Vordenker 10 Thesen zum Management der Industrie 4.0

Alles spricht von Industrie 4.0 – als ob diese sich selbst managen würde. Oder mit den Management-Modellen der Prä-4.0-Ära gemanagt werden könnte. Kann sie nicht. Die neue Industrie braucht das neue Management.

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Die Zahlen 4.0 auf einem Messegelände Quelle: dpa

Führungskräfte aller Hierarchieebenen, Branchen und Unternehmensgrößen sind damit konfrontiert, die Industrie 4.0 zu managen. Sie würden ja gerne. Doch so viel man inzwischen weiß, was Industrie 4.0 für die technologische Seite impliziert, so wenig weiß man über das Management, das diese neue Industrie implementieren und steuern soll. Die folgenden zehn Thesen sollen nicht nur eine erste Orientierung stiften. Sie offerieren auch das längst überfällige Anforderungsprofil an den „neuen Manager“. Wer Industrie 4.0 will, braucht das Management 4.0.

1. Ohne Management 4.0 wird die Technologie der Industrie 4.0 nicht funktionieren!

Die Manager und Mitarbeitenden, die in Produktion, Logistik und Supply Chain Management mit den neuen autonomen Anlagen und hoch individualisierten Prozessen arbeiten sollen, können das nicht bloß deshalb, weil sie eine technische Einweisung bekommen haben. Sie brauchen zusätzlich eine Sensibilisierung, die ihre Schwellenängste senkt. Sie brauchen Unterstützung, um die nötigen Kompetenzen im Umgang mit den neuen Technologien zu entwickeln. Sie benötigen eine Prozessbegleitung, die verhindert, dass sie bei jedem zu erwartenden Anlaufhindernis in ein Motivationsloch fallen.

Erfolgsfaktoren für die Führung in digitalen Unternehmen
Anforderungen der Industrie 4.0 Quelle: dpa
Definition der Ziele Quelle: dpa
Verantwortung der Führung Quelle: Fotolia
Kommunikation Quelle: dpa
Disziplin und Lernbereitschaft Quelle: obs

All diese Aufgaben sind typische Managementaufgaben. Wo sie vom Management nicht wahrgenommen, sondern der operativen Ebene überlassen werden, stockt oder versagt Industrie 4.0 – trotz neuer Technologien. Wo ein neues Management die neue Industrie begleitet, wird Industrie 4.0 erfolgreich implementiert.

2. Ein Unternehmen wird nicht Industrie 4.0, indem es den Schalter umlegt!

Kein Unternehmen hat die finanziellen Mittel, sämtliche alten Produktionsmittel über Nacht zu verschrotten und die komplette Produktion und Supply Chain mit cyberphysischen Systemen und autonomen Anlagen quasi über Nacht neu zu starten. Vielmehr durchläuft jedes Unternehmen einen Migrationsprozess, bei dem Schritt für Schritt autonomisiert und digitalisiert wird, indem zum Beispiel via Retro-Fitting alte Maschinen mit neuer Technologie ausgestattet werden.

Dieser Übergang, diese Migration ist ein äußerst komplexer Vorgang, den das Management nicht sich selbst überlassen oder lediglich unter technologischen Aspekten betrachten darf. Das Management sollte vielmehr eine Migrations-Roadmap aufstellen, damit dieser Übergang nicht fallweise, sondern planvoll, systematisch und steuerbar ablaufen kann und nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund einer ökonomischen Bewertung erfolgt.

3. Auch Mitarbeiter werden nicht auf Knopfdruck 4.0-tauglich!

Die Automobilindustrie zum Beispiel wird über kurz oder lang einige Produktionsbereiche auf Kleinstserien-Fertigung umstellen. Mitarbeitende, die jahrelang im Takt des Bandes gearbeitet haben, sollen dann plötzlich ohne Band, ohne Takt, aber dafür mit einem Roboter-Kollegen zusammenarbeiten. Woher sollen sie die Grundzüge und Verhaltensweisen in der neuen Social Networked Industry kennen, geschweige denn beherrschen? Das ist nicht möglich ohne strukturierten Übergang unter Einsatz von Instrumenten wie der thematischen Sensibilisierung, von Change Management und der nötigen Schulung – alles Managementaufgaben.

