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Quelle: Getty Images

Das britische Pfund wird zum Gradmesser für die Verhandlungen

Das hat es noch nie gegeben: Mit Großbritannien steht ein Land nach langem Hin und Her kurz vor dem EU-Austritt. Dennoch bleiben die Börsen merkwürdig ruhig. Woran liegt das?

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In den nächsten Tagen endet ein Prozess mit langjähriger Historie. Zum ersten Mal seit dem Vertrag von Lissabon verlässt ein Land die Europäische Union. Noch dazu ist es die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU – ein immenser Verlust.

Doch wie konnte es soweit kommen? Eigentlich muss man in das Jahr 2007 zurückgehen. Damals wurde der Vertrag von Lissabon abgeschlossen, der 2009 in Kraft trat und die EU weiterentwickeln sollte. Dieser Vertrag führte aber erstmalig die Möglichkeit ein, die europäische Union zu verlassen: Artikel 50 regelt den Austritt aus der EU. Davor war ein Austritt nicht vorgesehen.

Die Vertragsunterzeichner konnten damals nicht ahnen, dass sich diese Frage so schnell stellen würde. David Cameron aber, gestärkt von seinem Erfolg beim schottischen Referendum zum Verbleib im Vereinten Königreich, gab 2015 nach den Parlamentswahlen dem Druck der Populisten nach. Er setzte den Prozess für eine Volksabstimmung zum Brexit in Gang. Die Umfragen schienen zunächst eindeutig auf einen Verbleib zu deuten, aber dann bekam die Brexit-Kampagne überraschend ein politisch in der Öffentlichkeit geschätztes Gesicht: den ehemaligen Bürgermeister von London, Boris Johnson. Am 23. Juni 2016 entschieden sich 51,9 Prozent für Leave, David Cameron trat zurück und seine Nachfolgerin Theresa May ließ Ende März 2017 das Austrittsschreiben der EU zustellen, das die in den Lissaboner Verträgen niedergelegte Zweijahresfrist auslöste, an deren Ende Großbritannien aus der EU ausgestiegen wäre, also Ende März 2019.

Diese Frist wurde aber mehrfach verlängert, weil zunächst keine Einigkeit der britischen Regierung mit der EU, und dann im britischen Unterhaus über das Austrittsabkommen zu erzielen war. Geschichtlich konsequent ist nun, dass mit Boris Johnson die Persönlichkeit den Austritt als Premierminister vollzieht, die wie keine andere am Erfolg des Brexit-Referendums beteiligt war.

Warum reagieren die Kapitalmärkte trotzdem entspannt? Nun, am 31. Januar ändert sich wenig, was für die Kapitalmärkte relevant wäre. Kapitalmärkte sind keine politische oder moralische Institution, sie fokussieren auf Makrofaktoren, die die Preise und Werte von Assets betreffen. Ab 1. Februar ist das Vereinigte Königreich zwar offiziell kein Mitglied der EU mehr, aber es gibt eine Übergangsperiode („Transition Period“), die zumindest bis Ende 2020 gilt. In dieser Zeit bleiben die Binnenmarktregeln in Kraft, das Vereinigte Königreich bezahlt weiter seine Beiträge. Mit dem Abschluss des Austrittsabkommens wird aber in jedem Fall eine Unsicherheitskomponente wegfallen. Die Frage der Grenze Nordirland/Irland ist geregelt, auch die künftigen Zahlungen, die Rückfallposition ohne Handelsdeal auf WTO-Level, sowie die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien sind klar definiert.

Der für die Kapitalmärkte entscheidende Zeitpunkt ist im Moment der 31.12.2020. Denn die Übergangsphase muss genutzt werden, um die zukünftigen Beziehungen auszuhandeln (das sogenannte „Future Relationship“), ein Vertragswerk, das erst viele für die Kapitalmärkte essentiellen Details klären wird: Handelsverträge, Marktzugang für Banken und Finanzdienstleister, Mobilität von Arbeit und Kapital. Ein „No Deal“ im ursprünglichen Sinne wird es dabei nicht mehr geben. Ein „No Deal“ im Sinne eines fehlenden Freihandelsabkommens wird die Märkte aber erst beschäftigen, wenn es im vierten Quartal keine Fortschritte und/oder keine Maßnahmen zur Verlängerung der Übergangsperiode gibt. Vor dem vierten Quartal 2020 sind keine wirklichen Erfolgs- oder Misserfolgsmeldungen zu erwarten.

Gradmesser für Fort- oder aber Rückschritte in den Verhandlungen wird vor allem der Wechselkurs des britischen Pfundes zum Euro sein. Je vorteilhafter man sich in Blick auf einen Handelsdeal und eine enge Kooperation bewegt, desto besser für den Kurs des Pfundes und umgekehrt. Wahrscheinlich hätte sich die Erleichterung über den Abschluss des Austrittsabkommens in einem noch stärkeren Pfund niedergeschlagen. Doch Boris Johnson verpasste dem Unterhaus gleich in der ersten Lesung eine kalte Dusche, indem er eine Verlängerung der Übergangsperiode per Gesetzesergänzung ausschließen ließ und damit die Zweifel in der zeitlichen Machbarkeit eines umfangreichen Freihandelsabkommens säte. Das kann aber jederzeit geändert werden und Boris Johnson dürfte in dieser Frage wie sonst auch pragmatisch sein.

Also: Die Folgen des Brexit werden von den Kapitalmärkten erstmal in die zweite Reihe verbannt, im vierten Quartal wird das Thema aber akut. Die längerfristigen Konsequenzen des Brexit werden sicher keine Werbung für den europäischen Kapitalmarkt als Ganzes sein. Eine tiefere europäische Integration der EU mit einem der wichtigsten Kapitalmärkte, mit dem britischen, ist jetzt ausgeschlossen. Ein dezidiertes Niveau an Unsicherheit wird auch bezüglich der Frage bestehen bleiben, ob es einen nächsten Austrittskandidaten geben wird und wenn ja, wer das sein könnte. Europa verliert an Attraktivität.

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