In Amerika macht sich etwas breit, das selten ist in dem Land und das für die Börsen zur Belastung wird: Eine Aufgabestimmung nach der akuten Panik. Wenn man US-Marktkommentatoren verfolgt, spiegelt sich eine Verzweiflung wider über die Wucht, mit der ihr Land getroffen wird – vom Coronavirus und seinen Folgen und parallel dazu von Verkaufswellen an der Börse, die es so ohne Gegenwehr seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat.
Seit Tagen erreichen Stimmungsindikatoren in Amerika negative Extremwerte. Der vielbeachtete Volatilitätsmesser Vix hat mit Werten von mehr als 70 praktisch die Extreme der Finanzkrise erreicht. Normalerweise bleibt ein solcher Index nur für wenige Stunden in so einem überzogenen Terrain, bevor er dann wie am Gummiband gezogen wieder in die andere Richtung schnellt. Der desaströse Indexverlauf am Donnerstag (12. März) aber endete auf einem deprimierenden Tief im Dow Jones bei 21.200 Punkten, dem größten Punkteverlust in der Geschichte der US-Börsen.
Dass die US-Märkte so tief getroffen sind, ist für den Dax eine schwere Hypothek. Normalerweise kommen gerade nach heftigen Ausverkäufen wie in den vergangenen Tagen überraschende Erholungsphasen aus New York, die sich dann wie Wellen an den anderen Weltbörsen fortsetzen.

Dabei gibt es durchaus Argumente, die auf dem aktuellen Niveau des Dow Jones (im Bereich 21.000 bis 22.000 Punkte) für eine Zwischenerholung sprechen. Die Maßnahmen der Notenbanken sind gar nicht so schlecht. Dass die überraschende Zinssenkung der Fed vor kurzem an den Märken „verpufft“ sei, wie oft zu lesen war, ist nur die halbe Wahrheit. Zinssenkungen sind indirekte Maßnahmen, die immer mit Verzögerung wirken. Verpufft ist dabei nur die Antizipation, die Erwartung der Anleger, dass sich mit dem Zinsschritt ad hoc etwas ändert. Die substanzielle Wirkung dieses Zinsschritts auf Finanzierungen und Unternehmen wird sich sehr wohl in einigen Wochen oder Monaten zeigen. Dazu stellt die Fed 1,5 Billionen Dollar an Liquidität für die Geschäftsbanken zur Verfügung – eine wichtige Maßnahme zur Stütze des Banken- und Finanzsystems.
Auch die Maßnahmen der EZB sind keine Luftnummern. Eine Verschiebung der Zinsgrenzen in noch negativeres Terrain hätte ohnehin nur noch eine begrenzte Wirkung. Stattdessen den Banken unter die Arme zu greifen, Anleihen weiter aufzukaufen und an die Fiskalpolitik zu appellieren, ist keine schlechte Strategie. Weil die aktuelle Krise Märkte, Wirtschaft und Gesellschaft erfasst hat, kann sie natürlich nicht allein von den Notenbanken bewältigt werden.
Ein wichtiger Hoffnungsschimmer für die Börsen ist die relative Stärke der führenden Technologieaktien. Während der Dow Jones den seit 2008 verlaufenden Trend nun gebrochen hat, behauptet der Nasdaq 100 sogar die Aufwärtsbewegung seit 2016. Ein Phänomen dabei ist die Apple-Aktie, die selbst am schwarzen Donnerstag die 200-Tage-Linie verteidigt hat. Auch andere führende High-Tech-Werte wie Microsoft oder Amazon sehen relativ betrachtet viel besser aus als die Vertreter der alten Ökonomie.
Es ist also keineswegs so, dass an den Aktienmärkten die optisch hohe Bewertung der Technologie-Champions die große Bedrohung ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die Technologie-Aktien sind der Fels in der Brandung, weil ihr Geschäftsmodell von den aktuellen Folgen des Coronavirus am wenigsten betroffen ist. Apples frühzeitige Warnung vor den geschäftlichen Folgen des Virus war vom Timing perfekt; es war aber kein Knock-Out für das Geschäftsmodell von Apple und den Kurs der Aktie.
Mehr noch: Die Stärke der Technologieaktien, die sich im Dax besonders an SAP zeigt, gibt wichtige Hinweise für die Zeit nach der akuten Corona-Krise. Corona ist ein analoger Virus, der die analoge Welt mit voller Wucht trifft.
Für die digitale Welt dagegen wird er zum Katalysator: Von Videokonferenzen, Online-Schaltungen, gemeinsamen Plattformen für Kommunikation, Produktion und Handel bis hin zu Paketlieferung via Drone und der Pflege von Kranken durch Roboter sind die Chancen für neue Technologien immens. Und das reicht hin bis zur Hochtechnologie in Biotech und Pharma, wenn es um die Bekämpfung und Verhinderung analoger Viren geht.
Der Dax ist im Abwärtsstrudel der US-Börsen von Donnerstag auf Freitag nachts im professionellen Handel weit unter 9000 Punkte gerutscht. Am Freitag früh probt er eine Erholung, die bei wenig Umsatz bis auf gut 9500 Punkte kam, seitdem driftet der Markt wieder ab. Dass er sich trotz der extremen Stimmungs- und Volatilitätswerte nicht schneller erholt, zeigt das Ausmaß der Verunsicherung. Für die nächsten Tage ist das natürlich kein gutes Zeichen.
Dennoch besteht immer noch die Chance, dass die ins Auge gefasste Stabilisierung zwischen 9700 und 8200 Punkten gelingen kann. Im europäischen Handel ist am Freitag kein Richtungsentscheid zu erwarten. Spannend wird es, ob es nicht doch dann in New York eine konzertierte Aktion aus politischer Führung, Notenbank und führenden Marktteilnehmern gibt, um das Ende der Woche noch zu retten. Dabei wäre es gut, wenn der Dow Jones das Niveau um 22.000 Punkten hält oder sogar übertrifft. Der Nasdaq-100-Index würde mit jedem Stand über 7000 Punkten seinen 2016er-Trend verteidigen.
Im Dax läuft heute, am Freitag, den 13. März, der 15. Tag des Corona-Crashs, der am Montag, den 24. Februar begann. Wenn man alle Crash-Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte Revue passieren lässt, so hat die aktuelle Marktbewegung die meiste Ähnlichkeit mit dem Crash von 1987. Dessen akute Phase dauerte 17 Tage, in denen der Dax (rückgerechnet) 35 Prozent verlor.
Wenn man den aktuellen Absturz des Dax vom Hoch bei 13.600 Punkten ansetzt, ergäbe das exakt den Rückschlag bis zu den rund 8800 Punkten, die der Markt von Donnerstag auf Freitag im professionellen Handel erreicht hatte.
Immerhin, 1987 kam es nach 17 Crash-Tagen zu einer ersten, kurzen Erholung. Danach schlossen sich noch einige schwächere Wochen ohne größere Ausschläge an – bevor der Dax dann seine lange Aufwärtsbewegung fortsetzte.