Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der Dax nach dem Brexit-Schock zur Tagesordnung zurückkehrt. Für die Märkte war es wichtig, dass es im Gegensatz zu 2008 nicht zu Panikreaktionen kam und die Liquiditätsversorgung kein Problem war. Die Notenbanken haben offensichtlich aus ihren Fehlern gelernt, von großen Schieflagen ist bisher nichts zu hören.
Für die generelle Stimmung ist es zudem ein Vorteil, dass sich derzeit keine weiteren Abwanderungsbewegungen in der EU breit machen, eher das Gegenteil: Die Briten sind zunehmend isoliert. In diesem Sinne kommt dem schottischen EU-Bekenntnis eine wichtige Rolle zu – und auch Meldungen, wie leid es vielen Briten tut, dass sie die EU verlassen müssen.
Indessen, die wirtschaftlichen Folgen sind schon spürbar – und dieser Effekt wird sich in den nächsten Monaten verstärken. Der Rückgang des Pfund Sterling auf mittlerweile weniger als 1,20 Euro belastet zahlreiche europäische Exporteure, weil ihre Waren für Briten nun teurer werden.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Zugleich hat der Kapitalabzug aus Britannien begonnen. Das trifft vor allem den aufgeblähten Immobilienmarkt. Britische Immobilienaktien haben sich in kürzester Zeit halbiert.
Keine Entwarnung auch bei den Banken – und zwar auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Dass es britische Banken massiv erwischt, war abzusehen. Doch auch französische und deutsche Geldhäuser werden durch den Brexit belastet. London war bisher mit Abstand der wichtigste europäische Finanzplatz mit entsprechenden Vertretungen und Beteiligungen europäischer Banken. Bei der Deutschen Bank konnte man manchmal den Eindruck haben, dass sie eigentlich von der Themse aus regiert werde und nicht vom Main.
Das ist nun alles Historie.
Banken, Chemie, Versicherer und Autohersteller angeschlagen
Wenn die Briten mit ihrem Austritt vorankommen, wird London einen Niedergang erleben. Die damit verbundene Umorientierung wird für die Banken nicht billig – gerade jetzt, wo sie angesichts minimaler Zinsspannen ohnehin mit dem Rücken zur Wand stehen.
Ob der spezielle Niedergang der Deutschen Bank durch den Brexit zusätzlich beschleunigt wird, sei dahingestellt. Dass Deutschlands einst führendes Geldhaus mittlerweile als Systemrisiko gilt, ist beispielhaft für die marode Verfassung der Finanzbranche.
Die von Britannien ausgehende Krise könnte die deutsche Wirtschaft etwa einen halben Prozentpunkt Wachstum kosten. Daran gemessen ist die Reaktion im Dax nach den ersten Erholungstagen keineswegs überzogen. Man kann nicht sagen, der Index sei inklusive Brexit-Folgen bei 9700 Punkten fundamental billig, wenn er ohne Brexit bei 10.500 Punkten angemessen bewertet war.
Große Branchen schwer unter Druck
Die kritische Marktverfassung zeigt sich in den Einzelwerten. Neben den schwachen Banken geraten die Versicherer immer mehr unter Druck. Offensichtlich gelingt es ihnen immer weniger, angesichts niedriger oder negativer Zinsen ihr Geschäftsmodell aufrecht zu erhalten.
Über Jahre hinweg konnten die Allianz und die Münchener Rück von ihren alten, hochverzinslichen Papieren profitieren. Doch die Uhr läuft gegen die Versicherer. Neuanlagen bringen entweder gar nichts mehr, oder sie bergen hohe Risiken. Den Anlagenotstand, den derzeit jeder Privatanleger in seinem Depot spürt, erleben die Versicherer in wesentlich größerer Dimension.
Wenn sich die Allianz an Windkraftanlagen oder Start-Ups beteiligt, mag das auf den ersten Blick smart aussehen. Es ist aber nichts anderes als eine Notlösung, die zeigt, wie angespannt das Geschäft der Versicherer mittlerweile geworden ist. Und das spiegelt sich in den möglichen großen Wendeformationen, die im Kursbild der Allianz und der Münchener Rück entstehen.
