
Als Stefan Bergheim für Merrill Lynch noch Konjunkturverläufe analysierte, stellte die Bank ihm einen Dienstwagen vor die Tür. Doch schon nach wenigen Monaten verstaubte der BMW in der Garage. Der neue stellvertretende Chefvolkswirt fuhr lieber mit dem Rad zur Arbeit. Obwohl sich in seinem Leben vieles ums Geld drehte, sind ihm Geld und Status nicht so wichtig: „Bei Merrill Lynch hätte ich ein großes Rad drehen können“, sagt Bergheim. „Aber das wollte ich nicht.“
Bergheim stellt sich unter einem erfüllten Leben etwas anderes vor. Nachdem seine Karriere ihn bis in die Handelsräume der größten Finanzinstitute geführt hatte, zu Merrill Lynch, JP Morgan und zur Deutschen Bank, tut er nun, wovon er glaubt, dass es wirklich sinnvoll ist: Er erforscht, was Menschen glücklich macht. 2009 gründet er dafür das Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt – eine Denkfabrik ganz nach amerikanischem Vorbild, finanziert unter anderem von der Herbert Quandt-Stiftung.
Der Fortschrittsindex
Bergheim ist überzeugt, dass es noch andere Wege geben muss, Wohlstand zu messen, als mit Wachstumszahlen. Vor wenigen Wochen stellte er daher einen Index vor, der das Wohlergehen und die Lebenszufriedenheit von Menschen wirklich erfassen soll. Dafür analysiert er Bildungsdaten, kombiniert sie mit dem Einkommen der Menschen und setzt die Ergebnisse in Beziehung zur Lebenserwartung und dem ökologischen Fußabdruck einer Gesellschaft. All das seien Faktoren, „die viel über Wohlergehen aussagen“, sagt Bergheim. Gesunde Menschen mit hohem Bildungsniveau seien zufriedener, und eine saubere Umwelt steigere ihr Glücksempfinden.
Der „Fortschrittsindex“, den Bergheim im November 2010 vor Journalisten und Professoren präsentierte, fördert allerhand Überraschungen zutage. Die USA etwa – sonst größte Wirtschaftsmacht der Welt – fallen auf Platz 20 (von insgesamt 22 Plätzen) zurück, hinter Länder wie Südkorea und Griechenland. Die lückenhafte Gesundheitsversorgung und die hohe Umweltverschmutzung lassen keine bessere Platzierung zu. Auch Deutschland ist mit Platz 18 kaum besser. Die ungleichen Bildungschancen und die durchschnittlichen Werte bei Einkommen, Gesundheit und Umwelt verhageln das Ergebnis.
Bergheim stellt mit seinem Modell die klassische Lehre des Wohlstands auf den Kopf, die Generationen von Volkswirten geprägt hat: Wenn die Wirtschaft eines Landes wächst, dann nimmt auch der Wohlstand der Menschen zu, so die Annahme. Doch die, glaubt Bergheim, stimmte noch nie. Das Konzept von Wohlstand müsse radikal neu gedacht werden.
Dabei sieht Bergheim gar nicht aus wie einer, der die Dinge auf den Kopf stellt. Sein kurzes, dunkelblondes Haar ist so sorgfältig gescheitelt, dass es seinem Gesicht beinahe etwas Bubenhaftes verleiht. So wirkt er jünger, als er mit seinen 43 Jahren ist. Vielleicht wirkt er auch deshalb so, weil in seinem Leben alles viel schneller ging als bei anderen Menschen.