Ist Ihnen nicht auch schon diese Diskrepanz aufgefallen, wenn Sie die Berichterstattung der Medien zu den Finanzmärkten verfolgen?
Da haben wir auf der einen Seite eine „Prognose-Industrie“ in Form von selbsternannten „Gurus“, „Börsen-Professoren“ oder „Crash-Propheten“, die uns mit ihren Zukunftsvoraussagungen in Form von Kurszielen oder Dax-Prognosen medial penetrieren. All diese Gurus haben offenbar eine Glaskugel und einen Einblick in die Zukunft, der uns verwehrt ist. Zumindest tun diese Leute so.
Auf der anderen Seite haben wir eine hartgesottene Fraktion, die uns in Kenntnis der obigen Problematik penetrant erklärt, dass Marktbewegungen an den Börsen Zufall seien und Markttiming ebenso Unsinn, wie die damit im Zusammenhang stehenden Techniken. Diese Fraktion fühlt sich sehr zu dem Gedanken hingezogen, Entscheidungen anhand vermeintlich „objektiver“ Unternehmensindikatoren wie KGV und KBV zu treffen, weil damit der Glaube an Rationalität bei Unternehmensbewertungen verbunden ist. Und Rationalität tut der Seele einfach gut, in Anbetracht eines offensichtlich irrationalen Marktes allemal.
Nun, ich bedauere Ihnen sagen zu müssen: Keine der beiden Seiten hat Recht. Und mit keinem der beiden Extreme ist in der Realität an den Börsen ein Blumentopf zu gewinnen.
Recht hatte aber der berühmte Benjamin Graham, unter anderem Lehrmeister von Warren Buffet, und der in seinem Buch „The Intelligent Investor“ die wunderschöne Allegorie von „Mr. Market“ einführte. Mr. Market repräsentiert den Finanzmarkt und ist ein ziemlich psychotischer, manisch depressiver Geselle, der am Morgen nicht mehr weiß, was ihm noch am vorangegangenen Abend wichtig war. Mit dieser Allegorie verbindet sich die so wichtige Erkenntnis, dass der Markt weder abstrakt, noch rational und schon gar nicht effizient ist, sondern einfach die Summe der Erwartungen aller Marktteilnehmer. Und da die Marktteilnehmer fehlbare Menschen sind und als solche auch zur Massenhysterie neigen, neigt auch Mr. Market dazu, permanent in die eine oder andere Richtung zu übertreiben.
Da niemand die Zukunft kennt und erst recht niemand weiß, wie der labile, manische Mr. Market auf diese unbestimmte Zukunft reagieren wird, ist es wenig sinnvoll, diese vorhersagen zu wollen und man kann diese Prognosen getrost einem Schimpansen überlassen. Die Zukunft ist prinzipiell offen und nicht vorhersagbar!
Sollte ich Recht haben, ist es doch erstaunlich, dass trotzdem eine ganze Industrie davon leben kann, das natürliche Bedürfnis der Menschen nach Zukunftsprognosen zu befriedigen. Dabei sind die Ergebnisse der allermeisten Prognosen niederschmetternd, wenn man sich die Ergebnisse im Nachhinein anschauen würde. Nur ist anscheinend niemand ernsthaft an einer Überprüfung interessiert. Es wirkt fast so, als ob es uns Menschen ein Bedürfnis ist, uns in einer prinzipiell unvorhersehbaren Welt mit dem behaglichen Gefühl der Planbarkeit zu umgeben. Es geht scheinbar um die Illusion der Kontrolle über eine komplexe Welt.
