Riedls Dax-Radar
Ängste vor wieder aufflammenden Coronafolgen lassen den Dax zittern. Der internationale Technologieaufschwung und die neue Flexibilität der Notenbanken aber halten die Börsenhausse am Laufen. Quelle: REUTERS

Neues Spiel um niedrige Zinsen

Ängste vor wieder aufflammenden Coronafolgen lassen den Dax zittern. Aber der Technologieaufschwung und die neue Flexibilität der Notenbanken halten die Börsenhausse am Laufen. Und es gibt noch mehr Argumente.

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An den internationalen Anleihemärkten vollzieht sich eine bemerkenswerte Entwicklung. Obwohl das Thema Inflation in aller Munde ist, sind die Renditen für amerikanische Staatsanleihen binnen drei Monaten von 1,75 Prozent auf bis zu 1,27 Prozent gesunken. In Europa hat sich die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen seit der Spitze im Mai vom minus 0,11 Prozent auf minus 0,31 Prozent zurückentwickelt.

Diese Entspannung an den Anleihemärkten ist für die Aktienbörsen eine Säule des Aufschwungs: Immerhin besteht damit die gute Kombination aus anziehender Konjunktur, rückläufigen Zinsen und Unternehmensergebnissen, die im zweiten Quartal wahrscheinlich gut ausgefallen sein dürften. Die Zahlen dazu kommen in den nächsten Wochen auf den Tisch.

Gründe für den Renditerückgang an den Anleihemärkten gibt es mehrere: Sie reichen von neuen Corona-Ängsten über ein knappes Angebot neuer US-Anleihen bis hin zu der Tatsache, dass sich viele Skeptiker am Anleihemarkt schlichtweg verspekuliert haben und nun Anleihen wieder zurückkaufen müssen.

Zwei weitere, wichtige Gründe kommen hinzu. Zum einen kehren die USA unter der Regierung Joe Biden wieder zurück zu ihrer klassischen Machtpolitik. Das bedeutet internationale Präsenz und Stärke. Das schürt nicht nur die Rivalität zu China und Russland, das wertet auch die politische Dimension des Dollars als Krisenwährung wieder auf. Das Comeback der USA spiegelt sich im Kursverlauf des US-Dollars wider, der eben nicht, wie vielfach befürchtet, einfach nach unten durchrutscht. Im Gegensatz zu Donald Trump setzt Joe Biden nicht auf eine Politik des schwachen Dollars.

Der zweite Grund sind die Notenbanken. So wie die EZB gerade ihre neue strategische Linie vorgestellt hat, ist auch die amerikanische Fed seit einiger Zeit im Umgang mit der Inflation zunehmend flexibler. Beide Notenbanken, die sich offensichtlich besser als bisher abstimmen (eine Folge der schweren Krise 2020), geben sich mehr geldpolitischen Spielraum: Selbst wenn die Inflationsdaten vorübergehend zwei Prozent und mehr erreichen, muss es deshalb nicht mehr automatisch zu Zinserhöhungen kommen.

Unter Anlegern galt bisher das Narrativ, dass es angesichts steigender Inflationsraten lediglich eine Frage der Zeit sei, bis die Notenbanken die Zinszügel anziehen. Diese Erklärung galt umso mehr, als Fed-Chef Jerome Powell noch vor kurzem sogar ein vorgezogenes Ende der expansiven Zinspolitik in den Raum stellte.

Die neue Strategie der Notenbanken allerdings spricht gegen vorzeitige Zinsschritte. Mehr noch: Sie könnte sogar dazu führen, dass das bisherige Narrativ von der Inflations- und Zinsangst durch ein neues Erklärungsmodell abgelöst wird: Danach planen die Notenbanken diesseits und jenseits des Atlantiks auf absehbare Zeit überhaupt keine Straffung der Geldpolitik. Sie könnten selbst dann expansiv bleiben, wenn der Aufschwung läuft und die Teuerung zunimmt. Die vielfach beschworene Rückkehr zur Normalität wirtschaftlich angemessener Zinsen wäre so gesehen nur ein Wunschtraum von Traditionalisten.

