Gewinnprognosen an der Börse „Gar nichts sagen ist die schlechteste Lösung“

Börse: Prognosen zur Geschäftsentwicklung sind in der Coronakrise noch problematischer als in normalen Zeiten. Unternehmen sollten Szenarien kommunizieren, fordern Ökonomen. Quelle: imago images

Die Ökonomen Thorsten Sellhorn und Maximilian Müller forschen zur Unternehmenstransparenz am Kapitalmarkt. Sie fordern zum Auftakt der Quartalssaison, dass sich börsennotierte Unternehmen auch in Corona-Zeiten nicht verstecken und ihre Aktionäre ausreichend informieren.

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WirtschaftsWoche: Herr Müller, Herr Sellhorn, Sie beschäftigen sich intensiv mit den Veröffentlichungen von börsennotierten Unternehmen. Gibt es da aktuell starke Veränderungen?
Maximilian Müller: Ja, eindeutig. Wir sehen eine deutliche höhere Frequenz an Veröffentlichungen als sonst zwischen zwei Quartalsstichtagen. Auch Unternehmen, die von der Coronakrise nicht so stark betroffen sind, kommunizieren mehr als sonst.

Wie ist die Qualität der Prognosen?
Müller: Die ist sehr unterschiedlich. Die Deutsche Post etwa gibt praktisch gar keine Prognose ab, SAP dagegen bleibt sehr konkret. Andere arbeiten mit Szenarien. Beim britischen Lebensmittelhändler Tesco etwa wurde den Investoren recht detailliert dargelegt, welches Szenario welche Konsequenz für Umsatz und Gewinn hat. Klar ist: Das stoische Festhalten an veralteten, vor Corona erstellten Prognosen verlagert das Problem nur.

Maximilian Müller (links) ist Associate Professor für Accounting an der ESMT European School of Management and Technology Berlin und Mitglied beim dortigen Center for Financial Reporting and Auditing. Thorsten Sellhorn (rechts) ist Leiter des Instituts für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Quelle: PR

Was wäre denn aus Anlegersicht am besten?
Thorsten Sellhorn: Nun, eine nach möglichen Szenarien differenzierte Prognose ist derzeit gegenüber dem Hinweis, man könne nichts sagen, klar zu bevorzugen. In Analystenkonferenzen wird gerade begrüßt, wenn Unternehmen mit Szenarien arbeiten und dabei Wahrscheinlichkeiten angeben. Dies bedingt Intervallprognosen. Wer ehrlich ist, weiß doch, dass es eine Punktlandung schon unter normalen Umständen gar nicht geben kann. In der aktuellen Situation wissen das auch Investoren. Wir sehen dafür auch eine steigende Akzeptanz am Markt. Das ist eine spannende Entwicklung, die über die Coronazeit hinausreichen könnte. Die Frage, ob ein Intervall nicht zuverlässiger und eigentlich auch präziser ist als eine punktgenaue Prognose, wird Unternehmen auch danach noch beschäftigen. Eine gewisse Bandbreite in einer Prognose ist in jedem Falle ehrlicher. Punktprognosen vermitteln allenfalls eine Scheingenauigkeit – besonders zurzeit.
Müller: Mit Szenarien gewähren Unternehmen in gewisser Weise auch einen Blick hinter den Vorhang, der normalerweise wegen der mithörenden Konkurrenz nicht gewährt wird. Anleger erfahren mehr, was sich gerade, fast schon tagesaktuell tut oder noch passieren könnte, welche Auswirkungen Corona je nach Änderung der Lage auf die Finanzen der Unternehmen hat.

