EU-Referendum Die Brexit-Argumente im Wahrheitscheck

Halbwahrheiten, Mythen, Hirngespinste – sowohl Befürworter als auch Gegner des Brexit nehmen es mit den Fakten nicht so genau. Welche Zahlen stimmen und welche Argumente entbehren jeglicher Grundlage? Ein Faktencheck.

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Mit seinem roten Kampfmobil tourt der prominenteste Fürsprecher der EU-Gegner derzeit über die Insel. Quelle: Reuters

London Es waren harsche Worte, mit denen Andrew Tyrie, der Vorsitzende eines einflussreichen britischen Parlamentsausschusses, die Debatte um den Austritt des Landes aus der Europäischen Union kritisierte. Die Diskussion mit all den „schrecklichen Äußerungen” sei nicht nur verwirrend für die Wähler, sondern schlicht ein Armutszeugnis für die politische Debattenkultur im Lande. Es müsse jetzt Schluss sein mit den irreführenden, teilweise erdichteten Behauptungen, forderte Tyrie. Und er sprach damit beide Lager gleichzeitig an: das der Brexit-Gegner und der Befürworter.

Beide Seiten nehmen es im Wahlkampf offenbar nicht so genau mit der Wahrheit. Der parlamentarische Finanzausschuss, dem Tyrie vorsitzt, hat daher einige der Hauptprotagonisten in den vergangenen Wochen vorgeladen und ihre Argumente und Zahlen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft.

Parallel dazu sind in London eine Reihe von Organisationen entstanden, die sich genau das ebenfalls vorgenommen haben – Organisationen wie Full Fact, die aus Journalisten und Hochschulabsolventen bestehen. Sie hinterfragen Aussagen von Europa-Befürwortern wie Premier David Cameron genauso wie von Gegnern wie Londons ehemaligem Bürgermeister Boris Johnson, sobald diese damit an die Öffentlichkeit gehen.

Brexit-Dichtung und Wahrheit – eine Auswahl:


Die Argumente für einen Brexit

Großbritannien zahlt der EU 350 Millionen Pfund pro Woche

„Die Europäische Union kostet uns 350 Millionen Pfund die Woche. Damit ließe sich jede Woche ein Krankenhaus bauen, ein ganzes Jahr lang.“ So lautet eine der prominentesten Behauptungen des Brexit-Lagers. Sie findet sich etwa auf den Broschüren der „Vote Leave“-Kampagne und ziert den „Brexit Battle Bus“.

Mit seinem roten Kampfmobil tourt Boris Johnson, prominentester Fürsprecher der EU-Gegner, derzeit über die Insel. Doch die Zahl führt in die Irre. Sie ignoriert den Britenrabatt”, eine Ermäßigung zum EU-Budget, den nur das Vereinigten Königreich genießt, wie die Organisation „Full Fact“ feststellt. Die Ermäßigung hatte Margaret Thatcher 1984 ausgehandelt, sie gilt bis heute.

Wie viel Geld die Briten tatsächlich pro Woche nach Brüssel überweisen, schwankt. 2015 dürften es nach Schätzungen des EU-Finanzberichts 248 Millionen Pfund gewesen sein, umgerechnet rund 320 Millionen Euro. Außerdem verschweigt das Brexit-Lager bei der Rechnung die EU-Gelder, die zurück auf die Insel fließen, etwa in Form von Landwirtschaftssubventionen oder Zuschüssen für ärmere Regionen wie Cornwall oder Wales.
Gemessen am Bruttonationaleinkommen (BNE) zahlt das Vereinigte Königreich, immerhin die viertgrößte Volkswirtschaft Europas, mit 0,65 Prozent sogar den niedrigsten Beitrag aller Mitgliedsstaaten. Die meisten anderen Länder steuern ein Prozent ihres BNE bei.

Hohe Kosten wegen EU-Regulierung

33 Milliarden Pfund, umgerechnet 42,5 Milliarden Euro – so viel sollen EU-Regularien die britische Wirtschaft jedes Jahr kosten. Das behaupten zumindest die Brexit-Befürworter der „Vote Leave“-Kampagne, darunter Boris Johnson. Sie stützen sich dabei auf ein Papier der Londoner Denkfabrik “Open Europe”. Dieses, so kritisiert der Bericht des Finanzausschusses, konzentriert sich nur auf die Kosten, die etwa durch Bürokratie anfallen.

