Mit einem Feuerwerk der Kurse quittieren die Aktienmärkte die überraschend deutliche Entspannung bei den Inflationszahlen. Im Oktober sind die Preise in den USA nur noch um 7,7 Prozent gestiegen und nicht wie erwartet um 8,0 Prozent. Dazu zeigt nun auch die Kerninflation, die Teuerung ohne Energie- und Lebensmittelpreise, mit 6,3 Prozent erstmals nach unten. Die Reaktion an den Wertpapiermärkten ist deshalb so heftig, weil es in den vergangenen Monaten bei der Veröffentlichung dieser Zahlen stets zu herben Enttäuschungen kam und Aktien und Anleihen danach schwer abgestürzt sind.
Jetzt das Gegenteil: Mit Kursaufschlägen von vier Prozent bei industriell geprägten Indizes wie Dow Jones und Dax, und mehr als sieben Prozent im Technologiebarometer Nasdaq kommt es an den Aktienmärkten zu den stärksten Gewinnen seit der Erholung nach dem Coronacrash.
Motor der Hausse sind die Bondmärkte. Wegen der enormen Kursgewinne sackt die Rendite für zehnjährige US-Staatsanleihen von 4,1 auf 3,8 Prozent, für Bundesanleihen geht es in einem Zug von 2,15 auf 2,0 Prozent nach unten. Im Windschatten dieser Entwicklung wird auch der Goldpreis beflügelt, der sich seit seinem Tief vom 3. November bei etwas mehr als 1.600 Dollar in wenigen Tagen auf bis zu 1.760 Dollar hochgeschraubt hat. Inflation gebannt, Aktien, Anleihen und Gold nun nach monatelanger Baisse wieder auf dem Weg nach oben?
Vor allem ruhen die Hoffnungen nun darauf, dass die amerikanische Notenbank Fed bei ihrem nächsten Treffen im Dezember deutlich moderater vorgeht und die Leitzinsen nicht mehr um 0,75 Prozentpunkte, sondern allenfalls um 0,50 Prozentpunkte anhebt. Zudem könnte sie auch bei ihren weiteren Werkzeugen, vor allem der Bilanzverkürzung, langsamer vorgehen oder sogar eine Pause einlegen.
Die massiven Kursgewinne an den Märkten, die schon Anfang Oktober begonnen haben, wären damit die klassische Antizipation einer solchen Zinsentspannung. Zusätzlich zugute kam ihnen zuletzt die bis vor kurzem noch weit verbreitete Skepsis, die vor allem in Amerika seit Wochen zu umfangreichen Absicherungspositionen führt, die im Zuge einer heftigen Kurserholung geschlossen werden müssen und über entsprechende Rückkäufe den Anstieg zusätzlich beschleunigen.
Immer mehr Einzelaktien drehen nach oben
Im Dax geht die Erholung durch den gesamten Markt. An der Spitze stehen die Aktien, die seit Anfang Oktober zunächst relativ stabil waren und dann wieder in den Bereich ihrer bisherigen Topkurse vorgedrungen sind: Hannover Rück und Münchener Rück, die vom höheren Zinsniveau profitieren – und vom wachsenden Bedarf an Absicherung. Beide Aktien sind für weitere Gewinne gut.
Linde hat sogar ein neues Allzeithoch erreicht. Das zeigt nicht nur die Dauerläuferqualität des Industriegaseherstellers und die Nachhaltigkeit seines Geschäftsmodells, das durch langfristige Lieferverträge gegen Rückschläge resistent ist. Es zeigt auch, wie wenig die Argumentation des amerikanischen Linde-Managements zutrifft, die Aktie werde durch engstirnige Dax-Regeln in ihrem Aufwärtsdrang gebremst. Der geplante Abschied von Linde aus dem Dax ist für den deutschen Aktienmarkt kein schöner Vorgang.
Bei RWE fehlen nur noch wenige Prozent zum bisherigen Hoch. Nach einem sehr starken Geschäftsverlauf in diesem Jahr, bei dem RWE vor allem in seinen Bereichen Strom aus erneuerbaren Quellen deutlich zulegt, dürfte es 2022 insgesamt einen Anstieg des operativen Gewinns in der Größenordnung um 50 Prozent auf weit mehr als fünf Milliarden Euro geben. RWE-Aktien gehören seit 2016 zu den stärksten Titeln im Dax. Weder der Coronacrash noch die Inflationsbaisse bremste den Aufschwung.
