Der Rubel- und der Ölpreisverfall beherrschen die aktuellen Schlagzeilen, doch aus Anlegersicht bieten die weiteren absehbaren Folgen einen viel spannenderen Stoff. Um ihn gleich beim Namen zu nennen: Die seit Jahren anhaltende Jagd nach hohen Renditen wird Opfer fordern, deren Ausmaß wir uns heute noch nicht so richtig vorstellen mögen.
Mehr noch: Sie kann eine neue Finanzkrise auslösen, die wegen der allseitigen Verflechtung der Märkte mehr Potenzial zur Geldvernichtung birgt als die noch nicht überwundene bisherige.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Eine von mehreren fatalen Verflechtungen beginnt dort, wo Schwellenländer und ihre Konzerne sich mittels Anleihen in US-Dollar hoch verschuldet haben. Deren Dollaranleihen rentierten von vornherein höher als etwa amerikanische Staatsanleihen oder Unternehmensanleihen hoher Qualität, aber niedriger als zum Beispiel südamerikanische Anleihen in Peso oder Real oder eben russische Anleihen in Rubel.
Institutionelle Anleger nahmen daraufhin das scheinbar lukrative Angebot mit Freude an, indem sie am laufenden Band Dollar-Hochzinsfonds gründeten. Der Absatz solcher Fonds lief denn auch anfangs wie geschmiert, zumal hohe Zinszahlungen nicht lange auf sich warten ließen.
Ein Spiel mit Billionen
Der Konstruktionsfehler dabei bestand vor allem darin, dass die Wirtschaft in den Schwellenländern stark wachsen musste, damit Anleihezinsen und -tilgungen in Dollar finanzierbar blieben. Gab es nicht genug Wachstum, was Schluss mit der Finanzierung. Das heißt, es kam zu Staatspleiten. Besonders schlimm erwischte es Argentinien.
Was ist „Neurussland“?
In der Ostukraine haben prorussische Separatisten im Mai ihre „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu „Neurussland“ vereinigt. Auch Russlands Präsident Putin verwendete mehrfach diese Bezeichnung. Sie hat einen historischen Ursprung.
Mitte des 18. Jahrhunderts wurde ein Militärbezirk nördlich des Schwarzen Meeres so genannt. Neurussland reichte damals von Bessarabien (heute die Republik Moldau) bis zum Asowschen Meer. Zentrum war Krementschuk, etwa 300 Kilometer südöstlich von Kiew. Zur Zeit der Feldzüge gegen die Türken und das Krim-Khanat sollte die Ansiedlung russischer und ukrainischer Bauern sowie ausländischer Siedler das Grenzgebiet stabilisieren.
1764 bildete Zarin Katharina die Große das „Neurussische Gouvernement“. Nach der Eroberung der Krim verlor Neurussland seine strategische Bedeutung und wurde rund 20 Jahre nach der Gründung wieder aufgelöst. Zar Paul I. bildete 1796 erneut ein kurzlebiges Verwaltungsgebiet Neurussland um den Hauptort Noworossisk, dem heutigen Dnjepropetrowsk.
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ein russisches „Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien“ geschaffen. Von 1818 bis etwa 1880 wurden wieder ausländische Siedler angeworben. Auch aus deutschsprachigen Gebieten kamen viele Menschen in die Steppen Neurusslands. Die Dörfer dieser „Schwarzmeerdeutschen“ existierten bis zu den Deportationen in der Stalin-Zeit.
Jetzt heißt es fälschlicherweise, Russland sei an der Reihe. Die Südamerikaner behalfen sich seinerzeit mehr schlecht als recht, indem sie beispielsweise Weideland in Ackerflächen zum Sojaanbau umwandelten, um am Weltmarkt Devisenquellen zu erschließen – mit fragwürdigem Erfolg.
Und die Russen? Sie – egal, ob ihr Staat oder die Öl- und Gaskonzerne - haben zwar noch kein Gegenmittel gefunden, verfügen aber über genug wirtschaftliche Potenz (dazu gleich mehr). Derweil nutzen die USA jede Möglichkeit, ihnen zu schaden, nicht zuletzt, indem sie geschickt Europa in ihre Sanktionspolitik gegen Russland intensiv einbeziehen.