Dabei ist es sogar noch schlimmer, wir Menschen können nicht nur die Zukunft nicht vorhersehen, wir neigen in der modernen Welt sogar dazu, diese eher falsch als richtig vorherzusagen, weil wir der jüngeren Erfahrung zu viel Aufmerksamkeit schenken. Hier schlägt offensichtlich unsere genetische Ausstattung zu, die dafür konstruiert wurde, in der Savanne zu überleben und nicht komplexe Zusammenhänge einer vernetzten Welt zu begreifen. Wenn wir in der Savanne beim Jagen zweimal an einer Wasserstelle vorbei gekommen sind, die von Löwen belagert wurde, dann hat sich in unserem Gehirn die Gleichung "Wasserstelle = Löwen" eingebrannt. Und für die Savanne war das auch ein guter, überlebenswichtiger Reflex, denn die Wahrscheinlichkeit, dort wieder Löwen zu begegnen, war wirklich sehr hoch.
Unbewusste Mechanismen beeinflussen unser Handeln
Wenn wir aber an der Börse zweimal Geld verloren haben, weil die Börse immer weiter abgestürzt ist, dann ist damit keineswegs die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Börse auch in Zukunft abstürzen wird. Im Gegenteil, eine Gegenbewegung ist sogar viel wahrscheinlicher geworden. In der Sprache der Behavioral Finance ist das der „Recency Bias“ (die Tendenz von uns Menschen, die nahe Vergangenheit gedanklich fortzuschreiben), der in den Depots der normalen Anleger hässliche Spuren hinterlässt. Denn der Recency Bias trägt dazu bei, dass am Höhepunkt gekauft und am Tiefpunkt verkauft wird.
Und wer sich ein wenig damit befasst hat, wie unsere Gehirne funktionieren, weiß auch, dass die vermeintliche Ratio nur eine dünne Schicht ist, unter der das alte „Affengehirn“ in Form des Belohnungssystems lauert, ebenso wie das „Reptiliengehirn“ in Form des Hirnstamms. Und diese unbewussten Mechanismen unseres Gehirns beeinflussen unser Handeln weit stärker, als uns bewusst ist.
Nun hat die zweite Fraktion die Unmöglichkeit, die Zukunft vorher zu sagen erkannt - leitet daraus aber flugs ab, dass jegliches aktives Handeln an den Börsen Unfug sei. Auch Trader oder Investoren, die seit zehn oder mehr Jahren konsequent jedes Jahr den Markt schlagen, werden mit einer Handbewegung als Zufall abgetan. Gleichzeitig billigt diese Fraktion aber Mr. Market bei der Bewertung der Unternehmen eine Rationalität und Orientierung an Unternehmenskennzahlen zu, die offensichtlich nicht gegeben ist, wenn man nur die Augen einmal aufmacht.
Beide Fraktionen liegen falsch, weil beide denselben Gedankenfehler machen. Es ist die inhärente Annahme, dass Erfolg an den Finanzmärkten etwas mit der Fähigkeit zu tun hätte, die Zukunft vorherzusagen. Und diese Annahme ist grundfalsch. Im Gegenteil, Erfolg braucht dieses Ratespiel um die Zukunft gar nicht!
Ich denke, das muss ich nun genauer erklären.
Die Zukunft kann man zwar nicht vorhersagen, man kann aber die Gegenwart und das Verhalten der Marktteilnehmer in ihr sehr genau analysieren. Und man kann aus dieser Analyse Schlüsse ziehen, die einem Handlungen am Markt erlauben, die mit einem sehr positiven Chance-Risiko-Verhältnis ausgestattet sind. Erfolg kommt also nicht, weil man die Zukunft kennt, sondern weil man das Verhalten der Marktteilnehmer in der Gegenwart genau begreift und daraus wertvolle Schlüsse für die Zukunft zieht. Sicherheit gibt es im Finanzmarkt nicht, aus der Gegenwart seriös ableitbare Wahrscheinlichkeiten schon.
