
Als „Cornern“ bezeichnet die Börsensprache die konzertierte Aktion eines oder mehrerer Großspekulanten mit dem Ziel, einen Engpass auf einem Markt zu erzeugen, um so den Preis diktieren zu können. Als Mario Draghi sich am 26. Juli 2012 in seiner berühmten Londoner Rede nicht an die Vorgaben seiner Redenschreiber hielt und erklärte, die Europäische Zentralbank (EZB) werde alles tun, um den Euro zu erhalten – „whatever it takes to preserve the euro“ –, erzielte er einen ähnlichen Effekt. Er löste einen Run in Europas Staatsanleihemärkte aus. Bei Spekulanten hat das für klingelnde Kassen gesorgt. Mit zehnjährigen spanischen und italienischen Staatsanleihen etwa ließen sich zwischenzeitlich 83 Prozent und 67 Prozent verdienen, dank Draghis Versprechen nahezu risikolos. Selbst mit zehnjährigen Bundesanleihen waren gut 20 Prozent drin.
Nie zuvor hatte eine Notenbank Banken, Hedgefonds und Großspekulanten, die blind auf steigende Kurse der Staatsanleihen setzen konnten, derart alimentiert. Die Risiken sind natürlich nicht verschwunden, sondern nur woanders gelandet - beim europäischen Steuerzahler. Am 17. April erreichte die Rendite für Bundesanleihen mit zehn Jahren Restlaufzeit bei 0,049 Prozent ein Allzeittief. Die Renditen von etwa einem Drittel aller europäischen Staatsschuldpapiere lagen zu diesem Zeitpunkt im negativen Bereich. Anleger bezahlen Regierungen fürs Schuldenmachen. So etwas gab es noch nie. Nur: Haben die Finanzminister tatsächlich geglaubt, dass diese paradiesischen Zustände von Dauer sein werden?
Wer von der Mini-Inflation profitiert - und wer nicht
Wer längerfristig gleichbleibende Einkommen wie Tarifgehälter, Renten oder Sozialleistungen bezieht, kann sich mehr für sein Geld leisten, wenn Preise kaum noch oder gar nicht mehr steigen. Das gilt auch für Menschen, die viel Geld auf der hohen Kante haben. Gleichzeitig bleibt bei Einkommens- und Lohnerhöhungen real - also nach Abzug der Teuerung - deutlich mehr Geld in den Taschen der Verbraucher, wenn die Inflation wie derzeit nahe null ist.
Wenn die Verbraucher mehr Geld zur Verfügung haben, etwa weil die Sprit- und Heizölpreise fallen, können sie sich mehr andere Waren leisten. Gleichzeitig profitieren Unternehmen von niedrigeren Einkaufspreisen wichtige Rohstoffe wie Öl: Ihre Kosten sinken.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Leitzins im Kampf gegen den mickrigen Preisauftrieb auf fast null Prozent gesenkt. Das drückt die Zinsen, die Banken von Privatleuten und Unternehmen für Kredite verlangen. So kommen etwa Immobilienkäufer derzeit so günstig wie nie an Geld. Nach Zahlen der FMH Finanzberatung sind Hypotheken mit zehn Jahren Laufzeit aktuell im Schnitt für 1,6 Prozent Zinsen zu haben. Vor einem Jahr lag das Niveau demnach noch bei 2,67 Prozent, vor fünf Jahren bei 4,19 Prozent. Auch Staaten können sich am Markt günstiger frisches Geld besorgen, das entlastet indirekt die Steuerzahler.
Vor allem die rasante Talfahrt der Ölpreise schiebt die deutsche Wirtschaft an. Nach Einschätzung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) werden Unternehmen und Verbraucher in diesem Jahr um 20 Milliarden Euro entlastet, wenn die Preise auf dem aktuellen Niveau verharren. Auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hat betont: „Diese Entwicklung wirkt ähnlich wie ein kleines Konjunkturprogramm.“
Verbraucher sind nicht nur Kreditnehmer, sondern auch Sparer. Durch das magere Zinsniveau ist mit Tagesgeld oder Sparkonto fast nichts mehr zu verdienen. Immerhin: Weil die Preise kaum steigen, unterscheiden sich nominale Renditen kaum noch von den realen. Wer fürs Alter vorsorgen will, muss entweder mehr Geld zurücklegen oder größere Risiken eingehen.
