In zwölf Sekunden kommen die neuen Arbeitsmarktdaten. Hendrik Klein legt seine Hand auf die Computermaus. „Mach schnell!“, ruft sein österreichischer Partner, der hinter Kleins Stuhl herumzappelt. Mit einem Klick schaltet Klein die Leitung des Handelsprogramms für maschinenlesbare Nachrichten frei. Um 14.30 Uhr, keine Millisekunde später, veröffentlichen die USA die Zahl der neu geschaffenen Jobs: 163.000 sind es, 53.000 mehr als von Volkswirten erwartet.
Aus dem Lautsprecher des Rechners tönt Applaus, wie immer, wenn Kleins computergesteuertes Programm selbstständig an der Börse handelt. Und bei der Nachricht legt die Maschine richtig los. Sie wettet blitzschnell auf einen steigenden Deutschen Aktienindex (Dax): Wenn mehr Amerikaner einen Job haben, läuft die US-Wirtschaft besser als erwartet, davon dürfte Deutschland profitieren.
25 Euro pro Punkt
Die Rechnung geht auf: In der ersten Sekunde schießt der Kurs des Dax-Futures an der Terminbörse Eurex um über 20 Punkte nach oben (Chart rechts). Jeder Punkt ist 25 Euro wert. Wer in einer Sekunde 20 Punkte mitnehmen kann, macht pro Future 500 Euro Gewinn. Mit 100 Kontrakten vervielfacht sich das Plus auf 50.000 Euro.
Nach wenigen Sekunden ist erneut Beifall zu hören. Der Börsentrend dreht, der Computer nimmt Gewinne mit. Zwei Minuten später läuft die Nachricht über den TV-Schirm im Büro des Investmenthauses Da Vinci im schweizerischen Dietikon. Klein und Partner Goran Kaiblinger haben da längst wieder Bares auf dem Konto.
Der ehemalige Bankhändler Klein und der promovierte Physiker Kaiblinger gehören zur Generation der ausgebufften Hochfrequenzhändler. Automatisch feuern ihre Computer dank programmierter Handlungsanweisungen (Algorithmen) in Bruchteilen von Sekunden Kauf- und Verkaufsaufträge an die Börsen. Leute wie sie haben den Börsenhandel revolutioniert: Heute sei „die Länge der Kabelverbindung zum Börsenserver für den Erfolg eines Investors oft entscheidender als seine Fähigkeit in der Unternehmensbewertung“, sagt Bundesbank-Vorstand Joachim Nagel, der die Ressorts Informationstechnologie und Märkte verantwortet.
Früher kaufen als alle anderen
Die Da-Vinci-Händler handeln auf Nachrichten: Vor Veröffentlichung wichtiger volkswirtschaftlicher Daten legen sie fest, wie ihr System reagieren soll, wenn die Daten besser oder schlechter als zuvor von Volkswirten und Börsianern erwartet ausfallen. Je größer die Überraschung, desto mehr Gewinn ist drin. Entscheidend ist, die Reaktion des Marktes richtig vorwegzunehmen – und früher zu kaufen als andere.
Die Chancen, dass der Deutsche Klein das schafft, stehen gut: Da Vinci haben ihren Computer im Frankfurter Rechenzentrum des Anbieters Equinix eingemietet, ganz nah an den Hauptrechnern der Deutschen Börse und ihrer Tochter Eurex. Kommt eine Nachricht an, braucht der Da-Vinci-Code nur 1,5 Millisekunden, um eine Order zu generieren, sie an die Börse zu schicken und von dort das Okay zu empfangen.
Eine Millisekunde, das ist eine Tausendstel Sekunde.
Nicht jede Spielart ist legal
Der Handel in Reaktion auf Nachrichten ist eine neue Spielart des Hochfrequenzhandels, bei dem in zunehmendem Ausmaß hochgezüchtete Computer nach festen Algorithmen gegeneinander handeln. Rund 40 Prozent des Handelsumsatzes der Deutschen Börse hängen Schätzungen zufolge von algorithmischen Strategien ab. Längst nicht jede Spielart ist dabei legal (siehe Kasten untern). Anleger werden zunehmend von intelligenten Algorithmen ausgebootet. Viele Hochfrequenzhändler etwa stellen ihre Computer nicht deshalb so nah an den Hauptrechner der Börse, um schneller handeln, sondern um Aufträge blitzschnell stornieren zu können.
