Ein Prozess, der sich nach dem gescheiterten Putsch in diesem Sommer nochmals beschleunigt. Reformen stagnieren schon, und es könnte schlimmer kommen: Bisher hatte die AKP immer einen wirtschaftsliberalen Flügel, aktuell um den Kurden und ehemaligen Merrill-Lynch-Mann Mehmet Şimşek. Dessen Einfluss aber schränkte Erdoğan bei seinem letzten Kabinettsumbau ein. Der Präsident fällt zudem eher durch wirtschaftlichen Dilettantismus auf. Von der unabhängigen Zentralbank fordert er, die Zinsen zu senken – obwohl angesichts der Inflation höhere Zinsen angebracht wären.
Und nicht nur rund 30.000 Menschen wurden seit dem Putschversuch verhaftet. Gerade erst wurde der Ausnahmezustand verlängert. Auch auf das Wirtschaftsleben hat die Jagd Auswirkungen. Über ein Dutzend Unternehmen wurden beschlagnahmt, darunter die Boydak-Holding, immerhin ein Fortune-500-Unternehmen. Die beschlagnahmten Unternehmen werden nun von einer Art Treuhand verwaltet. Auch wenn die direkten Folgen auf die türkische Wirtschaft gering sind, schaffen sie doch eine Atmosphäre des Misstrauens. Das wiederum schädigt das Geschäftsklima.
Die Gewalt eskaliert
Sollte Erdoğan weiter in das Wirtschaftsleben hineinfunken, wird er damit das für das Land so wichtige ausländische Kapital verschrecken. Viele Investmentfonds sind deswegen zunächst abwartend und momentan nicht in türkischen Aktien investiert: „Die im November und Dezember anstehenden Zinsentscheidungen der US-Notenbank Fed hängen wie ein Damoklesschwert über den Schwellenländern“, sagt Antonio Biondo von der BB-Wertpapier-Verwaltungsgesellschaft (BBWV) in Augsburg. Steigen die Zinsen in den USA, fließt das Kapital aus den Schwellenländern ab in sicherere Häfen. Mindestens ebenso große Probleme dürfte das Land bekommen, wenn Öl wieder anzieht – Preise oberhalb von 50 US-Dollar pro Barrel dürften die Inflation anheizen.
Zudem ist ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien nicht in Sicht. Die türkische Armee operiert nun auch in Syrien und im Nordirak. Erdoğan war bis vor einem Jahr auf einem guten Weg, den Kurdenkonflikt beizulegen. Jetzt aber eskalieren beide Seiten die Gewalt. Das Verhältnis zu Russland hat sich mittlerweile wieder entspannt, nachdem Erdoğan Putin für den Abschuss des Kampfflugzeugs im November um Entschuldigung gebeten hatte. Die Beziehungen zur EU und zu den USA aber haben seit dem niedergeschlagenen Putsch am 15. Juli stark gelitten. Das hat Auswirkungen auf den Tourismus und auf Investitionsentscheidungen europäischer Unternehmen.
Für Anleger heikel mit Chancen
All diese Faktoren machen die Türkei zu einem heiklen Investitionsstandort. Aber: Chancen entstehen dann, wenn sich die Situation positiver entwickelt als gemeinhin erwartet. Etwa wenn der Reformprozess der AKP wieder an Fahrt aufnimmt, was durchaus möglich ist. Denn Erdoğan verdankt seine Popularität vor allem dem Wirtschaftswachstum der Nullerjahre. Auch als Autokrat kann er es sich nicht leisten, seine Anhängerschaft zu verschrecken.