Hintergrund ist der erfolgreiche Wandel zum Anbieter erneuerbarer Energien, die in diesem Jahr wahrscheinlich schon mehr als die Hälfte zum Gesamtgewinn beisteuern. Die in der öffentlichen Diskussion im Mittelpunkt stehenden Kohle- und Atomenergie hingegen macht zwar noch einen erheblichen Teil der Stromproduktion aus, sorgt aber nur noch für einen kleinen Teil der Gewinne. Während RWE vielfach noch als alter Energiekonzern wahrgenommen wird, orientiert sich die Börsenbewertung längst an der Spitzenstellung, die RWE im internationalen Wachstumsmarkt erneuerbare Energien einnimmt. Und da ist Luft nach oben.
Im Mittelfeld des Dax gewinnen nun auch die zentralen, richtungsweisenden Aktien an Boden: Allianz, BMW, Deutsche Bank, Mercedes-Benz oder Siemens. Infineon ist schon im Oktober nicht mehr so tief gesunken wie im Juni, nun gelingt der Aktie mit dem Anstieg über 27 Euro ein wichtiges Kaufsignal. Auch in Amerika zeigt das führende Barometer der Branche, der Philadelphia Semiconductor Index, deutliches Aufwärtsmomentum.
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SAP, der wichtigste Techniktitel im Dax, kann die entscheidende Hürde bei 95 Euro zurück erobern, zugleich gelingt ihm der Sprung über die 100 Euro. Entscheidend für die nächsten Monaten ist, ob SAP im Zukunftsgeschäft seiner Cloudsparte nun auch hier bei den Margen dauerhaft zulegen kann.
E.On-Aktien können sich wieder über die Marke von 8,00 Euro retten, nachdem durch den stabilen Geschäftsverlauf dieses Jahres die Ziele für 2022 aufrechterhalten werden. Zwar spürt E.On im zentralen Netzgeschäft hohe Beschaffungskosten für Energie, hat aber in der kleineren Sparte Stromerzeugung die Aussicht auf Extragewinne. Damit kann nicht nur die hohe Verschuldung weiter abgebaut werden, auch eine weitere Erhöhung der Dividende ist in Sicht.
Henkel: Vielversprechende Bodenbildung
Bei Henkel wächst nun, nachdem sich die Aktie in den vergangenen eineinhalb Jahren fast halbiert hat, die Chance auf eine Wende. Die Neunmonatszahlen waren gut, die Prognosen für Umsatz, Marge und Gewinn werden heraufgesetzt. Die Zusammenlegung der Sparten Reinigungsmittel und Pflege zum Geschäftsfeld Consumer Brands kommt voran und soll 250 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Zwischen 60 und 67 Euro läuft bei Henkel-Aktien eine vielversprechende Bodenbildung, die mittelfristig Spielraum bis in den Bereich um 75 Euro geben könnte. Offen allerdings ist immer noch, wie teuer der Rückzug aus Russland letztlich wird und welche Abschreibungen Henkel hier vornehmen muss.
In den Startlöchern steht Continental. Auch hier hat die Aktie einen jahrelangen Abschwung hinter sich, obwohl es im Unternehmen zu vielversprechenden strategischen Entwicklungen kam. Dazu gehört vor allem die Abspaltung der Antriebssparte. Zudem demonstriert Conti, gerade etwa durch einen Großauftrag für neue Bremssysteme im Wert von zwei Milliarden Euro, seine Stärke bei modernen Fahrwerken, die bei Elektroautos und selbst fahrenden Mobilen immer wichtiger werden. Ihre lange Zeit im Branchenvergleich hohe Bewertung haben Conti-Aktien längst abgebaut. Mittelfristig sollte das Erholungspotenzial in den Bereich 70 bis 75 Euro reichen.
Fazit für den Dax
Die Risiken der Inflation gehen zurück, auch wenn es keineswegs ausgemachte Sache ist, dass die Teuerung so schnell verschwindet, wie sie gekommen ist. Vor allem im Bereich Mieten, Dienstleistungen oder Löhne dürfte sie sich als hartnäckig erweisen. Damit ist zwar in den nächsten Monaten ein weiterer Rückgang der Teuerung in Sicht, der dann aber womöglich im Bereich um fünf Prozent wieder zäh werden könnte. Bis die amerikanische Notenbank Fed ihr Wunschziel von zwei Prozent Inflation erreicht, dürfte der Weg noch lang und steinig werden.
