Die Nervosität wächst mit jedem Tag, an dem der Dax sich weiter der Marke von 8000 Punkten nähert. Zumindest bei vorsichtigen Anlegern wie Jürgen Dickemann. „An der 8000er-Klippe ist der Dax in den letzten zehn Jahren zweimal gescheitert und danach massiv eingebrochen“, warnt er. Der Investor managt zwei Spezialfonds für reiche Kunden einer Privatbank. Die lassen ihm freie Hand; er kann Aktien, Anleihen, Bargeld, Derivate mischen. Verluste macht Dickemann selten, und wenn, dann kleine. Das soll so bleiben. Zuletzt habe er daher kaum Aktien gekauft, sagt er. Dem bekennenden Antizykliker missfällt, dass im Moment „scheinbar alle für Aktien sind“. Die Erfahrung lehre: Wenn es erst mal so weit ist, dann ist das Beste an der Börse oft schon vorbei.
In der Tat schwindet bei vielen Anlegern derzeit das Unbehagen gegenüber der Börse rapide, die Risikobereitschaft steigt, und Aktien sind wieder gefragt. Seit dem Krisentief im März 2009 hat der Dax rund 115 Prozent zugelegt, stieg zuletzt auf den höchsten Stand seit fünf Jahren.
Nachhaltige Kurssteigerungen
Zum einen treibt die Erleichterung über ausgebliebene Katastrophen die Kurse: Seit die Europäische Zentralbank im Juni ankündigte, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen, ist die Euro-Krise im Bewusstsein der Börsianer vorerst entschärft. Die Renditen der Krisenländer-Anleihen sind gesunken, die Gefahr von Staatspleiten ist damit – vorerst – gebannt.
Aber kann pure Erleichterung für nachhaltige Kurssteigerungen sorgen? Stabiler scheint der zweite Faktor, der die Börsen befeuert: der Mangel an Alternativen. „Viele Aktien solider Konzerne mit stabilen Gewinnen sind zwar historisch gesehen auch nicht mehr ganz billig, im Vergleich zu Anleihen und Immobilien aber immer noch attraktiv. Sie bringen Dividendenrenditen von drei bis vier Prozent“, sagt Peter Reichel, Chef der Vermögensverwaltung bei Berenberg, „das ist das Doppelte der Umlaufrendite von Unternehmensanleihen mittlerer Laufzeit und drei Mal so viel wie zehnjährige deutsche Staatsanleihen.“
Hunger auf Rendite
Folge: Immer mehr wohlhabende Privat- und große institutionelle Anleger kehren an die Börse zurück. Andreas Beck, Leiter des Instituts für Vermögensaufbau, der Zehntausende von Depots analysiert, beobachtet, „dass mit der Fortdauer des Zinstiefs und Anlagenotstands die Anti-Aktien-Front weiter bröckelt“. Viele Anleger seien nach Rendite regelrecht „ausgehungert“, so Beck. Das betreffe wohlhabende Privatleute genauso wie die Manager von Versicherungen, Pensionsgeldern und Stiftungen.
Vergangene Woche erzählte der Manager einer Lebensversicherung stolz, dass er seine Aktienquote 2012 „fast verdoppelt“ habe – von 1,6 auf 2,8 Prozent. Immerhin.
Die Aktienrally aus Mangel an Alternativen könne „noch eine ganze Weile anhalten“, meint sogar der notorisch pessimistische Vermögensverwalter Joachim Paul Schäfer von PSM in München. „Viele institutionelle Anleger stehen Gewehr bei Fuß, sie warten auf einen Rücksetzer, um etwas günstiger reinzukommen, wollen aber die nächste Dividenden-Saison im April und Mai unbedingt mitmachen.“ Sollte der Rücksetzer ausbleiben, würden sie nervös.
„Viele waren schon 2012 nicht dabei, als der Dax kräftig zulegte, jetzt wollen sie unbedingt noch aufspringen“, sagt Hendrik Leber vom Fondsanbieter Acatis.
Droht da schon die nächste Blase? „Die Euro-Krise ist nur besänftigt, nicht behoben; ein Rückschlag ist daher jederzeit möglich“, sagt Reiner Sachs, Vorstand Shareholder Value AG. Doch auch er bleibt optimistisch: Durchaus denkbar sei zum Beispiel, „dass die Weltwirtschaft und damit die Unternehmensgewinne 2013 positiv überraschen und die vorausgelaufenen Kurse einholen“, so Sachs. Auch das wäre nicht das erste Mal, meint der Fondsmanager, „ex ante sind Haussen nie erkennbar“.
