Börsenexperte Wolfgang Gerke „Die Brandwunden durch Wirecard werden nur langsam verheilen“

Die letzten tage von Wirecard im Dax sind gezählt. Quelle: dpa

Der Wirecard-Skandal gefährdet Deutschlands zarte Aktienkultur. Börsenexperte Wolfgang Gerke erklärt, was es braucht, um neues Vertrauen aufzubauen – und warum sich Anleger die Stimmung nicht vermiesen lassen dürfen.

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Das Dax-Drama hat ein Ende. Mittwochabend beschloss die Deutsche Börse den Rauswurf des Finanzdienstleisters Wirecard aus dem wichtigsten deutschen Leitindex. Durch eine Regelwerksänderung werden insolvente Unternehmen ab dem 19. August mit einer Frist von zwei Handelstagen aus den Dax-Auswahlindizes herausgenommen. Aber lässt sich der Image-Schaden für Dax und Aktien-Kultur so leicht kitten? Fragen an Wolfgang Gerke, den Präsidenten des Bayrischen Finanz Zentrums (BFZ) und Inhaber des Instituts für Finanz- und Börsenwesen Frankfurt/Nürnberg.

WirtschaftsWoche: Wirecards Tage im Dax scheinen gezählt. Die Deutsche Börse hat nun endgültig den Rauswurf entschieden noch vor der regulären Index-Überprüfung im September. Genügt das, um das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen?
Wolfgang Gerke: Nein. Erst wenn die Aktionäre Entschädigungen für ihre Verluste von den Schuldigen erhalten, werden sie aufatmen. Bei den großen Dax-Unternehmen haben die Anleger darauf vertraut, dass die Aufsichtsbehörde BaFin und die Wirtschaftsprüfer saubere Arbeit leisten. Was leider nicht der Fall war. Aktionäre können zwar auf Schadensersatz klagen, aber es wird voraussichtlich nicht viel bringen. Die Haftung der Wirtschaftsprüfer ist begrenzt. Eigentlich sollte zumindest der Staat das ausbaden – denn die BaFin hat offenbar versagt.

Das heißt, dem Wirecard-Nachfolger im Dax, den darin verbliebenen Unternehmen und der Börse insgesamt, wird künftig weniger Vertrauen geschenkt?
Das ist leider so. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Die Brandwunden durch Wirecard werden nur langsam verheilen. Auf dem Finanzmarkt bleibt die Luft erst einmal dünn.

Wie schlimm ist das Wirecard-Drama für das Ansehen von Aktien allgemein?
Der Einschnitt in die deutsche Aktienkultur ist tief. Wirecard sollte ursprünglich frischen Wind in den Dax bringen. Das schnell wachsende, international aktive Unternehmen schien für den Privatanleger all die Bestandteile mitgebracht zu haben, die er sich gewünscht hat. Vergeblich. Der Betrug bringt den gesamten Finanzmarkt ins Stottern. Auch wenn es schon einige Enttäuschungen in der Vergangenheit gegeben hat, ist das mit Abstand die größte – und kriminellste.

Unter anderem die WirtschaftsWoche hat schon lange vorher auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen. Viele Indizien sprachen gegen Wirecard. War das nicht genug?
Leider hat diese Medien keiner wirklich ernst genommen. Auch die „Financial Times“ berichtete über einen Betrugsverdacht. Da hätten die Augen offen sein sollen. Aber ein sehr spekulatives Papier von Wirecard zog viele Privatanleger an, da sie in diesem Moment eine Chance gesehen haben. Vorwürfe kann ich den Anlegern nicht machen. Sie investierten in ein hochgelobtes digitales Unternehmen – nichts Ungewöhnliches. Ich selbst habe auch der BaFin und den Wirtschaftsprüfern vertraut und den Journalisten misstraut. Für mich ist der Skandal genauso schockierend. Wirtschaftsprüfer und BaFin können sich jetzt nicht damit aus der Affäre ziehen, zu wenig Möglichkeiten für Untersuchungen gehabt zu haben. Sie hätten genügend Hinweise gehabt, um intensiver nachzuforschen.

Dabei galten die Deutschen schon vor diesem Desaster als Aktienmuffel.
Die Deutschen haben immer mehr Geschmack an Aktien gefunden. Ansteigende Unsicherheit um die Altersvorsorge brachte sie dazu. Doch die Börseneuphorie scheint nun eingefroren zu sein: Durch den Wirecard-Skandal können sie schnell wieder Aktienmuffel werden.

Abgesehen von Wirecard: Welche anderen Enttäuschungen gab es für die Aktienkultur noch?
Besonders die Interneteuphorie vor etwa 20 Jahren sorgte bei vielen Anlegern für Fehlanläufe – wie bei der Deutschen Telekom. Unkorrekte Angaben im Verkaufsprospekt führten zu enormen Kursverlusten der Anleger. In anderen Märkten gab es auch bereits ähnliche Skandale wie bei dem US-Energiekonzern Enron. Die Konsequenzen waren milliardenschwer. Trotzdem hat es Unternehmen wie Wirecard offensichtlich immer noch nicht aufgehalten.

Gibt es noch andere Gründe, warum die Aktienquote in Deutschland deutlich niedriger als in vielen anderen europäischen Ländern ausfällt?
Sicherlich spielt die funktionsfähige gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland eine Rolle für die geringere Aktienquote im Vergleich zu anderen Ländern. Ich sehe es jedoch als gewaltigen Fehler, Aktien zu meiden. Die Zinsen sind negativ, die betriebliche Altersvorsorge ist dramatisch gefährdet und die private Altersvorsorge bei einem Negativzins unrentabel. Der Bürger wird nicht drumherum kommen, längerfristig in Aktien zu investieren. Trotz des Vertrauensbruchs durch Wirecard. Der Anleger sollte nur wissen wie: Langfristig bieten Aktien höhere Renditechancen. Kurzfristig sind sie riskant – wenn zu wenig gestreut wird. Der deutsche Anleger muss lernen, über die Branchen und Länder noch stärker hinaus zu investieren. Dann kann ein Exit-reifes Unternehmens auch nicht so viel anrichten. Am wichtigsten ist aber: Kein Anleger sollte auf den richtigen Zeitpunkt warten – denn das ist ein Glücksspiel. Die bessere Alternative sind stetig bediente Aktien-Sparpläne.

Wie wird sich die Aktienquote entwickeln?
Neben dem Wirecard-Skandal beeinträchtigt die Coronakrise den deutschen Aktienmarkt zurzeit enorm. Unklare Perspektiven und schlechte Konjunkturaussichten halten die Anleger zurück. Da gehört schon Mut dazu, jetzt in Aktien zu investieren. Ich gehe davon aus, dass die Aktienquote langfristig aber auch bei deutschen Sparern steigen wird. Ansonsten kann die Altersvorsorge nicht mehr gesichert werden.

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Der Skandal um Wirecard war nur möglich, weil die Lobby der Wirtschaftsprüfer griffige Regeln bei Rotation und Haftung verhindert hat. Ein Eigentor.

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