Unternehmensanleihen mit guter Bonität gelten als vergleichsweise sichere Investments. Diesem Ruf werden sie allerdings momentan nicht gerecht. Wer sich Kurscharts anschaut, dem bietet sich ein geradezu verheerendes Bild: Europäische Unternehmensanleihen haben seit ihrem Rekordhoch Ende Juli vergangenen Jahres zehn Prozent an Wert verloren – einen tieferen Fall hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben, womöglich überhaupt noch nie. Und es könnte weiter abwärts gehen.
Auf europäische Unternehmensanleihen mit soliden Ratingnoten (Investment-Grade) wirkt momentan eine toxische Mischung: Die hohe Inflation macht Zinsanlagen generell unattraktiv. Gleichzeitig treiben das nahende Ende der Anleihekäufe durch die Europäische Zentralbank (EZB) und Konjunkturrisiken wie der Ukrainekrieg die Risikoaufschläge von Unternehmensanleihen in die Höhe. Das belastet die Kurse zusätzlich.
Nun kommt auch noch die immer konkretere Aussicht auf steigende Zinsen im Euroraum hinzu. EZB-Präsidentin Christine Lagarde bekräftigte am Mittwoch, dass der erste Zinsschritt „wenige Wochen“ nach dem Ende der Netto-Anleihekäufe erfolgen könne. Die Ankäufe neuer Staats- und Unternehmensanleihen durch die Notenbank sollen nach bisherigem Plan Anfang des dritten Quartals beendet werden. Immer mehr Anleger erwarten deshalb eine erste Zinsanhebung im Juli. Steigende Zinsen drücken die Kurse bereits emittierter Anleihen.
Schneller schlau: Inflation
Wenn die Preise für Dienstleistungen und Waren allgemein steigen – und nicht nur einzelne Produktpreise – so bezeichnet man dies als Inflation. Es bedeutet, dass Verbraucher sich heute für zehn Euro nur noch weniger kaufen können als gestern noch. Kurz gesagt: Der Wert des Geldes sinkt mit der Zeit.
Die Inflationsrate, auch Teuerungsrate genannt, gibt Auskunft darüber, wie hoch oder niedrig die Inflation derzeit ist.
Um die Inflationsrate zu bestimmen, werden sämtliche Waren und Dienstleistungen herangezogen, die von privaten Haushalten konsumiert bzw. genutzt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beschreibt das wie folgt: „Zur Berechnung der Inflation wird ein fiktiver Warenkorb zusammengestellt. Dieser Warenkorb enthält alle Waren und Dienstleistungen, die private Haushalte während eines Jahres konsumieren bzw. in Anspruch nehmen. Jedes Produkt in diesem Warenkorb hat einen Preis. Dieser kann sich mit der Zeit ändern. Die jährliche Inflationsrate ist der Preis des gesamten Warenkorbs in einem bestimmten Monat im Vergleich zum Preis des Warenkorbs im selben Monat des Vorjahrs.“
Eine Inflationsrate von unter zwei Prozent gilt vielen Experten als „schlecht“, da sie ein Zeichen für schwaches Wirtschaftswachstum sein kann. Auch für Sparer sind diese niedrigen Zinsen ein Problem. Die EZB strebt mittelfristig eine Inflation von zwei Prozent an.
Deutlich gestiegene Preise belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie können sich für ihr Geld weniger leisten. Der Privatkonsum ist jedoch eine wichtige Stütze der Konjunktur. Sinken die Konsumausgaben, schwächelt auch die Konjunkturentwicklung.
Von Disinflation spricht man, wenn die Geschwindigkeit der Preissteigerungen abnimmt – gemeint ist also eine Verminderung der Inflation, nicht aber ein sinkendes Preis-Niveau.
Der Dreifach-Hammer aus hoher Inflation, schwächelnder Konjunktur und anstehender Zinswende trifft Unternehmensanleihen mit besonderer Wucht. Der Grund: Die Kurse von Staatsanleihen hängen kaum vom Konjunkturausblick ab. Schuldtitel von Unternehmen mit schlechter Bonität (Hochzinsanleihen) haben wiederum einen größeren Zinspuffer, um Zinsanstiege abzufedern. Unternehmensanleihen vereinen jetzt das Schlechteste aus beiden Welten. Sie sind wegen ihrer niedrigen Risikoaufschläge anfälliger für Zinsänderungsrisiken als Hochzinsanleihen und reagieren stärker auf Konjunkturrisiken als sichere Staatsanleihen.
Für Neueinsteiger bei Bonds (die englische Bezeichnung für Anleihen wird auch hierzulande genutzt) sind Preisstürze eigentlich eine gute Nachricht: Je niedriger der Kaufpreis, desto höher die Rendite. Tatsächlich sehen einige Anlageprofis allmählich Kaufkurse. Brian Nick etwa, Chefanlagestratege bei Nuveen, weist darauf hin, dass sich die Fundamentaldaten vieler Unternehmen nicht verschlechtert hätten – der Ausverkauf sei maßgeblich von Inflation und Zinsangst getrieben. „Es ist vielleicht noch nicht an der Zeit, sich kopfüber in die längsten der langen Laufzeiten zu stürzen“, sagt er. Aber abschreiben sollten Anleger Anleiheinvestments auch nicht.
Kommt jetzt die Stagflation?
Unternehmensanleihen zu kaufen ist zum jetzigen Zeitpunkt allerdings aus mehreren Gründen riskant. Erstens reichen die Anleiherenditen, auch wenn sie kräftig gestiegen sind, längst nicht aus, um die Teuerung auszugleichen. Unternehmensanleihen guter Bonität aus dem Euroraum bringen derzeit etwas mehr als zwei Prozent Rendite pro Jahr. Die Inflation in Deutschland lag im April bei mehr als sieben Prozent.
Zweitens hängt das Szenario einer Stagflation wie ein Damoklesschwert über den Märkten – eine Rezession bei gleichzeitig hoher Inflation. Eine solche Entwicklung würde Unternehmensanleihen besonders hart treffen und dürfte auch die Ausfallraten bei Hochzinsanleihen in die Höhe treiben.
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Drittens bleibt die Geldpolitik ein kaum zu kalkulierendes Risiko. „Viele Anleger verkriechen sich gerade in kurzlaufenden Papieren“, so UBS-Analyst Kamil Amin gegenüber der Nachrichtenagentur Bloomberg. „Das große Risiko dabei ist, dass die EZB die Zinsen schneller anheben muss, weil die Inflation im Euroraum nicht sinkt.“ In diesem Fall würde die Zinsen von Anleihen mit kurzer Laufzeit unter Druck geraten. Ein Ausverkauf bei den Kurzläufern wäre die Folge.
Wer Unternehmensanleihen im Portfolio hat, kann jetzt nicht viel tun. Um Kursverluste zu begrenzen, ist es viel zu spät. Wer die Papiere bis zur Fälligkeit hält, bekommt immerhin den Nennwert zurückgezahlt und kann bis dahin Zinszahlungen vereinnahmen. Wer Anleihen oder Anteile an Anleihefonds mit Gewinn verkaufen wollte, kann auf eine Kurserholung warten. Es spricht allerdings wenig dafür, dass diese in absehbarer Zeit eintritt.
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