China und die Wachstumsdelle
Auch 1980, 1994 und 2003 entstanden langjährige Haussen aus damaliger Sicht quasi aus dem Nichts. Im Nachhinein stellte sich aber stets heraus, dass die Börse die sich abzeichnende Erholung der Umsätze und Gewinne der Unternehmen nur vorweggenommen hatte.
So könnte es auch diesmal laufen. Immer mehr deutet darauf hin, dass China seine Wachstumsdelle von 2012 überwindet und wieder zur Lokomotive der Weltwirtschaft werden könnte. „Auch die USA könnten positiv überraschen“, meint Sachs. Am Dienstag etwa meldete der zuvor verlustreiche Aluminiumkonzern Alcoa überraschend für das letzte Quartal schon wieder Gewinne.
Die richtige Strategie
Die Rally könnte weiterlaufen. Selbst vorsichtige Anleger wie Schäfer und Dickemann meinen, dass „ein paar gute Aktien in jedes Portfolio gehören“. Einem Anleger, der noch gar nicht investiert sei, würde Dickemann „jederzeit, auch heute, zu rund einem Viertel Aktienanteil am Gesamtportfolio raten, je nach Alter und Risikoneigung“. Für eher vorsichtige Anleger böten sich breit streuende Fonds an, meint Anlage-Verhaltensforscher Beck, „in die man häppchenweise, aber regelmäßig investiert, am besten über einen Sparplan“.
So entschärften die Anleger die schwierige Frage nach dem richtigen Timing: Wer regelmäßig investiert, etwa jeden Monat für ein paar Hundert Euro, kauft mal teuer, mal eher günstig. Immerhin umgeht er den verbreiteten Impuls, immer erst zu kaufen, wenn die Kurse schon seit einer Weile gestiegen sind. Genau das tun normalerweise 90 Prozent der Anleger, so Beck. „Das an sich verständliche Zögern und Zaudern kostet die meisten ihre Rendite.“
Besser: konstant investieren, unabhängig von der aktuellen Nachrichtenlage. Für den ersten Schritt sei es nie zu spät, meint Reichel: „Das Diskriminieren einer ganzen Anlageklasse ist immer falsch; man braucht zu jeder Zeit eine Mischung aus Bargeld, Gold, Anleihen und eben auch Aktien.“
Wer schon viele Aktien im Depot halte, sollte aber nicht ausgerechnet jetzt, nach mehr als 100 Prozent plus im Dax vom letzten Krisentief aus, auf breiter Front aufstocken. „Lieber auf einen Rücksetzer warten und dann an schwachen Börsentagen in mehreren Schritten Qualitätsaktien nachkaufen“, rät Reichel.
Fonds für den Einstieg
Wer große europäische Standardaktien im Paket kauft, kann das Risiko verringern, mit einzelnen Aktien falschzuliegen. Günstiger als aktiv gemanagte Fonds sind börsennotierte Index-Fonds, sogenannte ETFs. Der ETF Euro Stoxx 50 baut durch direkte Investments in die 50 größten Aktien aus Euro-Land den Verlauf des Index exakt nach.
In den vergangenen drei Monaten kletterte der Fonds so um 17 Prozent, genau wie der Index. Das zu tun geben alle ETF-Anbieter vor, doch nicht alle schaffen es. Die Dividenden der im Index enthaltenen Aktien werden ausgeschüttet; das bringt vier Prozent Jahresrendite obendrauf.
Als laufende Gebühren zieht der Fonds nur 0,16 Prozent pro Jahr vom Kurs ab. Die Spanne zwischen Kauf und Verkauf (Spread) ist mit weniger als 0,1 Prozent günstig. Der Fonds ist seit mehr als zehn Jahren auf dem Markt und zählt mit einem Volumen von 3,8 Milliarden Euro zu den Großen der Branche.
Nur wenige aktiv gemanagte Fonds schlagen den Vergleichsindex, sie kosten dafür etwas mehr als ein ETF, der einfach den Index nachbildet. Zu den derzeit besten zählt der Comgest Growth Europe. Er investiert in Papiere aus ganz Europa, meidet aber stark schwankende Werte.
Chemie, Industrie und Öl
Zu den langfristig kaufenswerten Einzelaktien gehört BASF. Der weltgrößte Chemiekonzern dürfte überproportional von einer Erholung der Weltwirtschaft profitieren. BASF ist stark in China und hat in den vergangenen Jahren große Teile seiner weltweiten Verbundproduktion in Asien aufgebaut, um nahe an der entstehenden Nachfrage zu produzieren.
