Finanzmarkt Derivate sind keine Zockerpapiere!

Dynamit-Stangen, die an beiden Enden brennen. Das sagt SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück über Derivate. Doch er liegt völlig falsch. Gerade Mittelständler sind auf komplexe Finanzprodukte angewiesen. Eine Gegenrede

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Christine Bortenlänger ist Chefin des Deutschen Aktieninstituts und war Geschäftsführerin der Börse München. Quelle: dpa

Derivate gelten vielen als Zockerpapiere. Zu Unrecht! Tatsächlich dienen diese Finanzprodukte großen und kleinen Unternehmen dazu, ihre Erträge langfristig stabil zu halten, etwa indem sie mit Hilfe von Derivaten ihre Währungs- oder Zinsrisiken absichern. Dies zu tun, wird den Unternehmen jedoch immer schwerer gemacht, da das Regulierungskorsett der Derivatemärkte seit dem Ausbruch der Finanzkrise immer enger geschnürt wird.

In Zeiten der Globalisierung hat dies Auswirkungen auf die deutsche Unternehmenswirklichkeit. Stellen wir uns als Beispiel ein mittelständisches Unternehmen mit Sitz in Baden-Württemberg vor. Dieses fiktive Unternehmen hat es dank jahrzehntelanger Tüftelei geschafft, Weltmarktführer für Verpackungsmaschinen zu werden. Der schwäbische Weltmarktführer erwirtschaftet rund 50 Prozent seiner Erträge außerhalb des Euroraums, produziert aber weiterhin vorwiegend in Deutschland und weist seine Erträge natürlich auch in Euro aus.

Käme es jetzt zu einem Verfall des US-Dollars würden sich die in Euro umgerechneten US-Erträge unseres Hidden Champions dramatisch verringern. Schnell könnten sich Währungsverluste in Größenordnungen ergeben, die die typische Umsatzrendite eines deutschen Industrieunternehmens übersteigen und damit den unternehmerischen Erfolg insgesamt gefährden.

Das effektive Management der Währungsrisiken insbesondere mit Derivaten ist in einer globalisierten Welt daher von geradezu lebenswichtiger Bedeutung für Industrieunternehmen. So könnte sich der schwäbische Maschinenbauer beispielsweise über ein einfaches Devisentermingeschäft gegen die Währungsrisiken des Dollarraums weitgehend absichern.

Aber auch in anderen Zusammenhängen sind Derivate unverzichtbarer Bestandteil der unternehmerischen Risikostrategie – etwa zur Planung und Steuerung der Rohstoffpreis- oder Finanzierungsrisiken. Derivate, die zur Absicherung von Grundgeschäften eingesetzt werden, sind also alles andere als „Spekulation“ auf den schnellen Gewinn. Ganz im Gegenteil mindern sie Risiken und erhöhen die Planungssicherheit im operativen Geschäft, da durch sie künftige Erträge stabilisiert werden.

Man denke nur daran, wie attraktiv das derzeitige Zinsniveau ist. Wenn sich Unternehmen dieses Niveau auch nur ansatzweise über ein Zinsderivat langfristig sichern können, stärken sie ihre Widerstandsfähigkeit im Markt auf Jahre hin.


Kaum ein Unternehmen kann auf Derivate verzichten

Es wundert daher auch nicht, dass derivative Finanzinstrumente bis hinein in den gehobenen Mittelstand eingesetzt werden. Dies hat eine Umfrage des Deutschen Aktieninstituts zusammen mit dem Verband Deutscher Treasurer unter Unternehmen unterschiedlicher Größenordnungen bestätigt: 80 Prozent der Umfrageteilnehmer nutzen derivative Instrumente zur Risikostreuung. Größere Unternehmen mit über 100 Millionen Euro Umsatz verwenden diese zu 95 Prozent; bei den kleineren Unternehmen, die unter dieser Umsatzgrenze liegen, ist es immerhin fast jedes zweite.

Um ihre Grundgeschäfte mit Blick auf Laufzeit, Volumen und Vertragskonditionen möglichst gut absichern zu können, benötigen die Unternehmen der Realwirtschaft allerdings maßgeschneiderte Produkte. Eine solche Flexibilität bieten regelmäßig nur Derivate, die bilateral zwischen dem betroffenen Unternehmen und im Regelfall einer Bank verhandelt und abgeschlossen werden. Solche Produkte heißen Over-the-Counter Derivate (OTC).

Gerade aber die OTC-Derivate sind in den Fokus der Kritik geraten. Sie gelten als intransparente Zockerpapiere und Mitverursacher der Finanzkrise. Dementsprechend ersinnen die Politiker Regel um Regel, um dem vermeintlich üblen Treiben auf den Finanzmärkten einen Riegel vorzuschieben. Neben der Erhöhung der Transparenz haben diese regulatorischen Initiativen das Ziel, die Nutzung der OTC-Derivate zu verteuern.