Ein Beispiel sind Berichtspflichten bei Asbestvorkommen. Vorteile, wie mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, höhere Produktstandards oder Klimaschutz würden nicht beachtet. Full Fact und andere Institutionen bemängeln zudem die Methodik. Open Europe stütze sich auf Schätzungen über Auswirkungen von Gesetzen, bevor diese überhaupt in Kraft getreten seien.

Außerdem, so argumentiert Full Fact, müsste sich Großbritannien auch im Falle eines Austritts an bestimmte EU-Regeln halten, etwa an das Basel-III-Abkommen zur Regulierung von Banken. Auch eine britische Regierung, die nicht mehr Teil der EU sei, müsse zu dem Schluss gelangen, „dass viele der EU-Regeln die Nachteile mehr als aufwiegen“, konstatiert der Finanzausschuss.

Luftballons

Boris Johnson, Londons ehemaliger Bürgermeister und einer der prominentesten Brexit-Befürworter, hat bei seinem Auftritt vor dem britischen Finanzausschuss und bei Wahlkampfauftritten behauptet: Die EU verbiete Kindern unter acht Jahren Luftballons aufzublasen.

Das stimmt so nicht, hat Tyrie sofort korrigiert. Was stimmt, ist: Nach EU-Vorgaben müssen die Hersteller von Luftballon auf die Verpackung einen Warnhinweis drucken, dass Kinder unter acht Jahren beim Aufblasen von Luftballons ersticken können und und deshalb beim Auflasen ein Erwachsener dabei sollte.

Teebeutel

Boris Johnson, London ehemaliger Bürgermeister und einer der prominentesten Brexit-Befürworter, behauptet bei Wahlkampfauftritten gern: Die EU verbiete das Recycling von Teebeuteln.

Auch da hat Andrew Tyrie den ehemaligen Bürgermeister korrigieren müssen. Was stimmt, ist: Die Stadtverwaltung von Cardiff hat ihren Bürgern verboten, Teebeutel in den Recycling-Müll zu werfen. Hintergrund dafür ist eine Vorgabe der EU, dass Dinge, die mit Milch in Berührung kamen, nicht in die grüne Tonne gehörten, um eine Verbreitung der Maul- und Klauenseuche zu verhindern. Es ist Experten zufolge aber Sache der einzelnen Stadtverwaltung, zu entscheiden, ob Teebeutel in den Kompost-Müll dürfen oder nicht.

Weniger Einwanderung nach einem Brexit

Nigel Farage, der Parteichef der europakritischen UK Independence Party (UKIP) ist sich sicher: Nur über einen Brexit lässt sich Einwanderung reduzieren. Was stimmt: In der EU gilt das Prinzip der Freizügigkeit – alle Bewohner können sich mit einigen Ausnahmen aussuchen, in welchem EU-Land sie leben und arbeiten wollen.

Allerdings kommt über die Hälfte der Einwanderer in Großbritannien nicht aus der EU, den Zuzug kann das Land ohnehin eigenständig begrenzen. Wollte sich Großbritannien nach einem Brexit auch EU-Bürgern verschließen, würde das seinen Zugang zum europäischen Binnenmarkt beeinträchtigen. Auch für Staaten wie Norwegen und die Schweiz, die keine EU-Mitglieder sind, aber eng mit der EU verflochten sind, gilt: Eine vollständige Einbindung in den Binnenmarkt gibt es nur für den Preis der Freizügigkeit.


Die Argumente gegen einen Brexit

Importkosten

Die Organisation „Britain stronger in Europe“, die den EU-Austritt Großbritanniens verhindern will, behauptet in ihren Kampagnenunterlagen: Die Ausgaben für Importe würden um mindestens elf Milliarden Pfund steigen, wenn es zu einem Brexit käme.