Damit ist BASF der Prototyp des soliden westlichen Konzerns mit den Vorteilen hiesiger Bilanzierung und hohem Schwellenländeranteil am Umsatz. „Dieser Typ Aktie dürfte weiter profitieren, denn damit können sich Anleger indirekt am weiterhin überproportional steigenden Wachstum der Schwellenländer beteiligen, ohne sich dort direkt ins Abenteuer stürzen zu müssen“, sagt Sachs.
Der schwedisch-schweizerische Industriekonzern ABB ist weltweit stark im Geschäft mit dem Ausbau der Stromnetze und dem Trimmen von Industrieanlagen zu mehr Energieeffizienz. In der ersten Hälfte 2012 litt die Aktie stark unter der nachlassenden Dynamik der Weltkonjunktur. Langfristig sollte der Trend zur Energieverknappung und -teuerung aber anhalten. Elektrische Energie steigt von allen Energieformen weltweit seit Jahren am stärksten im Preis. ABB konnte zuletzt zahlreiche Aufträge aus Asien an Land ziehen. Zudem will sich das Management von der unrentablen Fotovoltaik trennen.
Die wichtigsten Fondstypen im Überblick
Wie der Name schon sagt, legen diese Investmentfonds in Aktien an. Aufgrund der breiten Anlagestreuung ist ein Investment in Aktienfonds weniger risikoreich als eine Direktanlage in Einzeltitel. Aktienfonds haben spezielle Anlageschwerpunkte – etwa bestimmte Branchen, Länder, Regionen oder Anlagestile.
Dieser Investmentfonds – auch Exchange Traded Funds (kurz ETF) genannt – bildet einen Index wie beispielsweise den Dax eins zu eins nach. Die Zusammensetzung dieses Fonds verändert sich nur, wenn sich die Zusammensetzung des zugrunde liegenden Index verändert. Deshalb spricht man von einem passiven Investment. ETFs können fortlaufend über die Börse gehandelt werden. Ihre Verwaltungsgebühren sind sehr gering, Ausgabeaufschläge wie bei „aktiv“ gemanagten Fonds entfallen.
Für die kurzfristige Anlage eignen sich vor allem Geldmarktfonds. Sie investieren in Geldmarktinstrumente wie beispielsweise Festgeld und kurz laufende, festverzinsliche Wertpapiere. Die Kursschwankungen dieser Fonds sind gering, die Renditeaussichten allerdings auch.
Offene Immobilienfonds legen das Geld der Anleger in Grundstücken, Erbbaurechten und Beteiligungen an Büro- und Geschäftsimmobilien an. Anleger profitieren von den Miet- und Zinseinnahmen sowie den Wertsteigerungen der Immobilien. Die Anzahl der ausgegebenen Anteile ist anders als bei geschlossenen Immobilienfonds nicht begrenzt.
Sogenannte Lebenszyklusfonds sind im Grunde Mischfonds mit einem bestimmten Anlageziel beziehungsweise -horizont. Die Lebenszyklusfonds haben eine feste Laufzeit, gegen Ende dieses Zeitraums – das können 20, 25 oder 30 Jahre sein – schichtet das Fondsmanagement schrittweise von Aktien in Anleihen um, um das Kapital und die angefallenen Kursgewinne zu sichern.
Diese Fonds legen in Aktien und Anleihen an. Der Fondsmanager kann so in stagnierenden oder fallenden Märkten verzinsliche Wertpapiere übergewichten, bei steigenden Akteinkursen den Anlageschwerpunkt aber wieder verlagern. Das Ziel: einen höheren Ertrag als reine Rentenfonds zu erzielen und beim Risiko niedriger als bei einem Aktienfonds zu liegen. Der typische Aktienanteil liegt zwischen 30 und 70 Prozent – je nach Geschmack der Anleger.
Rentenfonds investieren ausschließlich oder überwiegend in festverzinsliche Wertpapiere wie Pfandbriefe, Kommunalobligationen oder Länder- beziehungsweise Unternehmensanleihen. Da regelmäßig Erträge in Form von Zinszahlungen anfallen, bieten Rentenfonds in der Regel stetige Erträge.
