Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist bei der Erdgasversorgung Deutschlands weiter im Alarmmodus. Die Versorgung im bevorstehenden Winter sei eine ganz knappe Kalkulation. Habeck rechnet damit, dass die Erdgaspipeline Nordstream 1 wegen Wartungsarbeiten zeitweise ausfallen wird. Nur weil Deutschland bereit sei, höhere Preise auf dem Weltmarkt zu zahlen als andere Nachfrager, fließe weiter Erdgas.
Deutschland wird auch künftig zu Top-Preisen einkaufen müssen, damit die Gasspeicher ausreichend gefüllt sind, bevor die kalte Jahreszeit kommt. Momentan beträgt der Füllstand 60 Prozent. Mehr als 90 Prozent müssten es im Herbst sein. Bei vollen Speichern reicht der Vorrat für 2,5 Monate, also nicht für den kompletten Winter. Deshalb muss auch von November bis März weiter laufend Gas nach Deutschland geliefert werden.
Putin dreht den Gashahn zu
Die Situation ist so prekär, weil der russische Präsident Wladimir Putin wegen der Sanktionen des Westens den Hahn der Gas-Pipelines zudrehen lässt. Auf dem Weltmarkt russisches Erdgas zu ersetzen, ist nicht einfach. Denn ein Großteil der Gaslieferungen aus anderen Förderländern beruhen auf mehrjährigen Verträgen. Gasexporteure wie beispielsweise Norwegen sind an diese Verträge gebunden. Nur jener Teil der Gasproduktion, der nicht vertraglich bereits vergeben ist, lässt sich kurzfristig für den bevorstehenden Winter einkaufen. Je kurzfristiger Erdgas eingekauft wird, desto höher ist wiederum in der Regel der Preis.
Deutschland versucht, mehr Erdgas aus Norwegen und Katar zu ordern. Diese Exporteure sitzen derzeit am längeren Hebel. Sie können sich ihre Abnehmer quasi aussuchen und die Preise diktieren. Katar hat Wirtschaftsminister Habeck bereits signalisiert, dass es nur wenig Spielraum hat, um zusätzlich Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) nach Deutschland zu liefern. Vor allem Abnehmer aus Asien wie Japan haben sich einen Großteil der Erdgas-Produktion aus dem Emirat bereits gesichert.
Der Gaspreis bildet sowohl aktuelle Ereignisse wie den Ukrainekrieg ab als auch langfristige Trends wie die Globalisierung und die Energiewende. Zudem ist er in den gesamten Markt für Energierohstoffe eingebunden. Vor allem in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Preisbildung am Gasmarkt verändert. Bis vor rund einem Jahrzehnt reagierte der Erdgaspreis mit einer Verzögerung von drei bis sechs Monaten auf die Preisentwicklung bei Öl. Das lag an langfristigen Lieferverträgen. Viele dieser Verträge enthielten Klauseln, bei denen der Gaspreis an den Ölpreis geknüpft war. Zuletzt hat sich die Bindung des Gaspreises an den Ölpreis jedoch stark gelockert.
Diese Länder haben einen Alarm bei der Gaslieferung ausgesprochen
In Deutschland galt seit Ende März die Frühwarnstufe und damit die erste Eskalationsstufe des Notfallplans Gas. Dieser sieht als zweiten Schritt die Alarm- und als dritten die Notfallstufe vor. Am 23. Juni wurde die Alarmstufe ausgerufen.
Würde die dritte Stufe ausgerufen, würde die Bundesnetzagentur in den Markt eingreifen und entscheiden, ob und wieviel Gas an Haushalte, Industrie und Gewerbe geliefert werden.
Österreich hat wie Deutschland die Frühwarnstufe im Gas-Notfallplan ausgerufen. Die Alarmstufe zu erhöhen ist nach Angaben des Regulators E-Control derzeit nicht notwendig. „Im Moment ist es so, dass auch mit den reduzierten Mengen der Verbrauch gedeckt werden kann und auch eingespeichert werden kann pro Tag“, sagte Carola Millgramm, die Leiterin der Gasabteilung der E-Control, am 21. Juni der Nachrichtenagentur Reuters.
Betroffen von einer Drosselung seien die Gasflüsse über die Ostsee-Pipeline Nord Stream. Die Importe über den Gashub Baumgarten in Niederösterreich seien stabil, erklärte die Austrian Gas Grid Management (AGGM), die für das Management der internationalen Gastransitleitungen zuständig ist, in ihrem Lagebericht.
Die Niederlande befindet sich in der ersten Phase einer Gaskrise, warnte Energieminister Rob Jetten am 20. Juni. Russland hatte bereits im Mai die Lieferung von Gas gestoppt. Jetzt kurbelt das Land die Produktion der Kohlekraftwerke erneut an. Es gebe zwar noch keinerlei Engpässe. Doch durch Russlands Entscheidung, die Gaslieferungen in europäische Länder zu stoppen oder stark zu reduzieren, könne sich die Lage schnell verschlechtern. Der Minister rief Bürger und Betriebe dringend auf, so viel Energie wie möglich zu sparen.
Dänemark hat am 20. Juni eine Warnung ausgesprochen. Das Land erhält bereits kein Gas mehr aus Russland.