Die Nähe zum Börsenrechner zählt
In den USA etwa schoss nach Informationen der Aufsicht kürzlich binnen Sekunden ein Hochgeschwindigkeitshändler mehr als 47 000 Kaufaufträge für die US-Aktie PSS World Medical in die Börsensysteme. Ein Rekord. Ziel des Traders könnte Folgendes gewesen sein: Da sich Kurse nach Angebot und Nachfrage richten, könnte der Preis der Aktie steigen. Und zwar dann, wenn andere Hochleistungsrechner, deren Algorithmen darauf programmiert sind, hohe Nachfrage zu identifizieren, tatsächlich kaufen. Der Algo-Trader aber, der den ersten Massenauftrag ins System geschossen hat, storniert dann seinen Spam-Auftrag blitzschnell wieder, nachdem er den Kurs in die gewünschte Richtung getrieben hat. Weil seine Computer nah genug am Börsenrechner stehen, bekommt er das hin – und kann eigene Aktien zu höheren Kursen verkaufen.
Die Strategien der Blitz-Trader
News-Reader (Handel auf Nachrichten):
Empfängt computerlesbare Nachrichten und handelt, bevor Kurse reagieren.
Status: Erlaubt
Arbitrage (Kursunterschiede nutzen):
Kauft Papiere an einer Börse und verkauft an einer anderen teurer.
Status: Erlaubt
Pinging (Anklopfen):
Sucht Liquidität, schickt kleine Orders zur Börse und späht so Handelsbücher aus.
Status: Bedenklich
Sniping (Aus dem Hinterhalt schießen):
Handelt, bis er ausgespäht hat, wo die Limits anderer Trader liegen.
Status: Bedenklich
Scalping (Abschneiden):
Sucht große Orders und kauft Papiere früher. Verkauft wenig später teurer wieder.
Status: Bedenklich
Quote Stuffing (Leitungen verstopfen):
Sendet Hunderte Orders und löscht sie. Profitiert von Arbitrage an anderer Börse.
Status: Gefährlich
Spoofing bzw. Layering (Täuschen):
Ein Algorithmus bewegt einen zweiten zum Handeln und verdient daran.
Status: Gefährlich
Wash Trades (Mit sich selber handeln):
Kauft und verkauft gleichzeitig, täuscht Nachfrage nach einem illiquiden Papier vor.
Status: Gefährlich
Frontrunning (Vordrängeln):
Kennt Kundenaufträge und deckt sich ein, bevor er für diese handelt.
Status: Verboten!
Quellen: eigene Recherche
Das Platzieren von Handelscomputern in Börsen-Rechenzentren, im Fachjargon Co-Location genannt, hebelt das Prinzip Börse, das auf Gleichberechtigung der Handelsteilnehmer zielt, aus. „Wenn sich Käufer und Verkäufer auf einen Preis und eine Stückzahl einigen und die Hände zum Abschluss ausstrecken, hat dann oft nur einer der beiden die Möglichkeit, die Hand noch zurückzuziehen“, sagt der ehemalige Börsenvorstand und Ex-Eurex-Chef Rudolf Ferscha und fordert, Börsenregeln zu verschärfen. Und auch für Bundesbanker Nagel stellt sich die Frage, ob „das technologische Wettrüsten am Kapitalmarkt gesamtwirtschaftlich wirklich sinnvoll ist“.
Besonders spannend wird es immer, wenn Algorithmen gegeneinander antreten. Viele Händler schicken ihre Maschinen permanent auf die Suche nach großen Börsen-Orders anderer Trader, zum Beispiel jene von Pensionskassen. Sie nennen das Orderbuch-Scalping oder, wie es einer übersetzt: „Kopfhaut abschnibbeln“.
Trefferquote von 67 Prozent
Es sei der Versuch, sich von einer großen Order ein kleines Stückchen abzuschneiden. Seine Algorithmen finden 30 bis 50 Mal am Tag einen Großauftrag und versuchen, anderen Börsianern blitzschnell Papiere vor der Nase wegzuschnappen. Steigt der Kurs dank der hohen Nachfrage, werden die Papiere im Schnitt zehn Sekunden später einen Tick teurer wieder verkauft. „Die Trefferquote liegt bei über 67 Prozent“, schwärmt der Händler. Pro Trade setzt er mit der Strategie 100 Millionen Euro an der Börse um – macht im Monat schnell 60 Milliarden.
