Die Januar-Inflationsrate in der Eurozone überraschte deutlich nach oben, die Jahresrate von über fünf Prozent wurde an den Märkten wie ein Schock wahrgenommen. Technisch bedingt (die Erhöhung der CO2-Abgaben sowie das Auslaufen der temporären Mehrwertsteuersenkung in Deutschland Anfang 2021) war eher ein Absinken der Jahresrate im Vergleich zu der vom Dezember erwartet worden. Nun könnte sich die EZB das ganze erste Halbjahr mit Inflationsraten gegenüber dem Vorjahr von über fünf Prozent konfrontiert sehen. Das lässt sich kaum noch als Inflation verkaufen, die nur vorübergehend und noch moderat über dem Zielwert der EZB liegt.
Aber die Sache ist nicht so einfach. Die EZB hat sich nach dem letzten Meeting zwar stärker hawkish, das heißt restriktiv positioniert, aber fast ausschließlich in der Q&A-Session der zugehörigen Medienkonferenz. Das im Vorhinein veröffentlichte Statement mit den geldpolitischen Entscheidungen hätte so eine Interpretation nicht zugelassen. Und die Folgewoche sah eine Reihe von Argumentationen, die eher einem Zurückrudern gegenüber einem Eindruck einer sich schnell verschärfenden Geldpolitik gleichkamen.
Ich befürchte, dass die EZB hier auch weiterhin keinen klaren Kurs halten wird. Insbesondere auch deswegen, weil der „Strategic Review“ durch die Ereignisse seitdem zumindest eine taktische Überholung bräuchte. Aber nach weniger als einem Jahr scheinen dazu noch nicht alle Mitglieder des EZB-Rates bereit zu sein.
Lesen Sie hier unseren Kommentar: Die EZB deutet die Möglichkeit für höhere Leitzinsen im späteren Verlauf des Jahres an. Doch das ist zu spät – Die EZB muss endlich raus aus ihrer Komfortzone!
Für die US-Notenbank Fed ist es einfacher, einen klaren Kurs zu halten, und das tut sie auch. Die Fed hatte in der Woche vor dem EZB-Meeting die Schrauben angezogen. Klar war, dass die Nettoanleiheläufe bis März auf Null heruntergefahren werden sollen, klar scheint, – geopolitische Störungen natürlich nicht eingerechnet – dass die Fed dann dieses Jahr mehrfach die Zinsen erhöhen wird und voraussichtlich schon zur Jahresmitte mit einem vorsichtigen Abbau ihrer Bilanz beginnen könnte. Die Fed startet dabei mit einer Leitzinsspanne von 0 bis 0,25 Prozent, während der Einlagesatz der EZB bei minus 0,5 Prozent verharrt. Der Strategic Review der EZB gibt in der aktuellen Situation für mich keine Antwort auf die Reaktionsfunktion der EZB in Bezug auf eine so weit überschießende Inflation.
Die zentrale Aufgabe der EZB ist Preisstabilität. Der Strategic Review unterstreicht diese Aufgabe, auch wenn er das zusätzliche Ziel der „Green ECB“ hervorhebt, und die EZB in ihren Statements immer wieder auch die guten Finanzkonditionen hervorhebt.
Bleiben wir genau bei diesem Ziel der Preisstabilität. Das Problem mit diesem Ziel ist, dass es nicht explizit von den Auftraggebern der EZB definiert war. Damit hat man im Wesentlichen der Institution selbst überlassen, dieses Ziel zu konkretisieren.
Seit Gründung der EZB würde ich drei Phasen unterscheiden. Die erste, seit der Gründung der EZB bis 2003, dann von 2003 bis zum Strategic Review Mitte 2021 und seitdem. Vereinfacht gesagt, verband die EZB mit Preisstabilität in der ersten Phase eine Inflation von unter zwei Prozent, dann eine von unter, aber nahe an zwei Prozent und seit vergangenem Jahr eine von zwei Prozent, wobei das Verfehlen des Inflationszieles explizit symmetrisch gesehen wird. Daraus eine höhere Toleranz für ein Abweichen der Inflation nach oben zu sehen, ist, denke ich, naheliegend.
Wichtig ist auch die Historie, die ich in die Entwicklung dieser Ziele interpretieren würde: Zunächst wurde eine Form der Kontinuität gegenüber der Bundesbank beschworen, dann versuchte man bei der Bekämpfung von absehbaren deflationären Risiken Spielraum zu gewinnen, und die neue Definition sendete ein Zeichen für einen noch größeren Freiheitsgrad der Notenbank in der Einschätzung der Lage. Dazu beigetragen hat sicher, dass, mit Ausnahme des Inflationsanstiegs, der aus dem Ölpreisanstieg 2008 resultierte, die Inflation in der Eurozone fast durchgehend unter der zwei-Prozent-Marke, die Risiken für eine disinflationäre Entwicklung aber immer wieder hoch waren.
Der Elefant im Raum wurde dabei nicht angesprochen, und lässt sich öffentlich auch schlecht ansprechen. Denn das Bestreben der Institution des Euro ist es, die Überlebensfähigkeit eben jenes Euro zu sichern. Wie sagte doch Mario Draghi Mitte 2012: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro.“ Dem trägt am ehesten das Betonen der EZB auf das Aufrechterhalten von „Favorable Financing Conditions“ Rechnung, weil das, auch in Zeiten der Inflation, die Rechtfertigung für Marktinterventionen legen kann. Die Märkte wissen, dass die EZB unverändert alles für die Erhaltung des Euro tun wird. Das bedeutet, der Härtetest steht uns jetzt bevor, denn die Märkte werden fragen, ob die EZB wirklich die Handlungsfähigkeit besitzt, die Inflation zu bekämpfen.