Auf die Belange der Unternehmen wird dabei häufig erst spät oder gar keine Rücksicht genommen. So hat es lange gedauert, bis die risikomindernden OTC-Derivate der Industrieunternehmen in der neuen EU-Derivateverordnung EMIR zum Beispiel von der Pflicht zur bilateralen Besicherung ihrer Derivatetransaktionen ausgenommen wurden. Ohne diese Ausnahmeregelung müssten die Unternehmen für jedes Derivat Bargeld oder liquide Wertpapiere als Sicherheiten bei ihrem Vertragspartner oder bei einer zentralen Clearingstelle hinterlegen. Diese Besicherung ist bislang nicht üblich und würde hohe liquide Mittel binden, die für andere produktivere Verwendungen im Unternehmen nicht mehr zur Verfügung stünden.

Die Ausnahme der EMIR ist ohne Frage vernünftig und richtig. Sie zeigt auch, dass es durchaus möglich ist, die Belange der Realwirtschaft im Gesetzgebungsprozess zu berücksichtigen - wenn der politische Wille dazu vorhanden ist.

Dieser Wille fehlt aber leider in anderen Regelwerken – jedenfalls noch. Besonders deutlich wird dies bei der Umsetzung von Basel III – also den viel gepriesenen, neuen Eigenkapitalregeln für Banken. Nach dem Vorschlag der EU-Kommission aus dem Juli 2011 sollen Banken insbesondere für OTC-Derivate künftig erheblich mehr regulatorisches, also von der Bankenaufsicht festgelegtes Eigenkapital vorhalten.

Dabei sind die Eigenkapitalanforderungen insgesamt schon deutlich gestiegen. Zukünftig soll zudem nicht nur der Ausfall einer Gegenpartei aus einem OTC-Derivategschäft mit Eigenkapital unterlegt werden, sondern auch das Risiko einer Kreditverschlechterung, dem so genannten Credit Value Adjustment Risk. Diese „Sonderbehandlung“ des Kreditausfallrisikos würde das notwendige regulatorische Eigenkapital nochmals um den Faktor 2 bis 3 steigen lassen.


Der Gesetzgeber ist gefragt

Dementsprechend würde sich, um noch einmal auf unseren Beispielsfall zurückzukommen, auch das Währungstermingeschäft des schwäbischen Mittelständlers deutlich verteuern. Denn die Banken können und wollen sicher nicht die Zusatzkosten tragen und werden diese deshalb an die Unternehmen weiterleiten. Außerdem werden sich Banken genau überlegen, welche Absicherungsinstrumente sie überhaupt noch anbieten.

Es entsteht damit die paradoxe Situation, dass gerade die in der EU-Derivateregulierung EMIR zu Recht von den Besicherungspflichten ausgenommen Geschäfte, unter Basel III – quasi durch die Hintertür – wieder mit erheblichen Zusatzkosten belastet werden.

Die Folgen dieser Regulierungsmaßnahmen sind abzusehen: Unternehmen werden sich verstärkt die Frage stellen müssen, ob sich Absicherungsgeschäfte überhaupt noch lohnen. Und selbst wenn dem so wäre, wird es für die betroffenen Unternehmen immer schwieriger werden, eine Bank zu finden, die das passende Derivat auch bereitstellt.
Der gesamtwirtschaftliche Effekt ist ebenso eindeutig: Die Unternehmen der Realwirtschaft werden Währungs-, Zins- und Rohstoffpreisrisiken verstärkt selbst tragen müssen. Die Erträge der Unternehmen werden dadurch stärker schwanken.

Die Lösung für dieses Dilemma liegt auf der Hand: Die Ausnahme aus der EMIR muss analog auch unter Basel III gelten. Konkret sollten Banken Eigenkapital für das Kreditausfallrisiko eines Unternehmens der Realwirtschaft nur dann vorhalten müssen, wenn die derivativen Instrumente der Unternehmen nicht der Absicherung ihrer Geschäfte dienen.

Damit wäre Konsistenz zwischen den Regelwerken hergestellt und die Unternehmen könnten ihr Risikomanagement in gewohnter Weise fortführen. Diese vom Deutschen Aktieninstitut vorgeschlagene Lösung wird übrigens vom Europäischen Parlament befürwortet. Die EU-Kommission und die nationale Regierungen zögern dagegen noch diesen Regelungsvorschlag mitzutragen.

Es muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass Derivate von Industrieunternehmen keine Zockerpapiere sind. Vielmehr dienen sie sowohl großen als auch kleineren Unternehmen zur Absicherung ihrer Existenzgrundlage. Umso wichtiger sind konsequente Ausnahmeregelungen in den Regulierungen, die diese Absicherungsfunktion anerkennen. Viel Zeit, dieser Absicherungsfunktion in der Umsetzung von Basel III noch Rechnung zu tragen, ist nicht mehr. Bis Ende des Jahres soll Basel III nämlich in europäisches Recht überführt werden. Es besteht also dringend Handlungsbedarf.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%