Bilanzexperte Leibfried "Die Finanzgemeinde will belogen werden"

Bilanzexperte Peter Leibfried, Professor für Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung in St. Gallen, über problematische Posten in den Geschäftsberichten der Banken und Unternehmen.

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Peter Leibfried Quelle: PR

WirtschaftsWoche: Herr Leibfried, die Dax-Unternehmen haben in den vergangenen zehn Jahren massenweise Firmen aufgekauft und dabei noch mehr Geld ausgegeben als in den Boom-Jahren 1995 bis 2000. Damals platzte die Internet-Blase, die Börsen verloren dramatisch, viele Unternehmen rutschten nach hohen Abschreibungen tief in die roten Zahlen. Droht dies auch jetzt wieder?

Peter Leibfried: Das ist gut möglich, sollten die Börsen weiter schwach bleiben und die Konjunktur erneut abrutschen. Rund ein Drittel der heute ausgewiesenen Firmenwerte...

...also die bei Übernahmen gezahlte Prämie auf die übernommenen Vermögenswerte des gekauften Unternehmens...

...stammt aus den Jahren 2005 bis 2007, als die Vorstände zu Höchstpreisen einkauften. Nun sind die Börsen schon zum zweiten Mal eingebrochen, abgeschrieben wurde aber praktisch nichts. Insofern schieben wir wieder einmal einen täglich größer werdenden Berg von Problemen vor uns her.

Seit rund sieben Jahren müssen Unternehmen den bei Übernahmen gezahlten Aufschlag nicht mehr regelmäßig abschreiben. Deshalb haben sich Firmenwerte in Milliardenhöhe in den Bilanzen aufgetürmt. Sind das nicht häufig Scheinwerte, ähnlich dem, was wir in den Bankbilanzen schon gesehen haben?

Aus Sicht der Aktionäre waren das damals keinesfalls Scheinwerte, schließlich haben die Unternehmen irgendwann einmal echtes Geld dafür bezahlt. Seither haben sich die Aussichten der Unternehmen jedoch radikal verändert. Heute muss man in der Tat vielfach von Scheinwerten sprechen, die ihre betriebswirtschaftliche Berechtigung längst verloren haben. Viele Firmenwerte können sich derzeit nur noch deshalb in den Bilanzen halten, weil sie mit anderen Werten des Unternehmens in einen Topf geworfen werden. Gift ist immer eine Frage der Dosis - und so lange neben den erworbenen Firmenwerten noch ausreichend selbst erwirtschaftetes Vermögen vorhanden ist, merkt niemand, wie schlecht es um den dazugekauften Firmenwert eigentlich bestellt ist.

Hat die alte Regelung, Firmenwerte regelmäßig über lange Jahre abzuschreiben, Aktionären nicht mehr Sicherheit über die künftige Gewinnentwicklung der Unternehmen gegeben?

Natürlich. Die neue Regelung hat letztlich dazu geführt, dass die Bilanzierung dafür verantwortlich wird, den Unternehmenswert zu ermitteln. Das ist aber weder ihre Aufgabe noch ist sie dazu in der Lage. Insgesamt hat die neue Regelung in der Tat bei Erstellern, Prüfern und Analysten zu mehr Unsicherheit geführt, als vorher. Sie ist kontraproduktiv - auch für Aktionäre, die kaum abschätzen können, wie hoch Abschreibungen anfallen werden. Sicher ist nur, dass über längere Zeit fallende Aktienkurse einige Unternehmen, die hohe Firmenwerte in der Bilanz haben, in die roten Zahlen drücken werden.

Die Bilanzregeln bieten den Finanzchefs erhebliche Spielräume, um Abschreibungen zu vermeiden. Können auch in einer Rezession oder in einem Börsencrash die Bilanzwerte aufrechterhalten werden, sodass Anleger über die schlechte Geschäftsentwicklung getäuscht werden?

Vorübergehend leider schon. Vielfach wird man versuchen, den Schein so lange zu wahren, bis die Rezession vorüber ist, oder die Börsenkurse wieder anziehen. Entscheidend ist also, wie lange eine Krise dauert. Je länger sie anhält, umso mehr Firmenwerte müssen abgeschrieben werden. Auch ohne konkreten Anlass kann es so Quartal für Quartal zu immer neuen Horrormeldungen kommen. Wir haben diesen Effekt schon bei den Abschreibungen der Banken in den vergangenen Jahren gesehen.

Hat sich in den vergangenen Jahren eine Scheinbilanzierung aufgebaut?

Nun, es gibt eine Krise der Rechnungslegung. Deren Aufgabe ist es, für Transparenz zu sorgen. Insofern beobachten wir in der Tat einen Akzeptanzverlust, insbesondere bei Bankbilanzen. Allerdings: Ganz ohne Bilanzierung und Rechnungslegung würden die Märkte auch nicht funktionieren. Die sich aus den Krisen der vergangenen Jahre ergebende Herausforderung lautet daher, Instrumente zu entwickeln, die den Wert eines Unternehmens besser widerspiegeln.

Ein grauer Himmel hängt Quelle: dpa

Analysten, aber auch die Unternehmen selbst kapitulieren inzwischen angesichts der Regelungswut. Trotz Abertausender Vorschriften sind Bilanzen offenbar nicht leichter durchschaubar geworden.