Schnelligkeit der Rechner ist deshalb so wichtig, weil Börsensysteme hauptsächlich nach der Preis-Zeit-Priorität funktionieren: Das Deutsche-Börse-Handelssystem Xetra überprüft als Erstes die Preislimits der Orders. Vorrang haben solche mit besseren Preisen. Kommen zwei Orders mit dem gleichen Preis kurz nacheinander rein, wird die erste zuerst ausgeführt.
Privatanleger haben das Nachsehen
Hochfrequenz-Algorithmen kennen die Regeln und können sich durch blitzschnelles Aktualisieren der eigenen Preise ständig in der Börsen-Schlange vordrängen. Die Orders der Privatanleger rutschen nach hinten, sie müssen teurer kaufen und billiger verkaufen. „Für Hochfrequenzhändler sind die Orders von Privatanlegern besonders interessant, denn diese Anleger sind entweder nicht so gut informiert, oder es ist ihnen gleichgültig, wenn ein paar Cent verloren gehen“, sagt Christopher Boschan, Geschäftsführer der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse in Stuttgart.
Besonders benachteiligt sieht Bundesbanker Nagel Anteilseigner von Aktienfonds. Anleger könnten „finanzielle Einbußen erleiden“, weil Fonds durch Hochfrequenzhändler Nachteile hätten – etwa dann, wenn diese teurer kaufen, weil Algorithmen ihre Orders entdeckt und vor ihnen gekauft haben.
Wertverluste ohne Grund
Auch Privatanleger, die Aktien mit automatischen Stop-Loss-Marken absichern, bei deren Durchbrechen die Bank automatisch verkauft, leben zunehmend gefährlicher. Das Risiko nimmt zu, dass ein Anleger bei einem kurzen, heftigen Einbruch zu billig verkauft und bei der folgenden Kurserholung nicht mehr investiert ist.
So berichtete Bundesbanker Nagel kürzlich vom Phänomen der „Mini-Flash-Crashes“. Einzelne Papiere würden dabei „ohne fundamentale Begründung innerhalb von Sekunden 20, 40 oder gar mehr als 50 Prozent ihres Wertes verlieren, nur um sich kurze Zeit später wieder zu erholen“. Laut US-Aufsicht SEC sei es in den USA seit Mitte 2010 zu mehr als 100 unerklärlichen Abstürzen gekommen. Als Ursache stünden Hochfrequenz-Algorithmen unter Verdacht. „Aber auch in Deutschland gibt es Fälle von plötzlichen heftigen Kursschwankungen, die ohne offensichtliche fundamentale Gründe erfolgen“, sagt Nagel.
In der Schweiz applaudiert das automatisierte Handelssystem jetzt ausnahmsweise mal nicht – dafür läutet eine Alarmsirene am Computer, dessen acht Bildschirme einer von Da Vincis Mitarbeitern überwacht. Hobby-Leichtathlet Klein schiebt seine Kaffeetasse mit der Deutschland-Flagge zur Seite und sprintet aus dem Nebenraum los. Nicht immer läuft bei frisch programmierten Algorithmen alles rund, ab und an muss Klein persönlich eingreifen und den „Stop-Button“ drücken. So kann er mit einem Klick alle Papiere auf einmal verkaufen und in unklaren Börsenlagen Risiko reduzieren. „Trading ohne Verluste gibt es nicht, manchmal verdrückt sich zum Beispiel jemand anders und dann schießen die Kurse plötzlich in eine unerwartete Richtung“, sagt Klein.
Geschwindigkeit ist nicht immer besser
In den USA löste Anfang August ein fehlerhaft programmierter Rechner ein Chaos an der Börse aus. Maschinen des US-Aktien- und Hochfrequenzhändlers Knight Capital machten sich selbstständig, eine neue Handelssoftware überflutete die New Yorker Börse mit Kaufaufträgen. Betroffen waren Aktien von über 100 Unternehmen, manche Kurse verdoppelten sich. Erst nach 45 Minuten wurde die Ursache entdeckt, sodass Mitarbeiter die Maschinen stoppen konnten. Knight musste die Aktien mit Verlust losschlagen – vor Steuern 440 Millionen Dollar – und konnte nur dank einer 400-Millionen-Kapitalspritze einer Investorengruppe am Leben gehalten werden. Nyse-Euronext-Chef Duncan Niederauer sah die Fast-Pleite als Aufruf zum Handeln: „Jetzt verstehen wir, dass Geschwindigkeit nicht immer besser ist.“
Algorithmus sollte IPO stören
Kuriose Börsenpannen
Fast 45 Minuten konnten am 29. Oktober 2013 an der US-Börse Nasdaq einige Indexstände nicht übermittelt werden. Wegen der fehlenden Daten wurde der Optionshandel vorübergehend ausgesetzt. Als Grund für die Panne nannte der Betreiber menschliches Versagen: Durch einen Bedienfehler seien Störungen in der Datenübertragung entstanden.
