Wenn in kurzer Zeit massenhaft Verkäufe stattfinden, klappt an vielen Börsen ein Sicherheitsschalter um. So auch am Mittwochvormittag, als die Istanbuler Börse einen Verlust von 35 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung seit Wochenanfang verzeichnet. Daraufhin verhängt die Börse einen fünftägigen Handelsstopp und macht Transaktionen, die noch am Mittwochmorgen getätigt wurden, rückgängig. Die Kursfälle waren von den verheerenden Erdbeben im Süden der Türkei und im Norden Syrien ausgelöst worden.
Die Intervention soll verhindern, dass Anleger in Panik ihre Gelder abziehen und der Handel zusammenbricht. Auch die Preisbildung, die normalerweise durch Angebot und Nachfrage an der Börse stattfindet, ist in so einer Situation verzerrt. Am 15. Februar, wenn die Börse wieder öffnet, werden die Aktienkurse nun auf dem Niveau liegen, an dem sie Dienstagabend geschlossen hatten.
Der Aktienmarkt als Absicherung
Viele Kleininvestoren hatten im Vorhinein die Börsenschließung gefordert. Denn anders als institutionellen Anleger fehlt ihnen Zugang zu relevanten Informationen, erklärt Roger Kelly, Ökonom an der Europäischen Bank für Entwicklung und Wiederaufbau. Damit sind Privatanleger durch den Handelstopp vor Informationsasymmetrien geschützt. Das betreffe viele Menschen in der Türkei, da die Zahl der Kleininvestoren in den letzten Jahren stark gewachsen sei, fügt Kelly hinzu: „Viele wollen sich so gegen die hohe Inflation absichern.“
Die Börsenschließung könnte ein Vorbote schlechter Wirtschaftsnachrichten sein. Ersten Schätzungen des Thinktanks Oxford Economics zu Folge gehe die Wirtschaftsleistung durch die Erdbebenschäden kurzfristig um 0,3 bis 0,4 Prozent zurück. Die betroffenen zehn Provinzen tragen zwar nur einen kleinen Teil, etwa neun Prozent, zum türkischen Bruttoinlandsprodukt bei. Dennoch befinden sich in der Region Fabriken und Industriestandorte von Lebensmittel- und Textilproduzenten. Ölexporte aus dem Hafen Ceyhan in der Provinz Adana können sogar auf reduziertem Niveau weiterlaufen.
Höchstes Defizit seit 20 Jahren
Der türkische Präsident Erdogan hat bereits ein großes Hilfspaket angekündigt: Vom Erdbeben betroffene Familien sollen 10.000 türkische Lira (etwa 500 Euro) erhalten. Insgesamt umfassen die Hilfsmaßnahmen Ausgaben in Höhe von 0,7 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung. Das wird allerdings nicht genug sein. So rechnet Maya Senussi, Ökonomin bei Oxford Economics, mit kurzfristigen Kosten für den Wiederaufbau von Wohnhäusern und Bahngleisen in Höhe von über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Der Wiederaufbau fällt in eine Zeit, in der die Regierung bereits einen ordentlichen Schuldenberg angehäuft hat. Für die Präsidentschaftswahl im Mai findet ein teurer Wahlkampf statt und die orthodoxe, expansive Geldpolitik der türkischen Zentralbank finanziert mit niedrigen Zinsen hohe Staatsausgaben. Dadurch könnte sich das Haushaltsdefizit dieses Jahr auf fünf Prozent belaufen, schätzt Ökonomin Senussi – einem Höchststand, den es letztmals Anfang der 2000er Jahre gab. Zuletzt warnt Senussi vor den sehr niedrigen Devisenbeständen. Devisen sind nötig, damit die Türkei Importe bezahlen kann. Hier sei das Land auf Kredite aus dem Ausland angewiesen.
„Die makroökonomische Situation in der Türkei ist relativ fragil“, fasst Ökonom Kelly zusammen. „Meine größte Sorge ist, wie gut die Regierung die Wirtschaft in dieser schwierigen Zeit lenken wird.“
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