Intelligent Investieren
Börse: Warum Sie der Charttechnik nicht trauen sollten Quelle: imago images

Trauen Sie der Technischen Analyse nicht

Thorsten Polleit
Thorsten Polleit Chefvolkswirt der Degussa

Die Technische Analyse ist zwar beliebt und weit verbreitet bei Aktieninvestoren. Es gibt jedoch gute Gründe - und nicht an den Haaren herbeigezogene Vorbehalte -, von der Verwendung der Technischen Analyse als Investitionsgrundlage abzuraten.

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Vermutlich ist kaum ein Investor davor gefeit: Man richtet den Blick auf Charts, die vergangene Kursverläufe von Aktien, Anleihen, Devisen und Rohstoffen zeigen, um – ja, um was eigentlich zu erkennen? Recht unverfänglich ist ein solcher Blick, wenn man sich nur einen Übersicht über die historischen Preisnotierungen verschaffen will: Wie hat sich der Aktienkurs in den letzten Jahren entwickelt, ist er gestiegen oder gefallen? Hat er dabei stark geschwankt? Doch dabei bleibt es meist nicht. Im Kopf des Betrachters beginnt es unweigerlich zu arbeiten. Das was war, wird in die Zukunft projiziert. Und das ist problematisch.

Wenn man aus historischen Kursen auf die Zukunft schließen will, betreibt man „Technische Analyse“. Sie geht zurück auf Charles H. Dow (1851 – 1902), den Gründer des "The Wall Street Journal" und der "Dow Jones Company". Dows ursprüngliche Idee war es, die Börsengeschehnisse nicht anhand von Zahlen darzustellen, sondern sie zur besseren Erfassung anhand von Diagrammen („Charts“) zu illustrieren. Daraus entwickelte sich nachfolgend die Dow Theory. Ihre Vertreter meinten, mit ihr ließen sich Entwicklungstrends des Gesamtaktienmarktes wie auch einzelner Aktien erschließen.

Heute spricht man also meist von Technischer Analyse, und sie erfreut sich großer Beliebtheit. Professionelle Händler greifen auf sie zurück, und in Anlegermagazinen fehlt nie eine Rubrik mit reichlich linierten Chart-Analysen. So mancher Investor macht seine Kauf- oder Verkaufsentscheidung vom Blick auf Charts abhängig: Ob der Aktienkurs sich noch im „Trendkanal“ befindet oder nach unten oder oben „ausbricht“; ob der Kurstrend sich „bestätigt“; oder ob er gegen „Widerstände stößt“. Doch was ist von der Technischen Analyse zu halten – ungeachtet ihrer Popularität und großen Verbreitung?

Einiges, so mag man zunächst denken. Denn je mehr sich von ihr leiten lassen, desto wahrscheinlicher entsteht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Der Kursanstieg auf dem Aktienmarkt lockt weitere Anleger an, deren Käufe die Kurse noch weiter in die Höhe treiben. Und natürlich können auch Kursverluste sich selbst verstärken, wenn die Technische Analyse der Kompass der Anleger ist. Doch selbst wenn das so wäre, böte das noch keine Grundlage, um gute Investitionsentscheidungen treffen zu können. Denn mit der Technischen Analyse begibt man sich in das Minenfeld des „Market-Timing“.

Wie so mancher Anleger aus eigener Erfahrung weiß, ist das Motto „Oben verkaufen und unten kaufen“ leichter gesagt als erfolgreich umgesetzt. Den meisten gelingt es nicht. Wer auf so ein chart-basiertes Market-Timing setzt, läuft sogar Gefahr, schlechter abzuschneiden, als wenn er eine „Kaufen-und-behalten“-Strategie verfolgt. Warum? Eine Erklärung dafür liefern die Vertreter der „modernen Finanzmarkttheorie“ (oder: „Modern Portfolio Theory“). Sie meinen, der Finanzmarkt zeichnet sich zumindest durch eine „schwache Informationseffizienz“ aus.

Keine Überrendite mithilfe Technischer Analyse

Damit ist gemeint, dass alle historisch bekannten und relevanten Informationen bereits in den heutigen Börsenkursen enthalten sind. Und wenn das der Fall ist, dann bringt es natürlich nichts, historische Aktienkurse zu studieren. Schließlich ist alles, was die vergangene Kursentwicklung zur Erklärung der künftigen Kursentwicklung beitragen könnte, bereits im gegenwärtigen Kurs enthalten – und letzterer ist daher der „beste Schätzer“ für die Zukunftskurse. Die Technische Analyse kann also nicht dazu verhelfen, Überrenditen zu erzielen – Renditen, die höher sind als die Renditen des Gesamtmarktes.

Nun ist allerdings die moderne Finanzmarktheorie selbst nicht unangreifbar; vielmehr ist sie in ihren Aussagen mehr als fragwürdig. Deshalb soll eine weitere Kritik an der Technischen Analyse zur Sprache kommen. Sie speist sich aus folgender Überlegung: Sollte es wirklich bestimmte feststellbare Kursmuster geben, die Prognosekraft für die künftigen Kurse haben, so würden Händler das früher oder später erkennen und für ihre Gewinnziele ausnutzen. Die Folge wäre: Ein bisher beobachtbarer Zusammenhang zwischen historischem Kursmuster und künftiger Kursentwicklung würde zusammenbrechen.