Was für die Kreditaufnahme gut ist, ist für ältere Verbindlichkeiten schlecht: Derzeit knabbert die Inflation die ausstehenden Schulden nämlich nicht weg. Das erschwert den Schuldenabbau und hemmt die wirtschaftliche Erholung, wie EZB-Vizepräsident Vítor Constâncio betont: „Wenn die Inflation sehr niedrig ist und das Wachstum ebenfalls, dann wird es immer schwieriger, diese Schulden zu bedienen.“
Die EZB sieht Preisstabilität bei einer Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent. Davon abrücken will die Notenbank nicht, wie Constâncio sagte: „Bei einem Inflationsziel von null Prozent ist die Gefahr hoch, dass die Wirtschaft in eine Deflation rutscht.“ Unter einer Deflation verstehen Ökonomen einen Teufelskreis aus sinkenden Preisen, steigenden Reallöhnen, niedrigeren Gewinnen und schrumpfender Nachfrage, weil Verbraucher und Unternehmen Anschaffungen und Investitionen aufschieben. Denn es könnte ja bald noch billiger werden. Die geringe Nachfrage kann weitere Preissenkungen zur Folge haben: Die Wirtschaft friert ein.
Wie schnell der EZB die Kontrolle über die Anleihemärkte entgleiten kann, zeigt sich jetzt. Bei Renditen nahe null und darunter springen ihr die Verbündeten von der Fahne. Am 21. April twitterte etwa US-Starinvestor Bill Gross, Wetten auf fallende Kurse zehnjähriger Bunds seien der Short des Lebens. Die einzige Frage sei das Timing, weil auf der Käuferseite die EZB stünde. Sie hat mit den Käufen im März angefangen und seither gut 100 Milliarden Euro in Staatspapiere gesteckt. Trotzdem schnellte die Bundrendite von ihrem Allzeittief auf zwischenzeitlich 0,777 Prozent nach oben. Die WirtschaftsWoche hatte diese scharfe Aufwärtsbewegung vorhergesagt (Heft 15/2015). Doch das war nur der Vorgeschmack auf das, was passiert, wenn sich die Marktkräfte zurückmelden.
Der Kampf der EZB gegen die Krise
Nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers öffnen die großen Zentralbanken die Geldschleusen, um mitten in der Panik an den Finanzmärkten die Geschäfte am Geldmarkt am Laufen zu halten.
Die wichtigsten Notenbanken der Welt senken gemeinsam die Zinsen - ein historischer Schritt.
Die EZB senkt ihren Leitzins überraschend um einen dreiviertel Prozentpunkt auf 2,5 Prozent. Es ist der größte Zinsschritt seit der Einführung des Euro.
Die EZB stellt den Banken der Euro-Zone erstmals für ein ganzes Jahr Liquidität zur Verfügung. Mehr als 1000 Banken rufen 442 Milliarden Euro ab.
Die EZB beginnt mit dem Ankauf von Anleihen Italiens und Spaniens. Beide Länder waren zuvor ins Visier der Märkte geraten.
Der neue EZB-Präsident Mario Draghi startet seine Amtszeit mit einem Paukenschlag und senkt den Leitzins auf 1,25 Prozent. Unter seinem Vorgänger Jean-Claude Trichet hatte die EZB den Schlüsselzins zuvor in zwei Schritten von einem auf 1,5 Prozent angehoben.
In einer koordinierten Aktion stellen die EZB, die amerikanische Fed sowie die Zentralbanken Kanadas, Japans, Großbritanniens und der Schweiz den von der Krise gebeutelten europäischen Banken Dollar zur Verfügung. Den Instituten fiel es zuvor schwer, sich Dollar-Kredite zu beschaffen - viele US-Investoren hatten ihnen aus Angst vor den Folgen der Schuldenkrise den Geldhahn zugedreht.
Die EZB senkt den Leitzins auf ein Prozent. Zudem werden die Refinanzierungsgeschäfte für die Banken angekündigt.
Die EZB stellt den Geschäftsbanken in zwei Tranchen zusammen mehr als eine Billion Euro an Liquidität zur Verfügung.
Die EZB senkt den Leitzins auf 0,75 Prozent. Sie kappt zudem den Einlagesatz auf null Prozent. Sie will damit die Institute ermuntern, mehr Geld an Unternehmen und Haushalte zu verleihen.
Draghi erklärt in einer mittlerweile berühmten Rede, die Zentralbank werde "alles tun, was nötig ist, um den Euro zu retten". Dieses Versprechen gilt bis heute vielen Experten als Wendepunkt in der Krise. Seitdem haben die Schwankungen an den Finanzmärkten deutlich abgenommen und die Länder können sich wieder günstiger verschulden.
Der EZB-Rat beschließt gegen den Widerstand der Bundesbank neue umfangreiche Staatsanleihenkäufe am Sekundärmarkt. Ziel des sogenannten OMT-Programms ist es, die Zukunft des Euro in der Schuldenkrise zu sichern. Tatsächlich wurden aber bis heute keine Anleihen aus dem Programm gekauft.