Wegen technischer Probleme hat die Derivate-Börse Eurex den Handel am Morgen des 26.8.2013 vorübergehend gestoppt. "Die Aussetzung wurde durch eine fehlerhafte Zeit-Synchronisierung im System verursacht", teilte die Tochter der Deutschen Börse mit. Aus diesem Grund sei der Handel zwischen 08:20 und 09:20 Uhr (MESZ) angehalten und sämtliche Produkte auf den Stand vor Börseneröffnung zurückgesetzt worden.
Eine technische Panne hat die US-Technologiebörse Nasdaq am 22. August 2013 für mehrere Stunden lahmgelegt. Grund für den Knock out sei ein Softwareproblem gewesen, teilte der Börsenbetreiber Nasdaq OMX mit. Die Übermittlung von Kursdaten an die New Yorker Börse an der Wall Street war offenbar zusammengebrochen. Auch der Optionshandel wurde bis auf weiteres ausgesetzt. Erst nach rund dreistündiger Zwangspause konnte die Börse den Handel mit den Papieren von Technologiefirmen wie Apple, Facebook, Microsoft oder Google wiederaufnehmen. Die Nasdaq rechnet aber bisher nicht mit Schadenersatz- oder Haftungsansprüchen.
Die US-Investmentbank Goldman Sachs hat am 21. August 2013 versehentlich eine riesige Menge von Optionsgeschäften getätigt. Die irrtümlichen Orders wurden kurz nach Handelseröffnung aufgegeben und betrafen Optionen auf Aktien, deren Börsensymbole mit den Buchstaben H bis L beginnen. Eine mit den Problemen vertraute Person, die nicht namentlich genannt werden wollte, führte die fehlerhaften Aufträge auf eine Computerpanne zurück. Diese habe dazu geführt, dass bloße Interessensbekundungen an den Optionen irrtümlich als Orders an die Handelsplätze versandt worden seien. Möglicherweise drohe Goldman Sachs ein Verlust in Millionenhöhe.
Ein Aktienhändler der UBS handelte durch Eingabe zu vieler Nullen im Januar 1999 innerhalb von zwei Minuten zehn Millionen Aktien der Pharmafirma Roche, von den aber überhaupt nur sieben Millionen Stück existierten. Das Handelsvolumen überstieg die Marktkapitalisierung von Roche um knapp die Hälfte. Den Verkauf versuchte er durch eigene Kauforders rückgängig zu machen. 2001 verkaufte ein Händler der Investmentbank Lehman Brothers aus Versehen immer hundertmal mehr Aktien als er wollte – vor allem von Schwergewichten wie AstraZeneca und BP – und vernichtete so zeitweise 30 Milliarden Pfund an Börsenwert.
Im Dezember 2001 begleitete UBS Warburg den Verkauf neuer Aktien des japanischen Unternehmens Dentsu. Ein Händler vertippte sich und verkaufte statt 16 Dentsu-Aktien zu 600.000 Yen gleich 610.000 Aktien zu 6 Yen an. Schnell verkaufte die UBS so 64.915 Aktien, was etwa der Hälfte des Emissionsvolumens entspricht. Die UBS verlor so 100 Millionen Dollar, weil sie die Aktien selbst zum Marktpreis kaufen musste, um die Käufer mit den Papieren zu versorgen.
Ein Händler von Bear Stearns verkaufte im Oktober 2002 Aktien für vier Milliarden Dollar anstelle von vier Millionen. Bevor der Vertipper auffiel, gingen bereits Wertpapiere im Wert vom 600 Millionen Dollar an neue Besitzer. Der Leitindex Dow Jones sank dadurch um 2,3 Prozent.