Die Stärke der Technologieaktien spricht gegen die Zinswende

An den Anlagemärkte gibt es derzeit eine Entwicklung, die zu dieser langfristig expansiven Politik der Notenbanken passt: Die nachhaltige Stärke der Technologieaktien. Hightechs gelten als zinssensitiv, weil viele Unternehmen hier keine Gewinne erwirtschaften und deshalb bei steigenden Zinsen höhere Finanzierungskosten stemmen müssen. Für die führenden Werte der Branche wie Apple oder Microsoft gilt dieser Zusammenhang zwar so nicht, dennoch orientieren sich viele Hightech-Anleger am Zinsverlauf: So wie im Frühjahr, als die Technologiebarometer Nasdaq und TecDax parallel zu den gestiegenen Renditen an relativer Stärke gegenüber Dax und Dow Jones einbüßten. 

Jetzt aber sind die Hightechs wieder im Kommen: Der Nasdaq-100-Index, die wichtigste Kurve der Branche, hat seit Mitte Juni sein altes Hoch um 14.000 Punkten deutlich übertroffen. Die Topaktien Google Alphabet, Microsoft, Facebook, Nvidia, Adobe und jetzt auch Apple und Amazon haben neue Rekorde erreicht. Sogar der TecDax hierzulande ist vor wenigen Tagen zu einem neuen Hoch vorgedrungen. Im Dax hat der wichtigste Technikwert, SAP, die mittelfristige Hürde bei 120 Euro genommen. Wenn die Walldorfer Softwareschmiede, die demnächst als erster Dax-Wert Quartalszahlen vorlegt, nicht wieder enttäuscht, könnte das einen Anstieg bis in den Bereich um 140 Euro zufolge haben. 

Die starke Entwicklung an der Nasdaq-Börse ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass sich die großen Trends um Digitalisierung und Kommunikation ungebrochen fortsetzen und den Protagonisten weiterhin hohe Gewinne ermöglichen. Sie ist auch ein Zeichen dafür, dass von den Notenbanken auf absehbare Zeit keine ernsthaften Schritte in Richtung Zinswende zu erwarten sind. 

Im Dax macht sich die neue Renditelinie auch bei den ehemaligen Zinsgewinnern der vergangenen Monate bemerkbar. Die Aktie der Deutschen Bank etwa hat seit dem Hoch im Juni etwa ein Fünftel verloren, obwohl die Bank bei ihrem operativen Geschäft vorankommt. Sogar den seit dem Coronatief bestehenden Aufwärtstrend hat die Aktie vor kurzem gebrochen. Im Bereich um zehn Euro ist nun erst wieder eine Stabilisierung notwendig.

Auch die Allianz, der angesichts riesiger Anlagevolumina höhere Zinsen zugute kommen, driftet seit einigen Tagen weiter ab, obwohl das operative Versicherungsgeschäft gut läuft. Im Kursbereich um 200 Euro sollten die Käufer allerdings wieder kommen. Die Münchener Rück ist bei Notierungen um 225 Euro sogar unter die 200-Tagelinie gerutscht. Ähnlich wie im September vergangenen Jahres könnte dies eine mehrwöchige Korrektur einleiten.

Fazit für den Dax: Gemessen an den Tagesschlusskursen hat der Aktienindex das Niveau um 15.400 Punkte immer noch, wenn auch knapp, verteidigt. Neben den ehemaligen Zinsgewinnern sind auch die Industrieaktien, vor allem die Fahrzeuge und Siemens, in den vergangenen Tagen unter Druck gekommen. Darin steckt, parallel zur Entwicklung am Anleihemarkt, eine wachsende Skepsis über die Dynamik des Aufschwungs sowie das Risiko einer erneuten Coronaverschärfung.

Kurzfristig könnte es nach dem Rekordlauf der vergangenen Wochen sogar an der Nasdaq-Börse zu einer Verschnaufpause kommen. Die hätte im Nasdaq-100-Index maximal Spielraum bis auf 14.000 Zähler. Den Dax dürfte eine solche Reaktion ebenfalls belasten und in Richtung 15.000 Punkte drücken. 

Bei 25 von 29 Dax-Werten (Siemens Energy ist noch nicht lange genug im Index) verlaufen die aktuellen Notierungen oberhalb der 200-Tagelinie. Das ist eine Hausse-Quote von 86 Prozent. Die aktuellen Kursverluste sind damit weiterhin nur kurzfristige Rücksetzer in einem langfristig intakten Aufwärtstrend. Vor allem die starke Entwicklung der Technologiebranchen und die Aussicht auf eine weiterhin großzügige Geldversorgung sprechen dafür, dass die langfristige Aufwärtsentwicklung an den Aktienmärkten noch nicht zu Ende ist.

Mehr zum Thema: Die EZB verschafft sich mit einer neuen Strategie mehr Spielraum. Für Aktien und Anleihen hat das Folgen: Die Hausse geht weiter

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