Ich habe jüngst meinen Friseur in Berlin gewechselt. Und zwar nicht, weil er etwa meinen Haarschnitt verhunzt hatte, sondern weil ich Angst hatte um mein Leben.
Ich hatte schon häufiger davon gehört, dass beim Friseur Hepatitis B und C übertragen werden können. Nun bin ich gegen A und B geimpft, um ruhigen Blutes durch Südostasien reisen zu können. Bleibt aber C. Ein Virus, der gerne mal Leberkrebs auslöst.
Besonders widerlich sind unter Hepatitis-C-Gesichtspunkten die Momente, in denen der Friseur zum Rasiermesser greift. Zum „Nacken-Saubermachen“. Denn gerade beim Saubermachen kann es besonders schmuddelig zugehen. Da lauern Krankheit und Tod. Wegen mikrofeiner Verletzungen in der Haut, bei denen es noch nicht einmal sichtbar bluten muss.
Ich fragte meinen Friseur: „Hast du das Messer desinfiziert?“
„Desinfiziert? Also, stell dich nicht so an, sonst schneide ich dir die Halsschlagader auf.“
„Nein, im Ernst jetzt. Ist die Klinge desinfiziert?“
„Nö.“
„Ja, dann mach bitte eine neue rein.“
„Ich habe nur noch die. Und die Chefin sagt, wir sollen die Klingen nicht so verschwenden.“
„Oh Gott, wann hast die Klinge zum letzten Mal desinfiziert?“
„Gestern irgendwann.“
„Ich will nicht pingelig erscheinen, aber ich bin es nun einmal. Kein Messer an meinen Nacken! Ich mache das zuhause selber.“
Beim nächsten Mal rund vier Wochen später, ich ließ mich gerade von meinem Friseur im Stuhl hochpumpen, da strahlte er mich über den Spiegel an: „Dieses Mal habe ich die Klinge extra vorher eingesprüht.“
Ich seufzte: „So desinfiziert ihr hier? Mit einem Spray?“
„Ja klar. Extra für dich.“
Ich biss die Zähne zusammen und ließ mich ein letztes Mal von meinem Friseur bedienen. Ohne Messer! Denn Einsprühen zerstört Hepatitis-C-Viren nicht zuverlässig. C-Viren sind harte Burschen. Als ich den Salon verließ, wusste ich: Diesen Mann werde ich nie wieder sehen. Denn so nett er war und so gut er schnitt: Er war ein Hygiene-Schwein. Ich hatte damals extra vorab ein Merkheft des Zentralverbandes des Deutschen Friseurhandwerks im Internet durchgelesen. Darin wird vorgegeben: Rasiermesser „sollten“ vor JEDEM Kunden in einem genau genormten Desinfektionsbad eingelegt werden. Knallharte Muss-Vorschriften habe ich nirgends gefunden. Ich persönlich kenne bis heute keinen einzigen Friseur (und ich habe mich ein bisschen umgehört), der über dieses Desinfektionsbad Bescheid weiß.
Keime tummeln sich in Wartezimmern
Deshalb habe ich mir nun einen neuen Friseur-Salon ausgesucht. Die Dame, die ich zu meiner Stamm-Friseurin erkoren habe (sie weiß es nur noch nicht), zeichnet sich dadurch aus, dass sie das gebrauchte Rasiermesser „auf Wunsch“ gegen ein nagelneues austauscht. „Das können Sie sich gerne schon mal merken“, sagte ich laut und deutlich, „ich wünsche mir das immer.“ Und wie wir noch darüber witzelten, dass ich ja so ein Angsthase sei, sie das aber gerne respektiere, weil ich ja nun einmal der Kunde sei, schnitt sie mir - und es ist wirklich wahr - mit dem nagelneuen Messer in den Hals. Ich zuckte zusammen: „AUA!“
Nun zuckte auch sie zusammen und kreischte: „Ja, wenn Sie so laut Aua brüllen, dann erschrecke ich mich natürlich und schneide Sie.“
„Moment: Erst kam der Schnitt, dann mein Schrei, dann Ihr Zucken.“ Wir lachten erleichtert über die hygienisch saubere Klinge. Dann sagte sie: „Tja, die neuen Klingen sind halt scharf. Da schneide ich Sie leichter.“ Und dann fasste sie mir mit dem nackten Finger auf den Schnitt: „Ich guck mal gerade: Nee, blutet aber fast nicht.“
Solche Sauereien kenne ich sonst nur von Arztpraxen. Dass man sich dort im Wartezimmer mit Menschen aufhalten muss, die von ansteckenden Krankheiten nur so strotzen, ist ja schon ein Witz, aber kaum anders machbar. Ich betrete Arztpraxen nur noch mit meinem eigenen kleinen Fläschchen Desinfektionsmittel. Meine Antwort auf ein Gesundheitssystem, das uns wegen mangelnder Hygiene den gefährlichen Krankenhauskeim eingebrockt hat.