Auch hier haben wir wieder die treffende Metapher der Ur-Menschen in der Savanne. Damals waren Jäger für das Überleben entscheidend, denn Ackerbau war noch nicht erfunden. Und auch die Jäger mussten (wie der Anleger heute) in einer prinzipiell unbestimmten Zukunft den Ort antizipieren, an dem das Wild (die Gelegenheit an der Börse) auftauchen würde. Und es dann mit geübten Bewegungen erlegen. Hätten die Jäger ihre Zeit mit abstrakten Spekulationen und Zukunftsprognosen vergeudet, wäre die Menschheit ausgestorben. Mit Rechthaberei füllt man keine hungrigen Bäuche. Nein, die Jäger haben stattdessen intensiv die Spuren der Tiere in der Gegenwart untersucht, haben die Muster bemerkt, nach denen das Wild sich bewegte und so eine Stelle identifiziert, an der sie mit guter Wahrscheinlichkeit darauf hoffen konnten, dass ihnen das Wild vor die Waffen lief. Sicherheit war das nicht, auch Wild ändert manchmal seine Meinung. Aber eingefahrene Muster verschaffen gute Chancen, nicht mehr und nicht weniger.
Erfolgreiche Trader als gute Spurenleser
Gute Jäger waren also gute Spurenleser in der Gegenwart, das Spekulieren und Phantasieren über die Zukunft war den Medizinmännern vorbehalten. Die mussten aber auch nicht die Nahrung heranschaffen. Und so sind auch heute erfolgreiche Trader und Anleger vor allem gute Spurenleser und Muster-Erkenner. Mit Spekulation hat das wenig zu tun, mit harter, zeitraubender Analysearbeit dagegen sehr viel mehr.
Das macht es auch so absurd, dass in der öffentlichen Meinung professionelle Akteure an den Finanzmärkten als „Zocker“ diffamiert werden. Das Gegenteil ist in der Regel wahr, der wahre Zocker ist, wer im Kasino oder beim Lotto mit dem reinen Zufall tanzt. Ein guter Trader geht dagegen nur solche Wetten ein, bei denen er sich vorher eine gute Ausgangslage zurechtgelegt hat. Wie der Jäger, der nach langer Analyse der Spuren genau da auf Lauer liegt, wo das Wild mit größter Wahrscheinlichkeit durchlaufen wird.
Erleichtert wird die Spurensuche, weil Mr. Market eben nicht rational ist, sondern von den Ängsten und der Gier der Marktteilnehmer getrieben wird. Denn er ist ja die Summe der Erwartungen, Ängste und Hoffnungen aller Marktteilnehmer. Und dabei funktioniert Mr. Market eher wie ein Gummiband. Wenn es zu weit in eine Richtung gedehnt wird, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückschnappen. Wer erkennt, wann der Markt in eine Richtung überdehnt ist, hat damit große Chancen, richtig gutes Geld zu verdienen – auch ohne die Zukunft zu kennen. Und diese emotionale Überdehnung der Stimmung von Mr. Market kann man ganz seriös messen.
Neben dieser Markttechnik gibt es auch noch grundlegende fundamentale Faktoren und Treiber in der Weltwirtschaft, die man sehr wohl in der Gegenwart erkennen und aus ihnen sinnvolle Schlüsse für die Zukunft ziehen kann. Fundamentale Treiber ändern sich nicht alle paar Tage und insofern kann es sich schon lohnen, diesen im Sinne der Trendfolge nachzugehen.
Erfolg am Finanzmarkt ist also die Folge guter und intensiver Beobachtung der Gegenwart, nicht eines sinnlosen Ratespiels um die Zukunft! Und Erfolg entsteht aus einem Spiel mit Wahrscheinlichkeiten; wer Sicherheit sucht, ist an den Börsen fehl am Platz.
Denn es gibt keinen leichten Weg zum Erfolg an den Märkten. Und es gibt keinen „heiligen Gral“, keine ultimative Methode, mit der alleine garantierte Gewinne entstehen. Es gibt nur Methodik, Systematik, Disziplin und Fleiß - verbunden mit geistiger Flexibilität und einer Prise Demut.
Aber konsistenter, wiederholbarer Erfolg ist definitiv möglich, er wird einem nur nicht mundgerecht serviert, den muss man sich hart erarbeiten.
Michael Schulte alias Mr. Market wird von nun an in loser Folge für WirtschaftsWoche Online über die Marktmechanismen schreiben. Wer mehr von ihm lesen will, kann dies in seinem Blog Mr-Market.de tun.