Riedls Dax-Radar
Crash oder Systemkrise? Die Börse in Zeiten großer Belastungen durch Inflation, Rezession, Pandemie, Krieg und geopolitischen Spannungen. Quelle: imago images

Börsen zwischen Systemkrise und Crashgefahr

Neue Hoffnungen auf ein Abklingen der massiven Zinsanstiege beflügeln die Kurse. Gleichzeitig aber wächst das Risiko einer systemischen Krise – ein gefährlicher Mix für die Aktienmärkte.

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Die Ereignisse um die jüngste Kehrtwende der britischen Notenbank zeigen, wie dramatisch die Entwicklung an den Finanzmärkten mittlerweile ist: An den Anleihemärkten führt der massive Zinsanstieg der vergangenen Monate zur größten Wertvernichtung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die schnellen und für viele Marktteilnehmer unerwartet dynamischen Verschiebungen haben Folgen, die aus den aktuellen Turbulenzen eine neue Finanzkrise machen. 

Bis vor kurzem noch wollte die Bank of England wie die anderen Notenbanken auch durch deutliche Zinserhöhungen die galoppierende Inflation wieder einfangen. Dass Wirtschaft und Aktienmärkte darunter leiden, wurde dabei in Kauf genommen. Weniger beachtet wurden aber die Folgen für die Anleihemärkte. Die sind nicht nur wesentlich größer als die Aktienmärkte; hier sind die Verflechtungen mit dem gesamten Finanzsystem über große Investoren wie Pensionskassen wesentlich dichter. 

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Der Mix aus Zinsanstieg, Anleihecrash und Verfall des Pfunds hätte bei mehreren britischen Pensionskassen zu einem Zusammenbruch führen können – hätte nicht die Bank of England in einer unerwarteten Rettungsaktion durch das Versprechen unlimitierter Anleihekäufe die Märkte erst einmal beruhigt. Immerhin, die Renditen für zehnjährige britische Staatsanleihen gingen daraufhin binnen weniger Stunden von 4,6 wieder auf 4,0 Prozent zurück; an den Aktienmärkten kam es zu einer schnellen, kurzen Erholung. 

Die Marktturbulenzen in Großbritannien und die Aktion der britischen Notenbank sind für die weltweiten Wertpapiermärkte ein Schlüsselereignis. Sie zeigen, wie schwer und gefährlich die aktuelle Krise mittlerweile geworden ist. Offensichtlich wird auch, welche Prioritäten bei Rettungsaktionen der Notenbanken gelten: 

  • Am wenigsten Gewicht hat der Aktienmarkt. Die starken Kursverluste an den Aktienbörsen haben bei den Notenbanken keine Reaktionen hervorgerufen. Im Gegenteil, hohe Aktienpreise werden wie hohe Preise für Immobilien oder Waren von den Notenbanken im Zuge der Inflationsbekämpfung als problematisch betrachtet.
  • Den Verlauf der allgemeinen Konjunktur haben die Notenbanken zwar im Auge, doch wird ein deutlicher Rückgang bis hin zu einer Rezession durchaus in Kauf genommen. 
  • Als eigentliche Kernaufgabe betrachten die Notenbanken den Kampf gegen die überbordende Inflation. In Großbritannien wie in den meisten Industriestaaten wurde deshalb die Zinswende vollzogen. Über die aktuellen Turbulenzen hinaus dürfte die Rückführung der Teuerung in den niedrigen einstelligen Bereich das Ziel der Notenbanken bleiben.
  • Eine neue, kritische Dimension bekommt die Krise durch den Verfall der britischen Währung. Der ungewöhnliche Abschwung des Pfund Sterlings durch den Vertrauensverlust in die neue Regierung war der Auslöser, der die Notenbank auf den Plan rief. 
  • Als oberste und wichtigste Ebene für die Notenbanken erweist sich der Erhalt des Finanzsystems. Das wiederum ist untrennbar mit den Fragen von Liquidität und Finanzierungen verbunden – also vor allem mit der Entwicklung an den Zins- und Anleihemärkten. Wichtigste Indikation hierfür sind die Marktzinsen, die sich besonders sichtbar an den Renditen der verschiedenen Laufzeiten ablesen lassen. 

Feuerwehreinsatz oder Neuorientierung? 