Vor einigen Monaten war ich zur Blutabnahme beim Hausarzt. Die Gehilfin bat mich in ein Behandlungszimmer, desinfizierte sich ihre Hände mit diesem blauen Sterillium, tippte irgendwelche Daten per Computer in meine Krankenakte, dann band sie mir meinen Oberarm ab und desinfizierte die Haut in meiner Armbeuge. Dann drückte sie kurz mit dem Zeigefinger auf die Ader und stach mit der Kanüle zu. Noch während das Blut in den Kolben sprudelte, fragte ich: „Warum haben Sie eigentlich gerade kurz vor dem Stich noch einmal mit dem Finger die Einstichstelle berührt?“
„Och, nur so zur Kontrolle.“
„Was haben Sie denn da kontrolliert? Ob die dicke blaue Ader vor Ihnen auch wirklich keine Einbildung ist?“
„Ach, nur so.“
„Warum desinfizieren Sie erst die Armbeuge und fassen dann dran? Sollte es nicht umgekehrt sein?“
Das Mädchen lächelte: „Ich habe mir doch vorher die Hände desinfiziert.“
Ich lächelte nicht: „Sie haben aber danach die Computertastatur berührt. Und Keyboards gelten als DIE Verteilstationen für Krankheitserreger überhaupt. Vor allem in einer Praxis voller kranker Menschen. Sie müssen sich nach dem Tippen erneut die Hände desinfizieren, wenn Sie planen, völlig sinnlos vor dem Einstich die desinfizierte Hautpartie anzutatschen.“
Der alltägliche Hygiene-Wahnsinn
„Ach, wenn wir es so übertreiben würden, dann kämen wir vor lauter Hände desinfizieren gar nicht mehr zum Arbeiten.“ Eindeutiger Schwachsinn! Das bestätigt Ihnen jeder Arzt, der halbwegs bei Trost ist. Aber nach meiner Erfahrung ist solche eine Schlamperei Gang und Gäbe. Nicht nur in dieser Praxis. Und weist man darauf hin, wird amüsiert abgewunken. Anderes Beispiel, andere Branche: Da nimmt eine Kölner Optikerin einem Kunden seine gebrauchten Kontaktlinsen ab, um sie im Tretmülleimer zu entsorgen. Weil das Fußpedal aber ausgeleiert ist, öffnet sie den Eimer mit der Hand. So wie sie es wohl schon etliche Male getan hat, nachdem sie anderen Kunden im Auge herumgefummelt hatte. Dann kommt sie zurück und will dem Kunden die neuen Kontaktlinsen einsetzen, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Auf den Hinweis des Kunden, dass das ja wohl bedenklich sei, reagiert sie genervt: „Sonst stört das keinen.“
Problem-Keime in Krankenhäusern
Etwa drei bis fünf Prozent der Krankenhauserreger sind Stämme des auf Haut und Schleimhaut lebenden multiresistenten Staphylococcus aureus (MRSA), gegen die es noch vier bis fünf wirksame Antibiotika gibt. Andere, im Darm lebende Bakterien (ESBL) hingegen produzieren bestimmte Enzyme, die sie gegen die meisten Antibiotika-Klassen resistent machen. Besonders schwierig sind Infektionen mit KPC (Carbapenemase bildende Bakterien der Art Klebsiella pneumoniae) zu behandeln, weil hier auch Carbapeneme als letzte neue Wirksubstanzen versagen und die Ärzte auf ein veraltetes Antibiotikum ausweichen müssen. Die Entwicklung neuer Antibiotika hinkt hinterher.
Etwa 90 Prozent der Krankenhausinfektionen rühren von Keimen her, die mit einem Antibiotikum wirksam bekämpft werden können. Problematischer sind Erreger, die Resistenzen entwickelt haben. Das geschieht vermutlich unter anderem, weil Antibiotika in der Tiermast, aber auch bei Menschen zu häufig und nicht zielgenau verabreicht werden. Dadurch werden Antibiotika-empfindliche Bakterien abgetötet, während die Antibiotika-resistenten sich umso konkurrenzloser vermehren können.
Das Gros der Keime, die in Krankenhäusern für Infektionen sorgen, sind normalerweise harmlose Bakterien, mit denen viele Menschen besiedelt sind. Geraten diese zumeist im Darm vorkommenden Keime jedoch in Blutbahn, Blase oder Lunge, können sie vor allem immungeschwächten Menschen zur Gefahr werden.
Der alltägliche Hygiene-Wahnsinn. Und wir lassen uns das viel zu oft bieten oder achten erst gar nicht drauf. Aber wenn eine Bäckerei mal ein Haar ins Brötchen eingebacken hat, von dem nun wirklich keinerlei Gefahr ausgeht, dann wird dieser vermeintliche Drecksladen nie wieder betreten. Und ist beim Joghurt das Mindesthaltbarkeitsdatum um zwei, drei Tage abgelaufen, schmeißen wir ihn aus hygienischen Gründen weg. Weil das ja sonst eklig ist. Dann kaufen wir neuen im Supermarkt. Dabei berühren wir dann den Griff vom Einkaufswagen, den vorher tausende von Kunden angefasst haben. Dann greifen wir nach dem unverpackten Obst, das wir später vor dem Essen für zwei Sekunden symbolisch unter kaltes Leitungswasser halten. Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Mitarbeiter mit scharfem Reinigungsmittel die Griffe der Einkaufswagen reinigt? Ich in meinem ganzen Leben noch nie! In schwedischen Supermärkten werden die Einkaufswagen übrigens mitunter automatisch desinfiziert. Wie effektiv das ist, kann ich allerdings nicht sagen. Es ist wieder mal nur ein Sprühnebel.
Grundsätzlich gilt: Die meisten Atemwegsinfektionen werden nicht durch die Luft, sondern durch Schmierinfektion von Gegenständen über die Hände oder direkt von Hand zu Hand übertragen. Da beneide ich Kulturen, in denen man sich im Arbeitsleben zur Begrüßung freundlich voreinander verbeugt. Auch wenn das je nach hierarchischem Rang ganz schön auf die Bandscheiben gehen kann. Aber hygienischer ist es. Solange man nicht anfängt, die Füße zu küssen.
Demjenigen, dem es gelingt, uns Deutschen flächendeckend durch alle Branchen beizubringen, dass Hygiene keine Schande ist, dem küsse ich die Füße trotzdem.