Die nächsten Vorzeigeunternehmen, die in die Krise steuern, sind die Autohersteller. Geht man nur von den Zahlen aus, läuft es bei BMW und Daimler eigentlich noch gut. Womöglich übertreibt hier die Börse mit ihrem Hype, dass die Mobilität der Zukunft nur noch von internet-affinen Technologiekonzernen bestimmt werde und nicht mehr von klassischen Autobauern.
An dieser Stelle sei die These gewagt, dass es bei der faktischen Mobilität, also dem realen Transport von Personen oder Gütern, gerade deshalb in Zukunft mehr denn je auf die Hardware ankommen wird: Continental etwa verdient das meiste Geld mit der Produktion von Reifen und nicht mit digitalen Steuersystemen für Abgase oder Bremsen. Das Rad wird auch in 100 Jahren noch an Genialität nicht zu überbieten sein – und dementsprechend gefragt bleiben gute Reifen.
Von ihrem klassischen Geschäftsmodell verabschiedet haben sich die Versorger. Immerhin, deren Aktien sind in den vergangenen Monaten nicht mehr gesunken. Da sie allerdings auf niedrigem Niveau notieren, hilft diese relative Stabilität dem Index kaum.
Angeschlagen sind die Großchemiker. BASF leidet immer noch unter den Folgen der Ölbaisse, dürfte aber die größten Risiken mittlerweile verarbeitet haben. Bayer ist durch den teuren Angriff auf Monsanto in einer prekären Lage, die zudem auch noch durch hohe Unsicherheit über den neuen Kurs geprägt ist. Außer kurzfristige Erholungen bietet die Aktie derzeit nichts für Käufer.
Favoriten, Dauerläufer und Wendespekulationen
Es gibt im Dax auch Lichtblicke. Am Tag des Brexits gab Henkel eine richtungsweisende Übernahme bekannt. Mit dem Kauf des Waschmittelherstellers Sun Products verstärken die Düsseldorfer ihr stabiles Konsumgeschäft, vergrößern den wichtigen US-Anteil – und sind nebenbei nur mit zwei Prozent Umsatz in Großbritannien vertreten.
Schon in den vergangenen Jahren hat sich Henkel auch ohne große Übernahmen gut zu immer mehr Rentabilität entwickelt. Henkel gehört zu den aussichtsreichsten Unternehmen im Dax, die Aktie ist ein Basisinvestment.
Infineon und SAP robust
Im Grunde gilt das auch für andere Dauerläufer: Für Beiersdorf, obwohl die Aktie analytisch teuer ist (doch das ist Beiersdorf seit Jahrzehnten); für Adidas, deren Kursrally immer deutlichere Fragen nach möglichen Aufkäufern stellt; für Fresenius, obwohl jetzt ein ausgewiesener Finanzmann an die Spitze kommt und kein Dialyse-Experte. Robust sind SAP und Infineon, hier treiben die großen Trends Cloud und Digitalisierung.
Fazit für den Dax: Von der gefährlichen Untergrenze bei 8900 Punkten, bei der es dann um den Bestand des langfristigen Trends ginge, ist der Dax in gutes Stück entfernt.
Der Markt hat also Spielraum für kurz- bis mittelfristige Schwankungen, ohne den großen Trend zu gefährden. Damit gilt die seit Frühjahr 2015 anhaltende Schaukelpartie immer noch als Korrekturphase im großen Aufwärtstrend und nicht als Abwärtswende.
Um dieses positive Szenario aufrecht zu erhalten, wäre es gut, wenn sich der Dax in den nächsten Wochen zwischen 9300 bis 10.200 stabilisiert. Ein Rückfall in den Bereich um 9000 und dort dann nur mühsame Erholungen, wäre gefährlich. Immerhin, aus technischer Sicht spricht derzeit trotz Brexit immer noch mehr für die Fortsetzung des großen Aufwärtstrends als für einen großen Zusammenbruch.