Nach Ansicht der Wahrheitschecker setzt diese Zahl allerdings voraus, dass Großbritannien dieselben Importzölle einführen wird wie die EU. Doch das sei keine plausible Annahme, wollen die Brexit-Befürworter doch eigentlich eine andere Handelspolitik einführen. Die Zahl von elf Milliarden Pfund ist nach Ansicht des Finanzausschusses daher tendenziös.

Jobabbau

Brexit-Befürworter wie die Organisation „Britain stronger in Europe“ ziehen in ihrer Argumentation für die EU gerne diese Zahl heran: Drei Millionen Jobs hingen in Großbritannien an einer EU-Mitgliedschaft.

Der parlamentarische Finanzausschuss hält diese Aussage für irreführend, denn es klinge so, als ob drei Millionen Jobs bei einem EU-Austritt des Landes verloren gingen. Bei den drei Millionen Jobs geht es aber Arbeitsplätze, die von dem Handel mit EU-Ländern abhängen. Und da auch nach einem Brexit der Handel mit der EU nicht komplett erlahmen würde, seien durch einen Abschied aus der Staatengemeinschaft nicht alle drei Millionen Stellen in Gefahr, so die Faktenchecker.

Haushaltseinkommen

Auf private Haushalte kämen Einbußen von 4300 Pfund pro Jahr zu, wenn es zu einem Brexit käme, sagte Großbritanniens Finanzminister Finanzminister George Osborne und stellte eine umfangreiche Studie vor, die diese Rechnung nachvollziehbar machen soll.

Nach Ansicht der Mitglieder des parlamentarischen Finanzausschusses ist diese Behauptung allerdings irreführend. Denn es klinge so, als ob jeder britische Haushalt nach einem Brexit 4300 Pfund weniger zur Verfügung hätte. Und das sei nicht das, was die Studie nachweise. Sie mache vielmehr die Auswirkungen des Brexits auf das Bruttoinlandsprodukt deutlich. Und das Bruttoinlandsprodukt pro Haushalt kann demnach unter bestimmten Annahmen nach einem EU-Austritt um 4300 Pfund im Jahr sinken.

Segen der Einwanderung

„Wir wissen auf Grund offizieller Zahlen, dass Menschen, die aus anderen EU-Ländern hier hingekommen, etwa 2,5 Milliarden Pfund mehr in die Staatskassen einzahlen durch ihre Steuerzahlungen als sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen“, sagte der britische Labour-Politiker Ed Milliband, ein Brexit-Gegner.

Für die Faktenchecker ist diese Zahl nicht so eindeutig. Die Zahl geht auf Angaben der britischen Steuerämter zurück und bezieht sich auf die Jahre 2013 und 2014. Demnach haben EU-Einwanderer 2,5 Milliarden Pfund mehr an Einkommenssteuern gezahlt als sie an Steuergutschriften und Kinderzulagen erhielten. Allerdings gibt das noch nicht das komplette Bild wider. Es berücksichtigt nicht

Arbeitslosengeldzahlungen an EU-Einwanderer und andere Leistungen, die in das Budget des Arbeitsministeriums fallen. Es gebe daher nicht eine einzelne Zahl, die den Segen der Einwanderung nachweise, so die Faktenchecker von Full Fact. Unter dem Strich kommen aber Wissenschaftler wie Christian Dustmann vom University College London zu dem Schluss, dass Einwanderer der britischen Wirtschaft mehr nützen als sie kosten.

Schnäppchenpreise

Die EU-Zugehörigkeit bringt Briten niedrigere Preise, so dass ein durchschnittlicher Haushalt jährlich etwa 350 Pfund sparen kann. Das behauptet die Organisation „Britain stronger in Europe“ in ihren Wahlkampfunterlagen.

Die Faktenchecker von Full Fact halten das für eine irreführende Aussage. Denn es sei nicht die EU-Zugehörigkeit an und für sich, die diese Ersparnis bringt, sondern die Auswirkungen der Handelsverträge, die die EU abgeschlossen habe. Das senke die Ausgaben eines durchschnittlichen Haushalts um 1,27 Prozent. Wie sich die EU-Mitgliedschaft auf Preise in Großbritannien auswirkt, das lässt sich laut Full Fact dagegen nicht genau bestimmen.

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