Der Hochfrequenzhandel war für den "Flash Crash" an der Wall Street verantwortlich, als sich im Mai 2010 durch einen blitzartigen Kurseinbruch aus heiterem Himmel binnen Minuten fast eine Billion Dollar Marktwert in Luft auflöste. Einige Aktien verloren in der kurzen Zeitspanne rund die Hälfte ihres Wertes. Schon davor hatte es Kritik gegeben an den immer schnelleren Börsengeschäften über Computersysteme. Beim sogenannten Hochfrequenzhandel werden tausende Transaktionen binnen Millisekunden durch Computer ausgelöst.
Ende Juni 2010 fielen die Aktien der Citigroup nach Massenverkäufen durch elektronische Handelssysteme zeitweise um17 Prozent. Da die US-Börsenaufsicht SEC nach dem „Flash Crash im Mai zuvor beschlossen hatte, Aktien aus dem Index S&P 500 vom Handel auszusetzen, sofern diese innerhalb von fünf Minuten mehr als zehn Prozent fallen oder steigen, stoppte diese Sicherungssystem den Kursrutsch. Fünf Minuten stoppte der Handel, dann beruhigte sich die Lage. Den Handelstag beendete die Citigroup-Aktie sieben Prozent im Minus.
Noch vor Facebook gab es einen weiteren verpatzten Börsengang: Die Erstnotiz der drittgrößten US-Börse BATS Global Markets Ende März 2012 endete mit einem Totalschaden. Die Aktien sollten auf der eigenen Handelsplattform ihr Börsendebüt feiern, aber die neuen BATS-Aktien sackten binnen Minuten von 16 Dollar auf unter einen Cent. Als Schuldige wurde eine neue Software ausgemacht. BATS musste falschen Transaktionen zurücknehmen - und nahm die eigenen Aktien nach dem peinlichen Vorfall gleich mit von der Börse.
Als das 900 Millionen Nutzer starke Social-Media-Portal im Mai 2012 den Sprung an die Börse wagte, bekam die Erfolgsstory deutliche Risse. Nach gravierenden Pannen im Handelssystem der Technologiebörse Nasdaq in New York stürzte der Kurs des Börsenneulings rapide in die Tiefe. Beteiligte Firmen erlitten hohe Millionen-Verluste, etliche fordern von der Nasdaq Schadenersatz. Die Schweizer Großbank UBS, die beim Facebook-Börsengang 349 Millionen Franken (290 Millionen Euro) verlor, drohte bereits mit einer Klage gegen die Börse.
Am 31. Juli 2012 versetzte eine fehlerhafte Handelssoftware versetzte Wertpapierhändler und Anleger an der Wall Street in Aufruhr: In den ersten 45 Minuten des Handelstages verzeichneten rund 150 Aktientitel so hohe Umsätze wie sonst an einem ganzen Tag. Die Folge waren heftige Preisschwankungen, und fünf Aktien mussten sogar ganz aus dem Handel genommen werden. Das Börsenhandelshaus Knight Capital räumte ein, Probleme mit seinen computergestützten Systemen seien dafür verantwortlich. Ein neues Handelsprogramm hatte die Börse mit fehlerhaften Handelsaufträgen geflutet. Knight Capital verbuchte durch die viel zu teuer gekauften Aktien einen Verlust von rund 440 Millionen Dollar.
Kurz nach dem Handelsstart im April 2014 an der Technologiebörse Nasdaq schossen die Aktien des Lebensmittelherstellers Kraft Foods binnen einer Minute um satte 30 Prozent nach oben, von 45 auf mehr als 58 Dollar. Die Nasdaq verneinte Probleme mit ihrer Handelsplattform und machte einen Börsenmakler als Verursacher aus. Laut "Financial Times" hatte ein Handelsprogramm irrtümlich versucht, 30.000 Kraft-Aktien binnen kürzester Zeit zu ordern. Die Nasdaq und andere betroffene Börsen erklärten nach einer Untersuchung der Kursbewegungen die fragwürdigen Transaktionen oberhalb eines Kurses von 47,82 Dollar für ungültig. Der Fehler ereignete sich nur einen Tag, nachdem Kraft Foods sich aufgespalten und sein Geschäft mit Snacks außerhalb der USA unter dem Namen Mondelez International als eigenständige Aktie an die Nasdaq gebracht hatte.
Kaum mehr Glück als Knight hatte die US-Handelsplattform Bats Ende März. Ihr Börsengang (IPO) auf dem eigenen System ging als kürzester IPO in die Geschichte ein, nachdem der Aktienkurs binnen 900 Millisekunden von gut 15 Dollar auf unter 30 Cent gefallen war. Die Plattform musste den Börsengang rückgängig machen.