Schweden hat am 21. Juni für Teile des Landes die erste von drei Alarmstufen wegen möglicher Probleme bei der Gasversorgung aus Russland ausgerufen. Die Stufe gilt laut Energiebehörde für Landesteile im Westen und Süden Schwedens, um sich auf potenzielle Liefer-Unterbrechungen vorzubereiten.
Derzeit entwickelt sich der Gaspreis weitgehend unabhängig vom Ölpreis. Das hat zwei Gründe. Zum einen wird er inzwischen fast ausschließlich von den Handelsmärkten bestimmt. Ölpreisgebundene Lieferverträge zwischen Verkäufer und Käufer spielen kaum noch eine Rolle für die Preisentwicklung. Zum Vergleich: Vor etwa einem Jahrzehnt hing der Gaspreis zu 30 Prozent am Öl. Zum anderen gewinnt LNG an Bedeutung, und dessen Preis hängt vornehmlich an anderen Faktoren als dem Ölpreis.
Der Gasmarkt teilt sich in zwei Segmente: in Erdgas aus Pipelines und Flüssigerdgas, das per Schiff aus den Förderregionen transportiert wird. In der Regel ist Erdgas aus Pipelines günstiger, weil seine Transportkosten geringer sind. Flüssigerdgas muss beim Exporteur erst aufwendig runtergekühlt werden, um das Volumen zu verkleinern. Dieser Prozess ist energieintensiv und kostspielig. Erst danach kann das Flüssigerdgas über LNG-Terminals in spezielle Frachter gepumpt und verschifft werden. Für Erdgas aus Pipelines und LNG gibt es daher unterschiedliche Preise. Seit Russland seine Gaslieferungen weitgehend gestoppt hat, wächst die Bedeutung von Flüssigerdgas für Europa.
Erdgaspreis ist lokal
Anders als früher, erklärt Sven Jordan aus der Handelsabteilung des Gasunternehmens Wingas, spielten jetzt auch Ereignisse in den USA und China eine wichtige Rolle für den europäischen Gasmarkt. „Als vor einigen Wochen ein LNG-Terminal in den USA brannte, hat sich der Gaspreis in Europa deutlich nach oben bewegt.“ Umgekehrt sei der Preis gefallen, als in China durch den harten Lockdown der Gasverbrauch sank. Der Markt habe erwartet, dass dadurch LNG-Kapazitäten für andere Länder frei würden.
Wichtiges internationales Barometer für Erdgasmarkt ist der US-Börsenpreis Henry Hub Natural Gas. Er gibt an, wie teuer Erdgas ist, das in den USA am kommenden Tag ausgeliefert wird. An diesem Preis lässt sich der aktuelle Trend auf dem Gasmarkt gut ablesen. Zwischen dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine und Anfang Juni hat sich der Gaspreis mehr als verdoppelt. Danach gab er wieder um etwa ein Drittel nach. Letztlich ist der Börsenpreis Henry Hub Natural Gas von der Höhe her jedoch nur ein regionaler Preis.
Einen international einheitlichen Gaspreis gibt es nicht. Denn je nachdem, wo Erdgas gefördert und wohin es transportiert wird, entsteht ein anderer Preis. Besonders bei LNG sind die Preise je nach Transportweg sehr unterschiedlich. Flüssigerdgas, das aus den USA nach Europa transportiert wird, ist günstiger als LNG, das von Katar nach Japan verschifft wird. LNG, das an der Börse in Tokio gehandelt wird, notiert daher höher als das an der Strombörse Leipzig (EEX).
In Europa wird Erdgas physisch vor allem an der EEX gehandelt. Sie ist Europas größter Spotmarkt für Erdgas. Abnehmer können dort am Spotmarkt kurzfristige Kontrakte für Erdgas abschließen. Der Preis für solche Kontrakte richtet sich nach dem Lieferort (Hub). Das beispielsweise nach Deutschland gelieferte Erdgas kostet am Spotmarkt EEX derzeit 140 Euro je Megawattstunde. Im belgischen Zeebrügge sind es dagegen nur 129 Euro je Megawattstunde Erdgas.
Momentan rechnen die Händler an der EEX mit weiter steigenden Gaspreisen. Für Erdgas, das in fünf bis sechs Monaten nach Deutschland geliefert werden soll, sind derzeit 150 Euro je Megawattstunde zu zahlen. Erst bei Kontrakten, die über mehr als sechs Monate laufen, sinken die Gaspreise wieder.
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Neben dem physischen Markt für Erdgas gibt es auch einen finanziellen Markt. An ihm werden spezielle Papiere (Futures) gehandelt, mit denen sich Händler und Abnehmer gegen fallende oder steigende Preise absichern – ganz nach Interessenlage. Preissicherungsgeschäfte im Gashandel laufen über die EEX in Leipzig oder die ICE Endex in London. Diese Geschäfte werden in der Regel gegeneinander verrechnet, es wird kein Erdgas physisch geliefert.
Je volatiler der Markt für Erdgas ist, desto teurer wird es für Marktteilnehmer, sich gegen steigende oder fallende Gaspreise am physischen Markt abzusichern. An der EEX stieg der Preis für einen Erdgas-Future über ein Quartal im Voraus vom 13. Juni mit 94 auf zuletzt 143 Euro je Megawattstunde. Oft wetten Finanzinvestoren gegen die Absicherungsgeschäfte der Gashändler und deren Kunden. Durch die Gegenpositionen der Spekulanten bleibt der Markt für den finanziellen Gashandel liquide.
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