Brexit-Votum, Anschlag in Nizza, Putsch in der Türkei Vor dem G20-Treffen häufen sich die Probleme

Für das G20-Treffen wird ein "Hauch von Depressionen" vorausgesagt. Das liegt nicht nur an Wachstumseinbußen, sondern an einer möglichen Währungsdebatte.

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Die G20-Minister befürchten durch den Brexit Wachstumseinbußen. Quelle: dpa

Der Problemberg auf dem Tisch der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) wird immer höher. Schon nach dem für viele unerwarteten Ja der Briten zum EU-Ausstieg sagte so mancher aus dem Teilnehmerkreis für das Treffen der G20-Finanzminister und Notenbankchefs am kommenden Wochenende im chinesischen Chengdu einen "Hauch von Depression" voraus.

Denn wovor so viele, nicht nur US-Präsident Barack Obama, im Vorfeld gewarnt haben, das droht jetzt ganz akut: Wachstumseinbußen auf breiter Front. Doch inzwischen gibt es weitere Gründe zur Nervosität. Anschläge wie in Nizza und der Putschversuch im G20-Land Türkei bedeuten vor allem eines: der Sack der Risiken, die auch die wirtschaftliche Entwicklung in der Welt gefährden, droht langsam zu bersten.

"Noch vor kurzem haben wir gedacht, wir schütteln das alles ab", jammert ein europäischer G20-Mann mit Blick auf die Euro-Krise, die lange nur einen Namen zu tragen schien: Griechenland. Nach den letzten Treffen freute sich der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble noch: "Europa hat als Krisenthema keine große Rolle gespielt." Das wird in Chengdu anders. Denn mit der Brexit-Entscheidung haben die Briten für Europa und die Welt eine Wundertüte geöffnet.

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Der neue Schatzkanzler Philip Hammond wird sich in China von seinen G20-Kollegen daher viele Fragen gefallen lassen müssen. Denn schließlich sind alle ihre Volkswirtschaften direkt oder indirekt vom Brexit berührt. Die anstehenden jahrelangen Scheidungsverhandlungen zwischen der EU und Großbritannien dürften jedenfalls für die internationale Wirtschaft und die Märkte viele Überraschungen bereit halten, die die Währungs- und Aktienkursen immer wieder kräftig schwanken lassen könnten.

Der IWF hat mit seiner jüngsten Prognose ein Ausrufezeichen gesetzt. Wenn alles gut läuft, könnten die Folgen auf globaler Ebene begrenzt bleiben – mit einer Wachstumsverlangsamung von einem Zehntel-Prozentpunkt oder minimal mehr. Für Europa, vor allem Großbritannien und Deutschland, dürfte der Dämpfer etwas stärker werden. Allerdings hat der Fonds auch pessimistischere Szenarien durchgerechnet. Danach wäre, wenn die Verhandlungen zwischen EU und Briten holprig verliefen, auch eine Nahezu-Halbierung des Wachstums in den Industrieländern 2017 nicht auszuschließen. Wie man das verhindern kann und wie man sich am besten wappnet, darüber werden die G20-Mächtigen in China reden.

Gesprächsbedarf bei Wechselkursen

Ein zweites Thema, über das die G20-Länder schon länger streiten, könnte durch die Aktualitäten in Chengdu erneut in den Vordergrund rücken: die Wechselkurs-Entwicklung mit den Aufwertungstendenzen beim Dollar und beim japanischen Yen. Wertverluste beim Pfund Sterling und beim Euro, wie sie sich nach der britischen EU-Entscheidung einstellten, könnten die Debatte anheizen, denn wessen Währung schwach ist, der hat es leichter im Export.

Daher hat US-Finanzminister Jack Lew jüngst in Berlin schon mal daran erinnert: einen Abwertungswettlauf, um den eigenen Handel zu befeuern, dürfe man sich international keinesfalls leisten. Jack Lew sieht jedenfalls Gesprächsbedarf – und die Japaner ohnehin.

Auch über Auswirkungen des Brexit auf die Geldpolitik in den USA und Europa dürfte nach Angaben eines Delegierten in Chengdu zu reden sein. Der Weg der US-Notenbank heraus aus den Niedrigstzinsen könnte jedenfalls dadurch noch etwas langsamer ausfallen, sagen Experten. Denn eine Zinserhöhung würde den Dollar noch weiter steigen lassen. Und eine erneute Lockerung der EU- oder der britischen Geldpolitik könnten das so labile Währungsgefüge in der Welt weiter ins Schwanken bringen.

Damit zusammenhängt auch das Dauerthema, wie das Wachstum der Weltwirtschaft dauerhafter und dynamischer werden kann. Kommt man hier nicht voran, so warnt nicht nur IWF-Chefökonom Maurice Obstfeld, droht nicht nur wirtschaftliche Talfahrt, sondern auch wachsende soziale Spannungen. Grundsätzlich, so die bisherige Lesart, sollen alle Instrumente von Geld-, Finanz- und Strukturpolitik dabei je nach Bedarf genutzt werden. Doch mahnt inzwischen selbst der IWF: Es ist Zeit, mehr über Strukturreformen nachzudenken. Wolfgang Schäuble, der sich lange als einsamer Rufer in der Wüste bei diesem Thema fühlte, wird sich freuen.

Es bleibt aber trotz allem nicht ausgeschlossen, dass in Chengdu ein Evergreen wieder als neuer Hit der Saison verkauft wird: die Forderung nach mehr staatlichen Ausgaben, notfalls auch auf Pump, und nach Konjunkturprogrammen, um dem Wachstum auf die Sprünge zu helfen. Als Vorsänger dieser Melodie hatte sich schon häufiger US-Finanzminister Jack Lew betätigt.

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