Werner knallhart

Deutsche sind heute angeblich unhöflicher. Wie schön!

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov halten wir uns heutzutage für unhöflicher als früher. Das spricht für uns. Die Rituale verdecken die Herzlichkeit.

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Ritualisierte Höflichkeit kann echte Wertschätzung verdecken Quelle: Fotolia

"Halt jetzt mal deine Fresse bitte."

Das hat mein Klassenkamerad Stefan mal zu mir gesagt. Hin und her geworfen von seiner Peergroup einerseits (Fresse) und der guten Kinderstube andererseits (bitte).

Wir waren damals ungefähr 14 Jahre alt. War Stefan wirklich unhöflich gewesen? Und noch wichtiger: War das schlimm?

Beim Callcenter, im ICE, bei der Post, mittlerweile sogar bei Behörden: überall sind die Menschen so höflich und eingeübt nett. Und trotzdem finden 75 Prozent der Deutschen laut einer Meinungsumfrage von YouGov: Früher waren die Menschen hierzulande höflicher.

Und genauso viele Menschen denken hierzulande, dass junge Leute zu wenig Respekt vor älteren Leuten haben.

Die zehn Knigge-Basics

Wie kommt das? Ich frage mich, wie genau sich nach Ansicht der meisten Menschen zeigt, dass die Höflichkeit in unserem Land flöten gegangen ist. Sind etwa die älteren Menschen gegenüber jüngeren noch genauso höflich wie früher, nur die jüngeren benehmen sich daneben?

Oder haben jüngere von älteren gar keine Höflichkeit zu erwarten?

Ich erinnere mich, welche Art von Höflichkeitsbekundungen wir, die wir in den Achtzigerjahren in Westdeutschland eingeschult wurden, von den Erwachsenen beigebracht bekamen:

Bis in die Mittelstufe wurden wir von den Lehrern geduzt. Es war glaube ich in der zehnten Klasse, da ging zu Schuljahresbeginn mit jedem Lehrer individuell und vorschriftsmäßig die Diskussion los: Werden die Schüler von der Lehrkraft ab sofort gesiezt oder weiter geduzt? Was für ein Stuss! Höflichkeit auf Geheiß des Kultusministeriums. Solch eine aufgesetzte Respektbekundung war das Gegenteil von herzlichem Respekt und damit nichts wert. Das spürten wir Schüler und machten uns einen Spaß daraus:
Unser Geschichtslehrer, ein schülerhassendes Monster gefangen im Körper eines Pädagogen, wurde zum Siezen verdonnert.

Unserer Englischlehrerin, die uns großherzig im Unterricht Kaffee trinken ließ, durfte uns natürlich duzen, wie man das unter Kumpels ebenso tat.

Unserem Französischlehrer boten wir das Du auf Gegenseitigkeit an, was er brüskiert ablehnte. Dann eben siezen.

Eine Klassenkameradin lag eines Tages mit dem Religionslehrer im Klinsch (es war, glaube ich, ein Weltanschauungs-Konflikt, wie ihn nur ein Teenager mit seinem Religionslehrer haben kann) und wollte ab sofort von ihm gesiezt werden. Der Rest der Klasse wurde aber ja geduzt. Verdammt, was nun? Der Lehrer wollte sich nicht die Blöße geben und nahm sich vor, nur die Eine zu siezen. Doch vergaß er es ständig. Ihre Antwort: "Für Sie immer noch Sie." Das fand er wiederum frech. Ist es unhöflich, sein Gegenüber ans Siezen zu erinnern, wenn doch das Duzen seitens des Gegenübers schon unhöflich war?

Mein Physiklehrer bestand darauf, dass sich einer meiner Klassenkameraden im Unterricht sein Skaterkopftuch abnahm. "Ich zähle bis drei."

Ausgerechnet das Accessoire, das ihn in der ganzen Klasse zur coolen Sau werden ließ. Was für eine Anmaßung. Was für eine Demütigung der Jugend. Es gab richtig Geschrei im Klassenzimmer. Am Ende war das Kopftuch runter. Jetzt genoss der Lehrer also die erzwungene Höflichkeit.

Stellen Sie sich mal vor, ein Lehrer würde heute einer Schülerin sagen: "Nimm's Kopftuch ab oder du fliegst raus."

Ab der zehnten Klasse mussten wir zum Grüßen nicht mehr aufstehen, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betrat. Warum nicht? Hatten wir mit dem Alter den Luxus erworben, unhöflich sein zu dürfen?

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