Seitdem machen Gerüchte die Runde, dass es sich bei der Panne nicht bloß um einen Programmierfehler handelte, wie Bats sagt. Eine genaue Betrachtung der Handelsdaten zeige einen anderen Sachverhalt, sagte Bundesbanker Nagel Anfang Juli in einer Rede. Bei Bats liege „der Schluss nahe, dass es ein speziell zum Zwecke der IPO-Störung eingesetzter Algorithmus gewesen sein könnte, der den Börsengang“ kollabieren ließ. Bats bestreitet dies, Beweise haben die Aufsichtsbehörden nicht.
Große Datenmengen verhindern Überwachung
Während die Händler weiter aufrüsten, kommen die Aufseher kaum hinterher. Allein über die Eurex etwa generieren Trader pro Minute bis zu 300 000 Datensätze. Will die Aufsicht Missstände nachverfolgen, kann sie sich gleich einen Tieflader mit Ausdrucken von Handelsdaten kommen lassen. So sieht die Finanzaufsicht BaFin vor allem „große Datenmengen“ als „eine der aktuellen Herausforderungen bei der Überwachung von Marktmanipulation“.
Bundesbanker Nagel gibt zu, dass es Regulierer „lange Zeit versäumt“ hätten, sich mit den Fortschritten der Branche zu befassen: „Während Hochfrequenzhändler bereits die Schwelle vom Millisekunden- zum Mikrosekundenbereich unterschritten, diskutierten Behörden und Kommissionen noch um eine juristische Definition.“ Im Prinzip galt der Flash Crash – der blitzartige Absturz – in den USA im Mai 2010 als Startschuss für die Aufseher der Welt. Damals verlor der Leitindex Dow Jones binnen Minuten fast 1000 Punkte. Ein Fonds warf binnen 20 Minuten Terminkontrakte im Wert von gigantischen 4,1 Milliarden Dollar auf den Markt. Die Maschinen der Blitz-Trader entdeckten den großen Auftrag und dealten mit. Die SEC brauchte anschließend Monate, um wenige Minuten Handelsdaten auszuwerten.
Börsen im extremen Fall stoppen
Heute gelten Hochfrequenzhändler zwar nicht immer als Verursacher, zumindest aber als Verstärker heftiger Schwankungen. So gibt es zum Beispiel Algorithmen, die gezielt nach Papieren suchen, die stärker als normal steigen. Sie springen auf den Trend auf, kaufen ebenfalls und bleiben so lange im Markt, bis der Kurs in die andere Richtung dreht. In extremen Fällen stoppen die Börsen den Handel, um menschlichen Börsianern ein paar Minuten Zeit zu geben, außer Rand und Band gelaufene Maschinen zu zähmen. So hielt die Deutsche Börse am 3. August insgesamt 313 Mal ihre Maschinen an, weil der Dax an einem Tag fast 260 Punkte zulegte.
Die Bundesregierung stufte blitzschnelle Computer-Trader jetzt erstmals öffentlich als Bedrohung ein, die es zu regulieren gilt. Sie hat einen Gesetzentwurf „zur Vermeidung von Gefahren und Missbräuchen im Hochfrequenzhandel“ veröffentlicht, der am Mittwoch dieser Woche durchs Bundeskabinett soll.
Einige Praktiken sollen danach künftig als Marktmanipulation gelten. Bestraft werden sollen alle, die nicht die Absicht haben, tatsächlich zu handeln, sondern ihre Aufträge nur einstellen, um Börsensysteme zu stören, zu verzögern oder andere Börsianer zu täuschen.
BaFin will Offenlegung der Algorithmen
Blitz-Händler sollen künftig von der BaFin kontrolliert werden. Geplant ist, dass die Trader auf ihre Anfrage Algorithmen offenlegen müssen. Für Profis ist das in etwa so, als wenn man Coca-Cola zwingen wollte, die geheime Rezeptur der Brause zu verraten. Da-Vinci-Chef Klein, der von der Schweizer Aufsicht Finma reguliert wird, offenbart nicht mal seinem Partner alles. „Mein Bruder und ich sind die Einzigen, die alle Strategien kennen und wissen, wie die Maschinen programmiert sind“, sagt er.