Von Ebitda bis US-GAAP: Kürzel, die Anleger kennen sollten
United States Generally Accepted Accounting Principles, der Bilanzstandard der Vereinigten Staaten.
International Financial Reporting Standards. Internationaler Bilanzstandard (Anwendung in 144 Ländern). Seit 2005 in Deutschland Pflicht für den Konzernabschluss aller Unternehmen, die Anleihen oder Aktien öffentlich notiert haben.
Handelsgesetzbuch. Nach wie vor Bilanzstandard für den Einzelabschluss aller Unternehmen in Deutschland. Der Einzelabschluss umfasst weniger Töchter als der Konzernabschluss, ist aber Bemessungsgrundlage für Ausschüttungen wie Dividenden.
Geschäfts- und Firmenwerte (Goodwill) sind eine Vermögensposition in der Bilanz, die die Prämie auf die erworbenen Vermögen übernommener Unternehmen widerspiegeln
Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen Abschreibungen und Sonderabschreibungen auf aufgekaufte Unternehmen (Firmenwerte/Goodwill). Schönwetterkennzahl, die keinem Bilanzstandard unterliegt. Wird von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich errechnet. Wird zudem oft auch noch bereinigt. Gewisse Aussagekraft im Verhältnis zum Schuldenstand (je geringer die Relation zwischen Ebitda zu Schulden, desto besser steht das Unternehmen da).
Ergebnis vor Steuern, Zinsen, regelmäßigen Abschreibungen. Ebenfalls eine Schönwetterkennzahl (siehe Ebitda).
Ergebnis vor Steuern und Zinsen. Kann als operatives Ergebnis (Betriebsergebnis) herhalten, falls keine außerordentlichen Zinsausgaben oder -einnahmen anfallen. Auch hier bereinigen Unternehmen gerne.
Ergebnis vor Steuern, nach Steuern ergibt sich der Nettogewinn (Jahresüberschuss) als Kernkennzahl für den Aktionär. Aus dem Jahresüberschuss errechnet sich das EPS: Ergebnis je Aktie (Earnings per Share), wenn die Anzahl der Aktien eines Unternehmens durch den Nettogewinn geteilt wird. Der aktuelle Aktienkurs geteilt durch das EPS wiederum ergibt das KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis). Irrelevant, weil oft schwierig nachvollziehbar und/oder gewinnpolitisch motiviert, sind für Aktionäre sogenannte Pro-forma-, bereinigte Gewinne oder Pro-forma-, bereinigte EPS.
Zudem machen sich in vielen Bereichen der Wirtschaft immer drückender Rezessionstendenzen bemerkbar. In Amerika schwächt sich der für die Konjunktur entscheidende Konsum deutlich ab, bei großen Technikkonzernen gibt es Gewinnenttäuschungen und Massenentlassungen. Nicht umsonst ist der Technologieindex Nasdaq in einer wesentlich schwächeren Verfassung als der Dow Jones.
Dem Dax kommt seine klassische, industriell geprägte Ausrichtung zugute. Mit dem deutlichen, zuletzt hochdynamischen Anstieg auf über 14.000 Punkte hat er sowohl den seit Januar bestehenden Abwärtstrend als auch die 200-Tagelinie souverän überwunden. Das sind ohne Frage zwei wichtige und sehr positive Signale. Bei der Hälfte der Dax-Aktien liegen die aktuellen Notierungen mittlerweile über ihrer jeweiligen 200-Tagelinie. Nachdem hier monatelang Baisse-Tendenz vorherrschend war, ist das Kräfteverhältnis nun ausgeglichen.
Kurzfristig ist der Dax durch einen Gewinn von 2.500 Punkten in nur sechs Wochen ziemlich überkauft. Der Optimismus an den Weltbörsen, das zeigt der auf „Gier“ hochgeschnellte Fear- and Greed-Index des Fernsehsenders CNN, ist groß. Gut möglich, dass es deshalb spätestens im Bereich um 14.300 Punkte im Dax zu einer Verschnaufpause kommt. Nach einem solchen Hochpunkt, der über dem Hoch vom August liegt, kommt es nun darauf an, dass der Dax bei seinem nächsten Tief nicht mehr all zu viel verliert. Optimal wäre bei der nächsten Korrektur die Verteidigung des Niveaus zwischen 13.400 bis 13.700.
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