WiWo Top-Kanzleien Die Abrechnung

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Eine Reihe neuer Gerichtsurteile zum Resturlaub hat zuletzt die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern gestärkt. Doch viele Unternehmen haben die Regeln noch nicht umgesetzt. Dieses Versäumnis kann teuer werden. Auch für die Spitzenmanager ganz persönlich.

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Der Geschäftsführer des Münchner IT-Dienstleisters glaubte, dass die Verhandlung mit seinem Vertriebler über dessen Abfindung beendet sei. 15.000 Euro hatte er dem Mann zugesagt, der im Zuge eines Stellenabbaus nach fünf Jahren in der Firma gehen sollte. Doch nachdem dieser sich mit einem Anwalt beraten hatte, machte er eine überraschende Rechnung auf: „Der Mitarbeiter forderte zusätzlich 10.000 Euro für nicht genommene Urlaubstage“, erzählt Arbeitsrechtler Thomas Müller von der Kanzlei Lutz Abel, der das Unternehmen berät. „Die Nachforderung stieß auf völliges Unverständnis.“ Über restliche Urlaubstage hatte sich in der Firma nie jemand Gedanken gemacht. Der Geschäftsführer war sicher, sie seien verfallen. Wie viele andere Führungskräfte, die nicht ahnen, dass solche Fälle teuer werden können. Für die Firma, aber auch für sie persönlich.

Denn zuletzt gab es mehrere Grundsatzurteile rund um die Frage nicht genommener Urlaubstage. Allesamt zugunsten der Arbeitnehmer, das jüngste fiel erst am 31. Januar. Bereits 2018 hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass man eine Auszahlung verlangen kann, wenn man aus dem Unternehmen ausscheidet und keine Gelegenheit mehr hatte, den Urlaub zu nehmen.

Dieser Anspruch, so ein Bundesarbeitsgerichtsurteil vom 20. Dezember 2022, verjährt erst drei Jahre nach dem Verlassen der Firma – berechnet vom Januar des Folgejahres an. „Hat das Unternehmen einem Mitarbeiter keine Gelegenheit gegeben, den Urlaub zu nehmen, und ihm nicht einmal rechtzeitig die Zahl der ihm noch zustehenden Urlaubstage mitgeteilt, verjährt dieser Anspruch auf Auszahlung erst in zehn Jahren“, erläutert Ulrich Sittard, Arbeitsrechtler bei Freshfields.

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Delegieren ist gut, Kontrolle ist besser

Damit nehmen die Richter die Unternehmen und auch deren oberste Führungsriege stärker in die Pflicht. Und diese sollten ihre neuen Aufgaben ernst nehmen, wenn sie nicht riskieren wollen, für das Versäumnis persönlich zur Kasse gebeten zu werden. Die neue Lage einfach zu ignorieren, könnte nämlich für das Spitzenmanagement selbst gefährlich werden. „Zwar können sie ihre Pflichten an Personalleiter delegieren, aber als Unternehmenslenker müssen sie kontrollieren, ob die neuen Regeln umgesetzt werden“, warnt Anwalt Müller. Andernfalls könnten die Unternehmenseigner von ihnen persönlich Schadensersatz fordern. „Gegenüber den Firmeninhabern haftet ein Geschäftsführer, der Rechtsprechungsänderungen nicht im Unternehmen umsetzt“, betont auch die Compliance-Expertin Karin Holloch.

Methodik

Zwar erwartet Arbeitsrechtler Sebastian Maiß von Michels.pmks nicht, dass nun Mitarbeiter im laufenden Arbeitsverhältnis reihenweise Klage einreichen. Wenn es gut funktioniert, kommt keiner auf die Idee, Resturlaub aus fünf Jahren einzufordern. Aber sobald jemand eine Firma verlässt, so seine Prognose, werde dessen Anwalt standardmäßig die noch nicht genommenen Urlaubstage abfragen. Und dort, wo es sie gibt, die Forderung erhöhen. Schließlich erhöht das den Streitwert im Prozess bei Gericht und damit auch das Honorar des Anwalts.



Es geht um beträchtliche Summen: In den abgeurteilten Fällen sprachen die Richter dem Ausbildungsleiter einer Flugschule für Resturlaubstage aus vier Jahren 37.000 Euro und einer Steuerfachangestellten 23.000 Euro für drei Jahre zu. Nur individuelle Mitteilungen zählen



„Geschäftsführer sollten jetzt vorbeugen und den Mitarbeitern einzeln und frühzeitig schreiben, wie viele Urlaubstage ihnen individuell noch zustehen – und dass sie diese bis Jahresende nehmen sollen“, rät Arbeitsrechtler Sittard. Wichtig sei es, vor Gericht auch beweisen können, dass die Information den Einzelnen erreicht hat – egal ob per Brief oder E-Mail. Darin stehen müssen die Zahl nicht genommenen Urlaubstage, die Aufforderung, sie zu nehmen – und der Hinweis, wann der Anspruch verfällt.

Auch der Personalchef des Münchner IT-Dienstleisters hatte es versäumt, eben diese Hinweise zu geben. Der Geschäftsführer zahlte dem Vertriebsprofi zähneknirschend 10.000 Euro mehr – und fügte eine Schweigeklausel in die Abfindungsvereinbarung ein. Damit nicht weitere 20 Kollegen auf die Idee kamen, dieselbe Rechnung aufzumachen. Dann nämlich hätte er das Restrukturierungsbudget stark überzogen.

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