Zweifelhafte Prognose menschlichen Handelns

Dass das so sein sollte, erscheint durchaus plausibel: Schließlich tummeln sich auf den Aktienmärkten viele Millionen Teilnehmer, und nicht wenige von ihnen mühen sich redlich ab, besser als der Rest abzuschneiden. Die Vermutung, dass dabei eine im Prinzip allen zugängliche „Überrenditeformel“ lange unentdeckt und ungenutzt bleibt, ist da in der Tat recht unwahrscheinlich.

Wen das alles immer noch nicht überzeugt, der sei auf eine Überlegung verwiesen, die eine wirklich hieb- und stichfeste Begründung liefert, warum sich aus vergangenen Kursbewegungen keine verlässlichen Kursprognosen ableiten lassen.

Sie erschließt sich, wenn man sich vor Augen führt, dass sich das Börsengeschehen mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht begreifbar machen lässt. Warum ist das so? In der Naturwissenschaft (insbesondere in ihrer Königsdisziplin Physik) lassen sich durch Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten, das heißt konstante Ursache-Wirkungsbeziehungen, erkunden gemäß der Form „Wenn A, dann B“ oder „Wenn A um x Prozent steigt, verändert sich B um y Prozent“. (Umsichtige Forscher sprechen heutzutage von „Hypothesen“ oder „Modellen“, eine Folge des modernen Wissenschaftsverständnisses).

Im Bereich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften lassen sich jedoch aus historischen Geschehnissen keine verlässlichen Verhaltenskonstanten ermitteln. Handelnde Menschen – und um die geht es hier – verfolgen Ziele, haben Vorlieben und wählen zwischen Alternativen. Sie sind – und das kann man ihnen nicht widerspruchsfrei absprechen – lernfähig. Wer sagt „Der Mensch ist nicht lernfähig“, der begeht einen Selbstwiderspruch, weil er mit dem Gesagten voraussetzt (gegenüber sich selbst oder Gesprächspartnern), dass man das Konzept „Lernen“ versteht – dass man also gelernt hat zu lernen. Und wer sagt: „Der Mensch kann lernen, dass er nicht lernen kann“, begeht einen offenen Widerspruch.

Der voranstehende Gedankengang mag etwas weit hergeholt zu sein, doch er ist es nicht. Denn er legt offen, was ansonsten nicht so ohne weiteres erkennbar ist: Wenn Menschen unbestreitbar als lernfähig aufzufassen sind, dann lässt sich aus logischen Gründen nicht schon heute sagen, wie sie künftig auf bestimmte Einflussfaktoren handeln werden. Und daher lassen sich auch aus vergangenen Handlungen – oder deren Niederschlag in Form von zum Beispiel Kursmustern an den Börsen – keine systematischen Rückschlüsse auf künftige Kursentwicklungen ziehen.

Systematische Alternative: Wert statt Kurs im Blick

Wenn aber die Technische Analyse nicht Auskunft über die künftige Kursentwicklung geben kann, welche bessere Alternative hat der Investor? Eine verlässliche, vielfach erprobte Vorgehensweise lautet: Richte Dich nach dem “Preis versus Wert”. Investieren ist dann sinnvoll, wenn Du deutlich weniger zahlst als den Wert der Aktie. Doch was ist der Wert einer Aktie? Es entspricht der Summe der abgezinsten künftigen Unternehmensgewinne auf die Gegenwart. Sicher, es ist nicht immer leicht, den Wert von Aktien zu ermitteln. Aber ohne dass man ihn kennt, lässt sich nun einmal keine gute Investitionsentscheidung treffen.

von Georg Buschmann, Frank Doll, Anton Riedl

Man gelangt spätestens an dieser Stelle zu einer ganz wichtigen Frage, die da lautet: Kann ich dauerhaft besser abschneiden mit meinen Investitionsentscheidungen als der Gesamtmarkt? Wenn die Antwort Nein ist, ist das keine Schande. Man investiert dann einfach am besten in einen Welt-Aktienmarkt-Index und hält langfristig daran fest. Wenn die Antwort Ja lautet, ich kann besser sein, dann hat man gute Gründe, viel Eifer aufzuwenden, um den Wert von interessanten Unternehmensaktien zu ermitteln, oder aber Partner zu suchen, die das nachweislich gut können.

Doch in keinem Fall wird man seine Investitionsentscheidungen auf den Ergebnissen der Technischen Analyse aufbauen wollen, denn sie werden Ihnen nicht dazu verhelfen – jedenfalls nicht auf systematische Art und Weise –, das Richtige zur richtigen Zeit zu tun. So interessant und inspirierend der Blick auf die vergangenen Kursdaten Ihnen auch erscheinen mag. Rufen Sie sich immer wieder in Erinnerung: Es gibt logische Gründe dafür - und nicht an den Haaren herbeigezogene Vorbehalte -, von der Verwendung der Technischen Analyse als Investitionsgrundlage abzuraten.

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