Industrie 4.0 scheitert oft an der Unternehmenskultur

4. Die Unternehmenskultur ist keine Quantité Négligeable!

Wenn im Management über Industrie 4.0 geredet wird, wird über Technologie, IT und Digitalisierungsstrategie geredet. Dass diese drei 4.0-Elemente häufig an der Firmenkultur scheitern, wird oft übersehen. Dabei herrscht nach wie vor in vielen Unternehmen eine hierarchisch ausgerichtete, lineare und funktionszentrierte Firmenkultur. Und das nicht ohne Grund: Sie war, bislang, erfolgreich. Nun bringt die Industrie 4.0 unter anderem teilautonome Arbeitsgruppen, autonome Anlagen und selbststeuernde Prozesse mit sich.

Der bislang noch uneingeschränkt herrschende „Funktionsfürst“ soll sich plötzlich dem neuen Paradigma der Prozessorientierung unterordnen. Das empfinden viele Führungskräfte als Statusverlust. Zu erkennen, dass dieses Empfinden trügt, erfordert jedoch auf Ebene der einzelnen Führungskraft sozusagen einen individuellen Kulturwandel, einen Wandel des Mindsets. Kollektiv, das heißt auf organisatorischer Ebene, erfordert es einen Wandel der Firmenkultur. Anstatt lineares, hierarchisches Funktionsdenken zu incentivieren und zu sanktionieren, sollte die neue 4.0-kompatible Kultur interdisziplinäres Pro-zessdenken fordern und fördern – sonst wird die Kultur zum Hindernis der Strategie. Wie schon Peter Drucker sagte: „Culture eats strategy for breakfast.“

5. Weg mit den Wagenburgen!

Ein besonders Industrie-4.0-feindlicher Aspekt bislang durchaus funktionierender, ja erfolgreicher Firmenkulturen ist die Wagenburg-Mentalität der „Firma in der Firma“ mit ihren symptomatischen Abteilungsegoismen und Schnittstellen-Friktionen zwischen einzelnen Abteilungen. Jede Firma zerfällt in viele Funktions-Silos, zwischen denen dicke Stahl-wände gewachsen sind, die nur unter bürokratischen Alpträumen zu überwinden sind, geschweige denn so agil und flexibel agieren können, wie es Startups und digitale Unternehmen vormachen.

Ein Leben als Millionär, reisen im Firmen-Jet und das Kommando über Tausende Mitarbeiter. Dax-Vorstand zu sein, hat Vorzüge. Haben Sie das Zeug, einen solchen Top-Posten zu bekleiden? Der ultimative Karriere-Test.

Alle Unternehmen, denen Industrie 4.0 gelingt, haben die Wagenburg-Mentalität durch das neue Prozess-Paradigma ersetzt: Der gelungene Auftragsprozess von A bis Z macht Kunden glücklich – ganz gleich, welche Abteilung/ Funktion daran höchst interdisziplinär mitarbeitet. Wenn die Firmenkultur dieses simple Prinzip paradigmatisch verinnerlicht und Führungskräfte als Vorbilder voranschreiten, werden die Wagenburgen nach und nach eingerissen.

6. Fail fast: Macht Fehler!

Kein Kind lernt Laufen ohne blutige Knie und blaue Flecken. Veränderung bringt nicht nur Fehler mit sich, sie erfordert sie geradezu. Im Silicon Valley ist „Fail fast! Fail often!“ ein Mantra. Nicht hierzulande. Unser Mantra ist „Cover your ass!“. Wir gehen auf Nummer sicher. Wir analysieren eine Idee schon mal vor Marktreife zu Tode. „Bringen Sie mir keine Probleme, bringen Sie mir Lösungen!“ ist ein häufiger Spruch von Vorgesetzten. Solche fehlerfeindlichen Maßgaben sind kontraproduktiv. Wer bei der Industrie 4.0 keine Fehler machen darf, bremst seine Migration aufs Tempo einer Wanderdüne.