Die EZB senkt ihren Leitzins auf 0,25 Prozent. Als Grund nennt sie die Gefahr einer zu langen Periode zu niedriger Teuerungsraten - sie will also mit noch billigerem Geld verhindern, dass die Wirtschaft der Euro-Zone in einen Teufelskreis aus sinkenden Preisen und Investitionen gerät.
Die EZB senkt den Leitzins auf 0,15 Prozent. Erstmals ist zudem der Einlagesatz für Banken negativ. Das hat zur Folge, dass Institute, die lieber Geld bei der Notenbank parken als es an Unternehmen und Haushalte zu verleihen, künftig eine Strafgebühr von 0,1 Prozent zahlen müssen.
Die EZB senkt die Leitzinsen auf das Rekordtief von 0,05 Prozent. Sie will zudem mit zusätzlichen milliardenschweren Geldspritzen die schlappe Konjunktur in der Währungsunion anschieben und die für den Geschmack der Notenbank viel zu niedrige Inflation anheizen. Die EZB kündigte an, ab Oktober den Banken Kreditverbriefungen und auch Pfandbriefe abzukaufen.
Die EZB kündigt an, monatlich für 60 Milliarden Euro Staatsanleihen und andere Wertpapiere zu kaufen. Bis Herbst 2016 dürften auf diese Weise mehr als eine Billion Euro zusammenkommen.
Negative Zinsen und fast schon paranoide Deflationsängste, gepaart mit einem schwachen Euro, hatten für einen explosiven Mix an den Anleihemärkten gesorgt. Die Explosion ausgelöst hatten die scharfe Erholung des Ölpreises und sprunghaft steigende Inflationserwartungen. Gegenüber dem Tief im Januar verteuerte sich Rohöl der Sorte Brent um 50 Prozent. In den USA folgt einem Ölpreisanstieg um 50 Prozent binnen einen Jahres normalerweise ein Anstieg der Kerninflationsrate um 0,9 Prozentpunkte, sagt Deutsche-Bank-Ökonom Torsten Slok. Damit das passiert, muss der Ölpreis das erreichte Niveau nur halten. Für den Rest sorgt der Basiseffekt. Das von der US-Notenbank Fed gesetzte Inflationsziel von zwei Prozent wäre überschritten. Alle Welt ging bis zuletzt von einer Straffung der US-Geldpolitik aus und setzte auf einen starken Dollar. Doch mit Blick auf die jüngst durchwachsenen Konjunkturdaten ist eine Zinserhöhung in weite Ferne gerückt. Setzt sich die Dollar-Schwäche fort und bricht die chinesische Wirtschaft nicht komplett ein, dann stünden neben Rohöl wohl auch andere Industrierohstoffe vor einem Comeback. Das könnte die Inflationserwartungen zusätzlich befeuern.
In Deutschland könnte die Angst vor einem Aufflackern der Inflation besonders rasch um sich greifen. Sollte Inflation zum Problem werden, dann dürften sich die Anleihemärkte kaum von heute auf morgen beruhigen. Der Inflationszyklus könnte vielmehr für einen kaskadenartigen Crash-Verlauf sorgen. Die meisten Ökonomen und Anleger vertrauen auf die unbegrenzte Feuerkraft der EZB. Damit werde sie die Märkte schon wieder an die Kette legen. Machte die EZB aber weiter mit ihren Anleihekäufen oder erhöhte sie gar deren Volumen, dann verstärkte sie die Inflationserwartungen zusätzlich, weil sie das Geldangebot trotz steigender Preise weiter erhöht. Schießt die Inflationsrate dann über das von der EZB selbst gesetzte Ziel von zwei Prozent hinaus, hätte Draghi ein ernstes Glaubwürdigkeitsproblem. Er riskierte gar eine Vertrauenskrise. Alternative wäre ein Stopp der Anleihekäufe. Für die Regierungen der überschuldeten Euro-Staaten, zu denen auch Frankreich gehört, bedeutete dieser Stopp immens steigende Finanzierungskosten. Sie müssten höhere Zinsen zahlen. Weil das auch für Unternehmen gilt, haben sich auch die Risiken für die Aktienmärkte, die sich auf gut 1000 Milliarden Euro frischer Liquidität aus der Notenpresse der EZB verlassen hatten, extrem erhöht. Der Bondcrash von 1994, als die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen von fünf auch acht Prozent nach oben schossen, sorgte im Aktienindex S&P 500 für eine Korrektur um zehn Prozent.
In Europa steht weit mehr auf dem Spiel als nur eine Börsenkorrektur. Scheitert der Euro, scheitern Politikerkarrieren oder gar ganze Parteiensysteme. Eine gewagte Prognose? Kaum, ein Blick nach Griechenland genügt.