Der Brexit war an den Börsen ein Non-Event – an den amerikanischen. Der Dow Jones hat mittlerweile das Niveau wieder erreicht, das er vor dem Briten-Schock hatte. Auch der Nasdaq-Index hat sich erholt, wenngleich Technologiewerte seit einigen Monaten schwächer im Markt liegen.
Dennoch, spurlos geht die europäische Krise an der amerikanischen Wirtschaft nicht vorüber. Die USA hat kein Interesse an einem maroden Europa, das sich gegenseitig zerlegt. Die USA braucht ein starkes Europa als politischen Gegenpol zu Russland – dann können sich die Amerikaner in Ruhe auf ihre pazifische Schwerpunktregion konzentrieren. Und als Handelspartner profitieren sie ohnehin mehr von einem starken Europa.
Zudem haben die Amerikaner nichts gegen einen stabilen Euro. Im Gegenteil: Eine latente Aufwertung des Dollars gefällt ihnen auf Dauer überhaupt nicht. Erst recht, seitdem das Pfund Sterling abstürzt. Der dramatische Verfall dieser klassischen Währung ist eine schwere Hypothek für die amerikanisch-britischen Wirtschaftsbeziehungen, die seit jeher ausgesprochen intensiv sind.
Bei 17.900 Punkten ist der Dow Jones insgesamt in einer robusten Verfassung, deutlich oberhalb der 200-Tage-Linie. Die gesamten Kursschwankungen seit 2014, die von Pessimisten gern als obere Wende interpretiert werden, sind bisher nichts anderes als eine große, klassische Konsolidierung in einem langfristigen Aufwärtstrend.
Ein erstes Kaufsignal gab es im Frühjahr beim Anstieg über 17.600 Punkten. Die Kursschwankungen der vergangenen Wochen waren darauf eine Rückreaktion und Bestätigung. Bei einem Anstieg über 18.000 ergäbe sich ein weiteres Kaufsignal. Die Chancen, dass dies noch im zweiten Halbjahr gelingt, stehen 60 zu 40.
Der Dax kann die US-Stärke gut gebrauchen. Sie ist einer der zentralen Gründe, warum die große Absturzgefahr an den europäischen Börsen derzeit nicht besteht. Eine Baisse in Europa ohne Baisse an Wall Street ist weiterhin undenkbar.
Den Briten-Schock haben europäische Aktien noch nicht ausgeglichen
Dennoch, den Brexit haben weder der Dax noch der Euro Stoxx bisher ausgeglichen. Wer meint, es handle sich nur um eine politische und damit kurzlebige Erscheinung, verkennt die Dramatik der aktuellen Lage. Schon im April hatte der Dax einen Kletterversuch gestartet, der aber misslang. Dafür hätte dann Ende Mai der zweite Anstieg gelingen müssen. Doch dieser zweite Versuch wurde durch die Brexit-Turbulenzen zunichte gemacht.
Bisher hat der Dax nicht einmal das Brexit-Gap (also den ersten Schock nach der Abstimmung) geschlossen. Dazu müsste er bis auf 10.200 Punkte steigen. Erst dann kann man darüber diskutieren, ob der Brexit an der Börse überwunden sei oder nicht. Aktuell hat der Dax nicht einmal den unteren Rand dieses Gap erreicht.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Ein Blick auf die Einzelwerte zeigt den Grund der Schwäche. Nur acht von 30 Aktien des Dax notieren derzeit oberhalb ihrer 200-Tage-Linie. Das ist stabile Abwärtstendenz. Und diese acht sind zudem die üblichen Defensivkandidaten: Adidas, Beiersdorf, Fresenius, FMC Merck, Vonovia und (etwas näher an der Konjunktur) Henkel und Infineon. Die tragenden Trendpapiere im Dax (Allianz, Daimler, BASF oder Bayer) sind dagegen weiter angeschlagen und verlaufen in kurz- bis mittelfristigen Abwärtsbewegungen.
Gefährliche Stärke der Krisenbarometer Dollar, Gold und Bund
Weitere Warnungen kommen hinzu. Noch im Mai bewegte sich der Euro im oberen Bereich der Bandbreite zum Dollar, die seit eineinhalb Jahren zwischen 1,06 und 1,16 Dollar verläuft. Diese Nähe zu 1,16 Dollar wäre eine wichtige Voraussetzung dafür gewesen, dass der Euro nach seinem dramatischen 2014er-Verfall (immerhin von 1,40 auf 1,05 Dollar, das sind 25 Prozent Währungsabwertung) eine partielle Erholung gestartet hätte – vielleicht bis in den Bereich 1,20/1,25 Dollar. Dieses ausgeglichene Niveau, mit dem sowohl die europäische als auch die amerikanische Wirtschaft hätte leben können, ist mit dem Brexit in weite Ferne gerückt.
Das zweite Krisenbarometer, das anschlägt, ist der Goldpreis. Mit plus 30 Prozent seit Jahresanfang erlebt Gold derzeit die stärkste Phase seit der Jubelhausse 2011. Aus technischer Sicht dürfte zwar im Bereich 1350 bis 1400 Dollar eine Konsolidierung einsetzen, dennoch zeigt die wiedererwachte Dynamik generell nach oben. Weder die Ukraine-Krise noch die Diskussion um Griechenland hatte solche Auswirkungen auf den Goldpreis.
Die dritte Krisenkurve, den Bund Future, hat der Brexit auf ein All-Time-High katapultiert. Im Gegenzug sind die Zinsen noch weiter in den negativen Bereich gerutscht. In der Umlaufrendite wurden in der Spitze bisher minus 0,29 Prozent erreicht. Wirtschaftlich gerechtfertigte Zinsen, die man derzeit vielleicht zwischen ein bis drei Prozent verorten könnte, sind auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Nach klassischer Sicht werden damit gefährliche Fehlallokationen provoziert, die wiederum in die nächste Krise führen. Das Zittern am britischen Immobilienmarkt und der Crash britischer Immo-Aktien ist darauf ein Vorgeschmack.
Fazit zum Dax: Wenn keine größeren politischen Negativnachrichten dazwischenkommen, sollte der Dax den Versuch starten, das Brexit-Gap zu schließen. Im ersten Anlauf könnte er dabei in den nächsten Tagen bis auf 9800 Punkte kommen. Sollte er das nicht schaffen, wäre das ein schlechtes Vorzeichen für die gefährlichen Monate August und September. Ein Rutsch unter 9200 Punkte könnte schnell einen Absturz bis 8700 zufolge haben – und dann geht es darum, ob der ganz große Trend hält.