Deutsche Gründlichkeit und umsichtiges Sicherheitsdenken sind wichtig – aber nicht in einem Ausmaß, das die Migration der Industrie 4.0 be- und verhindert. Wer migriert, muss Fehler machen dürfen, nein, soll Fehler machen. Fail! Fail often! Fail better! Startups pflegen diese Fast Failure Culture. Unternehmen, die diesen Startup-Spirit teilen, sind schneller und erfolgreicher bei der Industrie 4.0. Es versteht sich von selbst, dass die Kunst des Fehlermachens darin besteht, bei einem Fehler nicht das ganze Schiff zu versenken, sondern Fehler-Experimente stets auf „Sandkastengröße“ zu beschränken. Digital Natives sind sehr kreativ darin, solche Arenen agilen Lernens mit managbaren Risiko zu entwerfen.

Der Großteil des Potenzials von Industrie 4.0 wird nicht genutzt

7. Wir brauchen disruptive Geschäftsmodelle!

Industrie 4.0 wird von vielen Unternehmen nach dem Prinzip Eisberg benutzt: Man digitalisiert einige bislang schon vorhandene lineare Prozesse und will einige Roboter und autonomen Systeme anschaffen. Die Spitze des Eisbergs. Die überwiegenden neun Zehntel des Potenzials der neuen Industrie bleiben ungenutzt. Das ganze Potenzial der Industrie 4.0 nutzt, wer mit neuen bzw. dafür prädestinierten Management-Ansätzen wie Open Innovation oder Crowdsourcing, Coopetition, Co-Creation, User Experience oder Design Thinking komplett neue Geschäftsmodelle, Produkte, Services und Zielgruppen entdeckt, entwickelt und erschließt.

Leider kennen viele Führungskräfte diese Ansätze nicht oder können sie noch nicht anwenden: Enablement tut Not. Und leider unterstützt die Firmenkultur vielerorts und verständlicherweise keine neuen, disruptiven Geschäftsmodelle – eben weil sie das traditionelle Kerngeschäft disrumpieren: Cultural Change tut Not.

8. Schluss mit Compliance-Arien!

Compliance-Richtlinien sind allgegenwärtig, nötig und wichtig – aber kein Tabernakel. Die Wirtschaft braucht eine neue Compliance. Wer in seinem migrierenden Unternehmen den nötigen Startup Spirit einführen, fördern und erleben möchte, kann seinen Digital Natives kein 50-seitiges Compliance-Kompendium auf den Tisch legen, das nicht ohne juristisches Zusatzstudium verstanden, geschweige denn praktiziert werden kann.

Eine Compliance-Erklärung, die – überspitzt formuliert – nicht auf rund eine A4-Seite passt, ist nicht 4.0-kompatibel. Ebenfalls selbstverständlich, aber bisher selten anzutreffen: Eine Compliance, die nicht versucht, die kulturellen Maßstäbe des Mutterlandes den teilweise völlig anderen kulturellen Rahmenbedingungen anderer Ländern aufzuzwingen. Sondern eine, die tatsächlich, zumal in Zeiten der Globalisierung, international abgestimmt und deshalb in globalen Supply Chains akzeptiert und angewandt wird.

9. Einfach mal machen!

Viele Unternehmen sind aktuell in einem Meeting-Marathon gefangen, bei dem führende Vertreter die technologischen und strategischen Aspekte der Industrie 4.0 und deren Konsequenzen für die einzelnen Funktionen diskutieren. In allen Details, bis auf die dritte Dezimalstelle. Während andere sich digitalisierende Unternehmen sie rechts und links überholen. Das sind jene Unternehmen, die sich an den Kalenderspruch „Probieren geht über Studieren“ erinnern.

