Bilanzexperte Leibfried "Die Finanzgemeinde will belogen werden"

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Ein grauer Himmel hängt Quelle: dpa

Analysten, aber auch die Unternehmen selbst kapitulieren inzwischen angesichts der Regelungswut. Trotz Abertausender Vorschriften sind Bilanzen offenbar nicht leichter durchschaubar geworden.

Die Welt ist eben zu komplex, um sie in Soll und Haben zu pressen. Dennoch versuchen es die Bilanzregulatoren immer wieder, weil Anleger und Analysten nach vermeintlich todsicheren Messsystemen verlangen. Das Ergebnis sind immer umfangreichere Regelungen. Die Rechnungslegung suggeriert eine Sicherheit, die sie gar nicht liefern kann. Denn Bilanzierung ist kein naturwissenschaftliches System, sondern zwischenmenschliche Kommunikation. Der Vorstand legt gegenüber dem Anteilseigner Rechenschaft ab. Dabei ist es nicht zu vermeiden, dass Spielräume ausgenutzt und Bilanzen mit Blick auf Markterwartungen oder Budgetziele verschönert werden.

Bei den Banken sind während der Finanzkrise über Nacht wichtige Bilanzregeln außer Kraft gesetzt worden. Seither schleppen sie Wertpapiere zu Preisen durch die Bilanz, die bar jeder Realität sind. Und auch jetzt, während der andauernden Staatsschuldenkrise, gibt es wieder mächtige Stimmen wie die von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, zu anderen als zu realen Werten zu bilanzieren.

Offensichtlich will die Finanzgemeinde belogen werden. Alle wissen, dass notwendige Wertberichtigungen in den vergangenen Jahren unterblieben sind. Trotzdem sehen alle die Banken auf einmal besser dastehen, als wenn sie tatsächlich genau diese Abschreibungen vorgenommen hätten. Das will mir einfach nicht in den Kopf. Eigentlich sollte es egal sein, zu welchen Werten man bilanziert, wenn die vorhandenen Lasten ohnehin bekannt geworden sind. Aber anscheinend kommt es häufig allein auf die sich aus den Bilanzen ergebenden Kennzahlen an. Die meisten Adressaten haben offensichtlich keine Zeit, keine Lust oder zu wenig Kenntnisse, die Zahlen nach ihrem betriebswirtschaftlichen Gehalt zu hinterfragen.

Woran können sich Anleger überhaupt noch orientieren?

An den Bilanzen allein sicher nicht. In jedem Fall muss man auch die übrigen Elemente eines Jahresabschlusses gründlich studieren, also zum Beispiel den Anhang. Und man muss sich immer darüber klar sein, dass Rechnungslegung ein sehr schlechtes Frühwarnsystem ist. Bilanzen liefern Zahlen von gestern. Probleme werden zu oft erst dann erkennbar, wenn das Kind bereits im Brunnen ist. Neben den Zahlen wird daher die Beurteilung der Corporate Governance immer wichtiger, das heißt die Frage, wer das Unternehmen nach welchen Grundsätzen führt, wie verlässlich die Prognosen sind und wie gut das Risikomanagement ist.

Worauf achten Sie, bevor Sie eine Aktie oder Anleihe eines Unternehmens kaufen?

Sicherlich schaue ich mir den Jahresabschluss an. Hier sollte nichts negativ auffallen. Dabei spielen für mich die Kapitalflussrechnung - sie zeigt die tatsächlichen Zahlungsströme - und die Annahmen und Offenlegungen im Anhang eine große Rolle. Darüber hinaus verlange ich ein verständliches und tragfähiges Geschäftsmodell sowie eine führende Position im Markt. Extrem wichtig ist die Qualität des Managements. Um einen persönlichen Eindruck zu bekommen, lohnen sich Besuche der Hauptversammlung oder die Teilnahme an einem Investorentag. Ich rate von Investments ab, die sich nur auf den Vergleich finanzwirtschaftlicher Kennzahlen stützen. So naiv kann jeder Heimcomputer investieren.

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