Und was passiert, wenn die Unsicherheit angeblich oder tatsächlich zu hoch ist?
Sellhorn: Bleiben diese Informationen aus, ist Skepsis die Folge. Das Argument, angesichts der Unsicherheit lieber ganz auf einen Ausblick auf Corona-Szenarien verzichten zu wollen, wird am Kapitalmarkt nicht goutiert. Da Unternehmen und Analysten derzeit in Sachen Prognoseunsicherheit in einem Boot sitzen, dürfte der Kapitalmarkt die Unternehmen aber auch weniger als in normalen Zeiten abstrafen, wenn sie ihre unter größter Unsicherheit abgegebenen Prognosen verfehlen sollten. Wer sein Bestes versucht, transparent kommuniziert und seine Guidance bei neuen Fakten regelmäßig aktualisiert, stößt derzeit auf Wohlwollen. Dass bald alle Unternehmen, wie jüngst Tui oder Puma, ihre Prognosen werden korrigieren müssen – in normalen Zeiten verpönt – wird in nächster Zeit zur Normalität werden.

Welche Entwicklungen erwarten Sie noch?
Sellhorn: Es läge für krisengeschüttelte Unternehmen nahe, in den Quartalsmeldungen zum ersten Quartal eine neue Spielart der beliebten „Non-GAAP Earnings“ zu kreieren. Ein „Ergebnis (je Aktie) vor Corona“ könnte Corona-bedingte Einmaleffekte aussondern und so einen Blick auf die nachhaltige Substanz eröffnen. Spannend ist, welche Unternehmen ein solches ausweisen – und ob nur um Aufwendungen oder auch um Mehrerträge durch Corona adjustiert wird.

Wo gibt es Probleme?
Müller: Einerseits dauert es bei deutschen Unternehmen im internationalen Vergleich relativ lange, bis Zahlen zum letzten Quartal kommen. Wegen der aktuell hohen Änderungsdynamik wäre es zu begrüßen, hier schneller zu berichten, damit der Ausblick stringenter vor dem Hintergrund vergangener, aber nicht veralteter Quartalszahlen erfolgt. Andererseits sehe ich vor allem Probleme für die Privatanleger. Mal wird per Ad-hoc-Mitteilung berichtet, mal über die Investor-Relations-Abteilung, oft erfährt man wichtiges aber auch nur, wenn man an einem Analysten-Call teilnimmt. Fragt sich, wer an die dort verteilten Informationen rankommt.

Sollte nicht der Aktionär als Anteilseigner des Unternehmens die Infos zuerst bekommen?
Müller: Ja, eigentlich schon. Heute bekommt sie aber indirekt der Algorithmus zuerst, der auf dieser Basis Aktien in Sekundenschnelle kauft oder verkauft. Selbst aus dem Analystencall werden veränderte Einschätzungen umgehend in Kursreaktionen umgesetzt – per Computer.

Wir sehen vor allem Prognoseänderungen für Umsatz und Gewinn. Was ist mit der Bilanz?
Sellhorn: Nun, in den aktuellen Quartalsberichten könnte es Hinweise auf Vermögensabwertungen geben. Sehen Unternehmen die aktuelle Krise aber als vorübergehend ohne nachhaltige Eintrübung, dann könnte die Bilanz unverändert bleiben. Hinweise dazu finden sich schon in den Nachtragsberichten zu den Bilanzen 2019. Ein konkretes Beispiel: Für die vorläufigen Zahlen von HeidelbergCement am 18. Februar spielte das Virus nur kurz in Bezug auf China eine Rolle. Bei Vorlage des 2019er Konzernabschlusses mit nahezu unveränderten Zahlen einen Monat später war die Pandemie dann bereits das beherrschende Thema.

Müller: Bei den US-Banken etwa haben wir aktuell schon massive Änderungen gesehen. Die Rückstellungen für faule Kredite sind um Milliarden nach oben gegangen und haben die Quartalsgewinne massiv gedrückt, so bei JP Morgan, Wells Fargo oder Bank of America beispielsweise.

Gibt es da nicht Druck auf europäische Banken, ähnlich zu agieren?
Müller: Davon sollte man ausgehen.

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Bereits Mitte März rief die WirtschaftsWoche das krisenfeste Depot ins Leben und seitdem nahezu täglich über dessen Entwicklung berichtet. Die ausgesuchten Aktien im Portfolio haben dem Coronacrash an der Börse erfolgreich getrotzt, zuletzt mit der Aktie des Biotechnologie-Unternehmens Gilead.

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