Unternehmen, die nicht in deutscher Gründlichkeit die hundert-zwanzigprozentige Lösung austüfteln, sondern mit einer 80%-Lösung und einer Fail-Fast-Fehlerkultur, die ihnen die nötige Agilität, Flexibilität und Wandlungsfähigkeit verleiht, als erste ein neues, disruptives Geschäftsmodell in den Markt bringen und dann Upgrade-as-You-Go praktizieren. Unternehmen also, die einfach mal machen!

BWL lässt Industrie 4.0 außer Acht

10.Wir brauchen eine BWL 4.0!

Selbst Wissenschaft, Forschung und Lehre müssen sich disruptiv wandeln. Denn einige Grundlagen der traditionellen Betriebswirtschaftslehre werden inzwischen von den Entwicklungen der Industrie 4.0 in Frage gestellt. Die Grundsätze zum Beispiel von Eigentum und Verfügbarkeit von Kapital und Produktionsmitteln gelten nicht mehr, sobald sich ein im Vergleich zu technologie- und assetintensiven Unternehmen mittelloser Entrepreneur per 3D-Drucker und Co-Working Space quasi unbegrenzten Zugang zu faktisch demokratisierten Produktionsmitteln und Infrastruktur verschaffen kann.

Was heute noch jede(r) BWL-Studierende lernen muss, gilt in Zukunft nicht mehr unbedingt und in jedem Fall. Nicht mehr relativ restriktives Eigentum an Produktionsmitteln ist Basis des Wirtschaftens und der ihm zugrunde liegenden Produktionskurven, sondern quasi unbegrenzte Verfügbarkeit – und wie plant, organisiert, steuert und überwacht man(ager) ein Unternehmen in so einer unlimitierten Verfügbarkeit?

Wie hebt ein Verantwortlicher in dieser schönen neuen Welt alle Potenziale der Industrie 4.0? Ganz sicher nicht mehr nur mit den immer noch überwiegend gelehrten (und praktizierten) Management-Ansätzen zum Beispiel der sukzessiven Effizienzsteigerung auf Basis von Erfahrungswissen aus der Vergangenheit. Dutzendfach effizienz-durchoptimiert sind wir doch alle schon. Leider hat eine optimierte Effizienz beispielsweise den deutschen Einzelhandel nicht vor dem „E-Commerce“-Tsunami gerettet – das können keine iterativen, sondern nur sprunghafte, eben disruptive Geschäftsmodelle.

Forschung und Lehre sollten stärker dazu beitragen, dass Manager (und co-kreierende Kunden) schneller und leichter diese neuen Modelle entdecken, entwickeln und davon profitieren können. Und diese gelingt im digitalen Zeitalter im Wesentlichen nicht nur durch den Blick nach hinten, sondern nach vorn. Darauf müssen sich auch die Wirtschaftswissenschaften 4.0 einlassen.

Fazit: Wo sind die neuen Manager?

Der Haken am neuen Management ist, natürlich, der neue Manager: Wo ist er, respektive sie? Jede der skizzierten zehn Thesen impliziert eine Fülle neuer, teilweise radikaler und paradigmen-erschütternder Anforderungen an Mindset, Rollenverständnis, Leadership und Management Skills des „neuen Managers“. Leider werden viele Führungskräfte bei der Bewältigung dieses Leadership Schocks 4.0 alleingelassen. Denn auch Organisational Enablement und Management Development haben die 4.0-Reifestufe noch nicht erreicht.

So wie die Industrie 4.0 das Management 4.0 braucht, benötigt das neue Management auch ein neues Leadership Enablement. Das ist eine Herausforderung von strategischer Dimension, deren ersten Schritt alle Verantwortlichen bereits vollziehen können, indem sie den Grundstein für eine nun im besten Sinne disruptive, positive Entwicklung hin zum Management 4.0 mit diesen zehn Thesen legen.

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