergleich zu 1997 ist das eine Verdreifachung.

Die Gründe für die Entwicklung sind zwar erkannt. Sie liegen in der Beschleunigung von Arbeit und Alltag durch Medien und digitale Gadgets, steigende Produktivitäts- und Effizienzerwartungen sowie die sogenannte Verdichtung der Arbeit. Nebenbei: Frauen sind laut DAK doppelt so stark betroffen – denn obwohl heute in größerem Umfang berufstätig als noch vor zehn oder zwanzig Jahren schmeißen sie häufig weiterhin noch on top den größeren Teil des Haushalts und kümmern sich mehr Stunden um Kinder. Es liegt die Vermutung nahe: Wir haben einfach insgesamt zu viel zu tun. Dazu überfrachten wir auch noch unsere Freizeit, denn sie ist ja so rar und soll genutzt werden.

Die einfache, doch nicht mit heutigem Rhythmus und Ansprüchen vereinbare Lösung wäre: Weniger Arbeit, weniger Aktivität, weniger Hamsterrad – dafür mehr Ruhe und Erholung. Weil das vielen Menschen aus unterschiedlichen Gründen nicht umsetzbar scheint, haben wir die paradoxe Lage, dass eben auch die Stressprävention ein durchgetaktetes Unterfangen geworden ist, die bei laufendem Betrieb in den Alltag gequetscht werden muss. Wer sich weniger Arbeit, eine Auszeit, Entschleunigungs-Retreat oder die besten Psychologen, Coaches oder Meditationsgurus nicht leisten kann, der muss sich eben nach Terminkalender entspannen.

Kann das funktionieren? Schaut man sich in den Ratgeberregalen um, wird zumindest die Hoffnung darauf geweckt. Das Sammelsurium an gutgemeinten Ratschlägen hierfür heißt seit einigen Jahren Achtsamkeit. Das Prinzip: Je mehr du um die Ohren hast, desto genauer musst du auf dich achten, in dich hineinhören, was du brauchst. Und dann suchst du eine Maßnahme, die sich irgendwie in dein übervolles Leben integrieren lässt, und zwar mit wahlweise nur fünf, zehn oder zwanzig Minuten am Tag. Gemeinsam ist den vielen Achtsamkeitstipps, dass sie trotz aller Belastung und aller eindeutiger körperlich-seelischer Warnsignale Hilfe versprechen, ohne dass man sein Leben grundlegend ändern müsste. Man muss resigniert feststellen, dass das doch mehr Selbstbetrug als Selbsthilfe ist.

Selbsthilfe zum leidlichen Weiterfunktionieren

Ein paar Beispiele: Morgendliche (oder abendliche) Meditation, Powernap am Mittag im Büro oder Offline-Wochenenden, scheinbar simple Verhaltensweisen wie bewusstes Atmen oder Spazierengehen gehören zum Programm eines jeden achtsamen Menschen. Hinzu kommen Ernährung („Power-Nährstoffe“, Vitamine und Co.), Sport (am besten gezielt, aber auch kompliziert, gegen die Haltungsschäden des Büroarbeiters) und eine möglichst effizient-erholsame Schlafroutine. Ein Kunststück, von diesen umfangreichen Anti-Stress-Maßnahmen nicht direkt noch gestresster zu sein! Besonders absurd wird es dann, wenn das Smartphone an die tägliche Atem- oder Yogaübung erinnert. Und dieses Krummmachen dient dann letztlich nicht einmal dazu, sich wirklich besser zu fühlen, sondern macht lediglich leidliches Weiterfunktionieren möglich.

Und doch: Falsch sind die genannten Dinge ja nicht. Sie funktionieren bloß nicht, wenn gleichzeitig immer noch alles zu viel ist. Wer es dennoch schafft, einen Teil davon umzusetzen, wird zumindest ein wenig ausgeschlafener, gesundheitlich geringfügig weniger angeschlagen und mit korrekter trainierten Rückenmuskeln durch sein Hamsterrad rennen. Das setzt jedoch entweder enorme Disziplin oder ausreichende Restvitalität voraus.

Wer aber bereits richtig erschöpft ist, wird nicht morgens um fünf oder sechs Uhr schnell noch meditieren, bevor die Kinder wach werden, um dann in sich geerdet in den prall gefüllten Tag zu starten. Besonders, da genug schlafen ja auch Teil der To-Do-Liste des achtsamen Arbeiters ist. Nicht sechs, nicht sieben, sondern lieber acht Stunden Schlaf empfiehlt etwa der Schlafcoach Guy Meadows von der Londoner Sleeping School, die unter anderem schlaflosen Vielarbeitern hilft, das Schlafen wieder zu lernen. Schlaf ist zudem umso erholsamer, wenn man sich abends genug Zeit nimmt, runterzukommen, keine Bildschirme mehr betrachtet und am besten nur leicht gegessen und keinen Alkohol getrunken hat.

Ein Nickerchen nach der Mittagspause würde mutmaßlich Kraft geben. Aber Vorsicht: Schläft man nur ein paar Minuten zuviel, ist man danach völlig daneben und für mehrere Stunden nicht mehr arbeitsfähig! Und, Effizienzsteigerung hin oder her, die verbliebene Arbeitszeit muss trotzdem noch erfüllt werden, bevor am Nachmittag zum Beispiel Kinder abgeholt werden wollen oder Supermarkt, Reinigung, Paketabholstelle und so weiter auf Besuch warten.

Und einfach mal abends oder für ein ganzes Wochenende offline sein? Soll Wunder helfen. Auch das funktioniert nicht ohne starken Willen und gute Vorbereitung. Schließlich befinden sich auf dem Smartphone Nahverkehrs- und Bahntickets, Online-Banking, unter der Woche vergessene Chats mit Freunden und Verwandten sowie familieninterne Google-Kalender und Einkaufslisten. Und die wollen genau dann, wenn zumindest die Erwerbsarbeit mal nicht stattfindet, abgerufen, erledigt, wiederaufgenommen, gepflegt und abgearbeitet werden. Die Verlockung ist groß, im Smartphone dann doch nicht die Ursache für das eigene Gehetztsein zu suchen.

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