Russland wirtschaftet besser als die USA
Die Größenordnung, in der Schwellenländer einschließlich ihrer Konzerne Dollaranleihen bedienen müssen, ist nur vage zu erfassen. Es geht auf jeden Fall eher um Billionen als nur um Milliarden Dollar, die auf dem Spiel stehen. Die Ansteckungsgefahr ist besonders wegen der erwähnten Verflechtung groß.
Kann oder will ein Fondsmanager zum Beispiel keine Russland-Dollaranleihen verkaufen, weil deren Kurse gerade abgestürzt sind, versucht er es mit Anleihen aus China oder Brasilien, Südafrika oder Indonesien. Das wiederum dürfte zur Ansteckung der betreffenden Aktienmärkte führen. Und je nervöser die Fondsmanager deshalb werden, desto größer ist die Gefahr einer Kettenreaktion.
Das alles führt zu einem Nebeneffekt, der den USA gar nicht recht sein kann: Der Dollar bleibt stark, und das, obwohl seine fundamentale wirtschaftliche Basis eher schwach ist. Dadurch werden amerikanische Konzerne weniger wettbewerbsfähig. Und wenn US-Präsident Barack Obama mit seinen Sanktionen so wie bisher weiter macht, wird sich dieser Trend fortsetzen.
Was die schwache fundamentale Basis der USA angeht, sei hier nur Folker Hellmeyer zitiert, Chefanalyst der Bremer Landesbank mit internationaler Vernetzung. Er hat anhand der vom Internationalen Währungsfonds und von den Zentralbanken ermittelten Zahlen die volkswirtschaftlichen Daten Russlands und der USA gegenübergestellt und ist dabei zu höchst überraschenden Ergebnissen gekommen.
Staatsverschuldung in Prozent der Wirtschaftsleistung: Russland 13 Prozent, USA 108 Prozent
Haushaltssaldo in Prozent der Wirtschaftsleistung: Russland plus 1,5 Prozent, USA minus 5,5 Prozent
Handelsbilanz im vergangenen Monat: Russland plus 12 Milliarden Dollar, USA minus 43 Milliarden Dollar
Devisenreserven: Russland 420 Milliarden Dollar, USA 120 Milliarden Dollar
Die nächste Flucht ins Gold rückt näher
Dieser Vergleich der beiden Supermächte gibt zu denken. Und er straft die Auguren Lügen, die bereits jetzt mit dem Gedanken an einen Bankrott Russlands spielen, wie er sich im Jahr 1998 ereignet, den berüchtigten Hedgefonds LTCM und obendrein die Aktienkurse weltweit in die Tiefe gerissen hat.
Derzeit deutet gar nichts auf einen russischen Staatsbankrott hin, erst recht nicht der gerade angestellte Datenvergleich. Und um noch ein weiteres Gedankenspiel zu beenden, das gerüchteweise in die Medien gelangte: Russland wird kein Gold verkaufen, zumal die Reserven in den vergangenen Jahren gerade sukzessive aufgestockt wurden.
Die derzeitige russische Krise ist in erster Linie politisch bedingt. Es geht um die Ukraine, die der Westen sich – wenn schon nicht als neues Nato-Mitglied, dann doch wenigstens als EU-Anhängsel – soweit wie möglich einverleiben möchte. Es geht um Öl und andere Rohstoffe, an denen Russland besonders reich, aber wegen der Abhängigkeit von ihnen auch verletzlich ist, was der Westen unter Führung der USA zu seinen Gunsten auszunutzen versucht.
Es geht aber auch darum, die bereits erwähnte mögliche Kettenreaktion an den Finanzmärkten zu verhindern. Sie wird umso wahrscheinlicher, je mehr Druck der Westen auf Russland ausübt, je mehr Dollaranleihen der Schwellenländer dadurch indirekt in Mitleidenschaft gezogen werden und am Ende auch die Aktienkurse weltweit in die Tiefe reißen. Dann wird die nächste Flucht ins Gold einsetzen.