Auch auf die Wertpapiermärkte hierzulande hat sich das Beben in Großbritannien ausgewirkt. Die Renditen für zehnjährige Bundesanleihen, die vor der Intervention der Bank of England bis auf 2,35 Prozent gestiegen waren, gingen danach auf 2,12 Prozent zurück. Der Dax hat sich, zumindest für ein paar Stunden, von 11.860 bis auf 12.320 Punkte erholt. Der schnelle Abverkauf am Tag nach der britischen Intervention legt zunächst den Schluss nahe, dass die Wirkung der ganzen Aktion begrenzt sein könnte. Allerdings gibt es an den Märkten auch Anhaltspunkte, die zumindest für eine partielle Stabilisierung, wenn nicht sogar Erholung sprechen.

Zulegen können derzeit vor allem Euro und Gold. Der Euro dürfte von der Hoffnung profitieren, dass die Notenbanken einem überzogenen Währungsverfall offensichtlich nicht auf Dauer tatenlos zusehen. Dem Goldpreis kommt zugute, dass der zuletzt erratische Zinsanstieg zumindest vorübergehend gebremst sein könnte. In beiden Fällen waren die Märkte durch die vorangegangene Entwicklung weit überzogen und damit auch technisch reif für eine Gegenbewegung. 

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Das gilt auch für die Aktienmärkte. Der Dax hatte bei einem Stand von 11.976 Punkten (Tagesschluss 29. September) zur 200-Tagelinie (bei 14.030 Punkten) mittlerweile einen Abstand von 14,6 Prozent erreicht. Der Aktienmarkt war an diesem Tag fast schon so extrem überverkauft wie bei dem großen Kurseinbruch Anfang März. Damals kam es im Dax im Anschluss an den Kurseinbruch zu einer schnellen, drei Wochen anhaltenden Kurserholung.

Das Eingreifen der britischen Notenbank könnte durchaus dazu führen, dass sich der zuletzt sehr hektische Zinsanstieg etwas verlangsamt. Angesichts von Inflationsraten um zehn Prozent dürfte sich aber am grundlegenden Straffungsprozess der Notenbanken nichts ändern. Negativ für die Märkte ist zudem, dass ähnlich wie in der Finanzkrise 2008 nun die Gefahr einer systemischen Krise offensichtlich geworden ist – neben den schon bisher großen Belastungen durch Inflation, Rezession, Pandemie, Krieg und geopolitischen Spannungen. 

Fazit für den Dax: Derzeit verlaufen bei 90 Prozent aller Dax-Aktien die aktuellen Notierungen unterhalb der 200-Tagelinie. Das ist eine hartnäckige und dynamische Baisse. Nur bei vier Aktien können sich die Kurse noch über diesem mittel- bis langfristigen Richtungsanzeiger halten: bei Beiersdorf, Deutscher Börse AG, Hannover Rück und Münchener Rück. Alle vier Papiere sind für die generelle Tendenz am deutschen Aktienmarkt wenig repräsentativ. Zudem besteht auch hier das Problem, dass es allein aus Liquiditätsgründen noch zu Verkäufen kommen kann.

Durch die jüngste, scharfe Abwärtsphase hat der Dax das Tief vom Juni unterschritten. Zugleich ist das Angstbarometer V-Dax in den kritischen Bereich über 30 Prozent vorgedrungen. Beides signalisiert hohe Nervosität an den Märkten, die zu weiteren, schnellen Abverkäufen führen kann. 

Auf der anderen Seite haben die für die weltweite Tendenz entscheidenden US-Börsen zumindest an kurzfristigen Unterstützungen erst einmal gehalten: Der Technologieindex Nasdaq 100 konnte mit der Marke um 11.000 Punkte das Tief vom Juni verteidigen, der breite S&P-500-Index notiert noch über dem Bereich um 3600 Punkte; der klassische Dow Jones allerdings konnte sich bisher nicht wieder über die Marke von 30.000 Punkte erholen. 

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Insgesamt ist die Verfassung der Weltbörsen ausgesprochen fragil. Im Dax könnte eine kurze Erholung zwar zunächst bis in den Bereich um 12.400 und dann in einer zweiten Welle bis 12.800 Punkte gehen, an der übergeordneten Abwärtstendenz aber würde dies nichts ändern. Umfangreiche Aktienkäufe sind damit bis auf weiteres sehr riskant – es sei denn, es käme kurzfristig sogar noch zu einem crashartigen Ausverkauf und damit zu einer Bereinigung am Aktienmarkt. Der Spielraum für ein solches Schock-Szenario reicht zunächst bis 10.500 Punkte, hier verläuft der seit 2003 bestehende Aufwärtstrend. Und sollte es sogar bis auf 9200 Punkte hinab gehen, träfe der Dax den Aufwärtstrend, der seit 1983 besteht. 

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