2008 war Klein persönlich ins mit der Börse vernetzte Rechencenter gestapft – mit Mütze und Handschuhen, denn weil Rechner heiß laufen, werden die Räume tiefgekühlt. „Ich wollte wissen, wie es funktioniert, und alles selber installieren“, sagt Klein.
Dass die Behörde, selbst wenn sie sie bekommt, etwas mit den Algorithmen anfangen kann, ist schwer vorstellbar. Ein Aufseher malte sich bereits aus, wie er vor Hunderten Seiten voller komplizierter Formeln sitzt. „Die Hochfrequenzler holen die klügsten Mathematiker und Physiker direkt von der Universität, was haben wir denen schon entgegenzusetzen?“, fragt er.
Die meisten Turbo-Händler, die in Frankfurt handeln, sitzen im Ausland – vor allem in London und in der Schweiz. Da Vinci zum Beispiel handelt aus der Schweiz über einen Broker in London an der Börse in Frankfurt. Eigentlich gilt in Regulierungsfragen das Heimatlandprinzip: Die BaFin beaufsichtigt Trader aus Deutschland, die Finma jene in der Schweiz, und die FSA ist für solche in London zuständig.
Die Hüst kann nicht eingreifen
Der in Deutschland zugelassene Handelsteilnehmer ist der Londoner Broker, nicht die Schweizer Trader. Bei den Briten sieht die Handelsüberwachungsstelle (Hüst) der Frankfurter Wertpapierbörse und der Eurex ins Handelsbuch. Dass ein Schweizer Fonds dahintersteht, weiß sie nicht. Spielt ein Algorithmus verrückt, kann die Hüst ihn nicht einzeln stoppen. „Wir würden daher gerne den Endkunden und jeden Algorithmus nummerieren, sodass wir fehlerhafte Algorithmen schnell abschalten können“, sagt Michael Zollweg, Leiter der Hüst im Eschborner Hauptquartier der Deutschen Börse.
Damit die BaFin künftig Zugriff auf ausländische Trader hat, müssten diese nach der bisherigen Gesetzesplanung künftig eine Zweigstelle in Deutschland eröffnen. Das aber dürften die wenigsten tun. „Bevor das Gesetz verabschiedet wird, wäre wohl noch mal zu prüfen, ob der Ausschluss von Hochfrequenzhändlern, die nur vom Ausland operieren, beabsichtigt ist. Für Europa wäre das sehr ungewöhnlich, denn man darf eigentlich Dienstleistungen in der Union überall gleichberechtigt erbringen“, sagt Boschan von der Stuttgarter Börse.
Die Mitarbeiter der Hüst suchen längst nach von der Börse verbotenen Handelsstrategien – auch ohne neues Gesetz. Der Handel auf Nachrichten gehört nicht dazu. Die Börse bietet Da Vinci über „AlphaFlash“ selber die Nachrichtendienste an.
Gegen Computer helfen nur Computer
Von der Börse verboten wurden Techniken, bei denen ein Algorithmus Aufträge in das Handelssystem einstellt, die gar nicht ausgeführt werden sollen. Beispiel: Bei einer Phantom-Order versucht ein Algorithmus, einen anderen zum Kaufen zu bewegen. „Er hat analysiert, dass der immer loslegt, wenn etwa zwei Mal hintereinander eine Order über 1500 Aktien ins System gestellt wird, um dem Markt vorzutäuschen, dass große Order vorliegen. Die großen Aufträge zieht er dann blitzschnell zurück, wenn er seine auf der anderen Seite des Orderbuches eingestellte Order im Markt ausgeführt bekommen hat“, sagt Zollweg.
Seine Rechner surren leise, auf den Bildschirmen sind Zahlenkolonnen zu sehen. Davor sitzen in der Hüst IT-Spezialisten, ehemalige Händler und Physiker. Sie sind die Börsenpolizei. Was Zollwegs Truppe treibt, ist mindestens so geheim wie die Algorithmen der Trader. An der Pforte zur Hüst funktioniert nicht mal die Zugangskarte von Börsenchef Reto Francioni.
Faire Regeln nur über die Börse
Nur so viel verrät Zollweg: Gegen die Datenflut von Algorithmen helfen nur Computer. Mit 80 Warnprogrammen, die auf bestimmte Handelsmuster anspringen, kämpfen die Mitarbeiter der Überwachung gegen unlautere Strategien.