Ein weiterer Trend, der anhalten dürfte und lukrative Investments verspricht, ist der steigende Energiebedarf der Schwellenländer. Zwar litt 2012 der Ölpreis, vor allem unter den neuen Fördertechniken in den USA, die dort zu einer veritablen Öl- und Gasschwemme führen. Sollte die bis vor Kurzem allgemein erwartete weltweite Konjunkturdelle 2013 aber ausbleiben und China wieder schneller wachsen, würde das auch den Ölpreis wieder antreiben. Wenn der Ölpreis 2013 steigt, sollte Royal Dutch/Shell dank seiner günstigen Bewertung überproportional zulegen.
Ende 2011 besaß Shell gesicherte Öl- und Gasreserven von 14 Milliarden Barrel (14 Milliarden mal 159 Liter) – 20 Prozent mehr als der US-Wettbewerber Chevron, der an der Börse genauso teuer ist. Bei einem einstelligen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) und fünf Prozent Dividendenrendite hält sich das Risiko in Grenzen.
Dünger, Handel und Stahl
Hans-Otto Trümper vom Düsseldorfer Vermögensverwalter GS&P sieht bei Agraraktien Potenzial. Die hätten im vergangenen Jahr gelitten, obwohl die langfristige Story – mehr Menschen, die mehr hochwertige Nahrung konsumieren – intakt sei. Chancen bietet der Düngemittelproduzent Yara. Anders als Wettbewerber K+S ist Yara nicht vom Kalidünger abhängig, auf den Landwirte notfalls einige Jahre verzichten können. Im vergangenen Jahr geriet K+S unter Druck, weil Bauern weniger Kali orderten und China den Preis drückte.
Yara hingegen verdient Geld vor allem mit Stickstoffdünger, der jedes Jahr aufs Feld gebracht werden muss. Zudem gelang den Norwegern im Dezember ein lukrativer Zukauf: Yara übernahm für 750 Millionen Dollar das brasilianische Düngemittelgeschäft des US-Agrarkonzerns Bunge. Den Deal finanzierte Yara aus dem freien Cash-Flow.
Wer etwas mehr riskieren möchte, kann auf bisher nicht von der Hausse erfasste Nachzügler setzen. Fraglos haben solche Aktienkäufe ein hohes Risiko, denn die Titel hinken nicht ohne Grund den Werten mit soliden Gewinnen, Bilanzen und Dividenden hinterher. „Dafür hätten sie einen Hebel, sollten sich die mittelfristig positiven Annahmen zur US- und China-Konjunktur bewahrheiten und der Risikoappetit der Anleger weiter steigen“, so Schäfer.
Die Supermarktkette Carrefour leidet wie fast alle französischen Aktien darunter, dass Investoren derzeit einen Bogen um das wachstumsschwache und verschuldete Land machen. Carrefour erzeugt jedoch mehr als 60 Prozent seiner Umsätze außerhalb Frankreichs und ist stark in Schwellenländern. Nach einem jahrelangen Ausverkauf an der Börse signalisiert der Kursverlauf eine Trendwende. Hintergrund könnte ein Strategiewechsel sein; das Management verabschiedet sich derzeit aus Ländern, in denen Carrefour nicht Marktführer ist, verkaufte zum Beispiel das Indonesien- und Malaysia-Geschäft; das soll der notorisch schwachen Gewinnmarge auf die Sprünge helfen. Gelingt dies, was durchaus realistisch ist, würde sich auch das derzeit relativ hohe KGV von rund 14 schnell verbessern.
Zu den heißesten Spekulationen im Dax gehören ThyssenKrupp. Eine Stabilisierung der Konjunktur käme dem zyklischen Stahlkocher natürlich zugute. Entscheidend ist aber, ob ThyssenKrupp seine Kapitallücken schließen kann, die von den Stahlwerken in Brasilien und den USA gerissen wurden. Wenn Thyssen das mithilfe von Beteiligungsverkäufen gelingt und die Konjunktur nicht wieder wegbricht, wird der Konzern überleben. Nun meldete der Konkurrent ArcelorMittal Interesse an den amerikanischen Stahlwerken an. Zunächst hieß es, die Inder wollten 3,5 Milliarden Dollar lockermachen. Ein konkretes Angebot liegt offenbar nur für das Werk in Alabama vor - über 1,5 Milliarden Dollar.
Gelingt Thyssen die Finanzwende, wäre das purer Zunder für die Aktie: Angesichts von gerade mal zehn Milliarden Euro Börsenwert bei möglichen 40 Milliarden Jahresumsatz ist das Potenzial enorm.