Die Welt ist eben zu komplex, um sie in Soll und Haben zu pressen. Dennoch versuchen es die Bilanzregulatoren immer wieder, weil Anleger und Analysten nach vermeintlich todsicheren Messsystemen verlangen. Das Ergebnis sind immer umfangreichere Regelungen. Die Rechnungslegung suggeriert eine Sicherheit, die sie gar nicht liefern kann. Denn Bilanzierung ist kein naturwissenschaftliches System, sondern zwischenmenschliche Kommunikation. Der Vorstand legt gegenüber dem Anteilseigner Rechenschaft ab. Dabei ist es nicht zu vermeiden, dass Spielräume ausgenutzt und Bilanzen mit Blick auf Markterwartungen oder Budgetziele verschönert werden.

Bei den Banken sind während der Finanzkrise über Nacht wichtige Bilanzregeln außer Kraft gesetzt worden. Seither schleppen sie Wertpapiere zu Preisen durch die Bilanz, die bar jeder Realität sind. Und auch jetzt, während der andauernden Staatsschuldenkrise, gibt es wieder mächtige Stimmen wie die von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, zu anderen als zu realen Werten zu bilanzieren.

Offensichtlich will die Finanzgemeinde belogen werden. Alle wissen, dass notwendige Wertberichtigungen in den vergangenen Jahren unterblieben sind. Trotzdem sehen alle die Banken auf einmal besser dastehen, als wenn sie tatsächlich genau diese Abschreibungen vorgenommen hätten. Das will mir einfach nicht in den Kopf. Eigentlich sollte es egal sein, zu welchen Werten man bilanziert, wenn die vorhandenen Lasten ohnehin bekannt geworden sind. Aber anscheinend kommt es häufig allein auf die sich aus den Bilanzen ergebenden Kennzahlen an. Die meisten Adressaten haben offensichtlich keine Zeit, keine Lust oder zu wenig Kenntnisse, die Zahlen nach ihrem betriebswirtschaftlichen Gehalt zu hinterfragen.

Woran können sich Anleger überhaupt noch orientieren?

An den Bilanzen allein sicher nicht. In jedem Fall muss man auch die übrigen Elemente eines Jahresabschlusses gründlich studieren, also zum Beispiel den Anhang. Und man muss sich immer darüber klar sein, dass Rechnungslegung ein sehr schlechtes Frühwarnsystem ist. Bilanzen liefern Zahlen von gestern. Probleme werden zu oft erst dann erkennbar, wenn das Kind bereits im Brunnen ist. Neben den Zahlen wird daher die Beurteilung der Corporate Governance immer wichtiger, das heißt die Frage, wer das Unternehmen nach welchen Grundsätzen führt, wie verlässlich die Prognosen sind und wie gut das Risikomanagement ist.

Worauf achten Sie, bevor Sie eine Aktie oder Anleihe eines Unternehmens kaufen?

Sicherlich schaue ich mir den Jahresabschluss an. Hier sollte nichts negativ auffallen. Dabei spielen für mich die Kapitalflussrechnung - sie zeigt die tatsächlichen Zahlungsströme - und die Annahmen und Offenlegungen im Anhang eine große Rolle. Darüber hinaus verlange ich ein verständliches und tragfähiges Geschäftsmodell sowie eine führende Position im Markt. Extrem wichtig ist die Qualität des Managements. Um einen persönlichen Eindruck zu bekommen, lohnen sich Besuche der Hauptversammlung oder die Teilnahme an einem Investorentag. Ich rate von Investments ab, die sich nur auf den Vergleich finanzwirtschaftlicher Kennzahlen stützen. So naiv kann jeder Heimcomputer investieren.

ARCHIV - Bildkombo der Logos Quelle: dpa

Können die Wirtschaftsprüfer nicht dafür sorgen, dass Anleger verlässliche Zahlen bekommen?

Wirtschaftsprüfer spielen eine wichtige Rolle. Ohne sie würde die Berichterstattung der Unternehmensleitung nur in großen zeitlichen Abständen überprüft - im Extremfall erst bei Insolvenz des Unternehmens. Allerdings wird die Verantwortlichkeit der Prüfer in der öffentlichen Diskussion hoffnungslos überschätzt. Ein uneingeschränktes Wirtschaftsprüfer-Testat bedeutet nur, dass der Jahresabschluss in Einklang mit den jeweiligen Standards der Rechnungslegung erstellt wurde. Über die zukünftige Entwicklung des Unternehmens liefert die Wirtschaftsprüfung keine Anhaltspunkte. Ein wirtschaftlich katastrophal aufgestelltes Unternehmen kann Abschlüsse vorlegen, die handwerklich hervorragend sind - und der Prüfer kann hier nichts machen.

Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen leben vom Geld der Unternehmen. Können sie dann überhaupt noch unabhängige Urteile abgeben?

Das ist in der Tat ein Problem, wobei zwischen Wirtschaftsprüfern und Ratingagenturen mittlerweile erhebliche Unterschiede bestehen. Wirtschaftsprüfer gehören heute weltweit zu den am meisten regulierten Branchen. Hier haben die Bilanzskandale von Enron, Worldcom, Parmalat und vielen anderen Spuren hinterlassen. Ratingagenturen hingegen sind praktisch völlig frei. Bei der Subprime-Krise saßen sie im Fahrersitz, sie lieferten den Banken die Argumente, die sie brauchten, um in finanzwirtschaftlichen Giftmüll zu investieren.

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