Wenn sie fündig werden, gibt die Hüst Daten auch an die BaFin weiter. Die darf heute schon bei Händlern Auskünfte einholen. Allein: Selbst wenn ein Aufseher nach einiger Zeit die Adresse vom Händler in die Finger kriegt – Trader aus dem Ausland antworten selten. Das dürfte sich mit dem geplanten Gesetz kaum ändern.
Kein Wunder also, dass ein Insider aus Kreisen der Aufsicht hinter vorgehaltener Hand lästert: „Das Gesetz ist kein Riesenschlag, denn es geht weder strukturell gegen Hochfrequenzhändler vor, noch greift es die Grundstrukturen dieses Marktes an.“
Und auch die Jungs von Da Vinci können nur schmunzeln: „Wir haben keine Berührungsängste. Aber faire Regeln für alle kann man in Deutschland nur über die Börsen schaffen“, sagen sie.
Turbo-Händler nicht vergraulen
Es ist jedoch schwer vorstellbar, dass sich die Deutsche Börse freiwillig Regeln in ihre Satzung packt, die Turbo-Händler vergraulen. Ihre zehn größten Kunden generieren die Hälfte vom Umsatz und sorgen bei vielen Papieren für zusätzliche Liquidität.
Im März führte die Börse zwar eine Strafgebühr für Trader ein, die viele Aufträge in die Börsen-Systeme schießen, aber letztlich kaum handeln (Excessive Usage Fee). Diese Stornogebühr wird bei Dax-Werten aber erst fällig, wenn auch nach 2500 Aufträgen nicht einmal gehandelt wurde. Wer häufiger storniert, zahlt bis zu drei Cent pro Order, maximal 20 000 Euro. Blitz-Trader, die an Cent-Beträgen verdienen, passten ihre Algorithmen sofort an. Die Börse hat ausgerechnet, dass sie vorher hundertmal mehr mit der Gebühr eingenommen hätte, als sie jetzt tatsächlich bekommt.
Neue Gesetze zum Marktmissbrauch
Stornogebühren kommen der Börse zupass, denn an stornierten Aufträgen verdient sie sonst nichts. Die Kosten für den Ausbau der Börsensysteme aber treiben die Stornierer in die Höhe. Davon abgesehen aber dürfte die Börse alle fördern, die ihr Umsatz bringen. „Wenn die Regelwerke der Börse nicht fein justiert sind, besteht die Gefahr, dass Handelsteilnehmer zu anderen Handelsplätzen abwandern“, sagt Rainer Riess, Geschäftsführer der Frankfurter Wertpapierbörse.
Das deutsche Gesetz wurde im Vorfeld einer neuen EU-Verordnung zum Marktmissbrauch entworfen. Auch die europäische Finanzmarktrichtlinie Mifid, die Mitte 2014 erwartet wird, wird eine Regulierung des Hochfrequenzhandels enthalten. Aber egal, was die Europäische Union (EU) beschließt: Die Schweiz dürfte Schlupfloch bleiben, denn sie gehört nicht zur EU – und auch London, dessen City von den Händlern lebt, dürfte weiter kräftig mauern.
Jede Millisekunde bringt mehrere Millionen Dollar
Die Branche rüstet derweil weiter auf. Der Kabelverleger Hibernia Atlantic bereitet gerade zwei Schiffe auf eine Atlantikfahrt vor. An Bord sollen sie wertvolle Fracht tragen: gigantische Glasfaserkabel. Drei Monate soll es dauern, bis 4500 Kilometer neue Leitungen im Meer versenkt sind. Das Kabel soll Brean im britischen Somerset mit Halifax in Kanada verbinden.
Von dort laufen Kabel weiter bis an die Wall Street in New York. Superschnell sollen Finanzdaten ab September 2013 durch die neue Leitung schießen. Die Verbindung spart zwischen London und New York rund fünf Millisekunden. Wohl nirgendwo sonst auf der Welt bedeutet so wenig Zeit so viel Geld. Jede Millisekunde weniger kann einem Hochfrequenzhändler mehrere Millionen Dollar Zusatzgewinn bringen.
Die 300 Millionen Dollar Kosten des neuen Projekts will Hibernia Atlantic schnell wieder hereinholen, über bis zu 50 Mal höhere Gebühren. Zahlen sollen diese vor allem Investmentbanken und Hochfrequenzhändler. Die werden sich das locker leisten können.