Der Krieg in Russland geht, obwohl es zwischendurch immer wieder Verhandlungen gibt, mit unverminderter Härte weiter. Die amerikanische Notenbank verkündet die radikalste Straffung ihrer Geldpolitik seit Jahrzehnten. In Europa rechnet Notenbankchefin Christine Lagarde mit einer dauerhaft veränderten Inflationsdynamik und mit bis zu sieben Prozent Preissteigerung. Und der Kampf gegen die Pandemie, um die es im Zuge der Russlandnachrichten etwas ruhiger wurde, ist angesichts steigender Fallzahlen noch lange nicht gewonnen. Die Konjunkturerwartungen in Deutschland, die das Forschungsinstitut ZEW seit 1991 erhebt, brechen so stark ein wie nie zuvor.
Und der Aktienmarkt? Der legt hierzulande binnen zwei Wochen um 2000 Punkte im Dax zu, plus 16 Prozent. Signalisiert diese Aufwärtsbewegung an den Börsen womöglich eine Entwicklung für die großen aktuellen Risiken, die positiver ausgehen könnte, als die meisten Beobachter derzeit befürchten? Oder, andersherum betrachtet, macht sich am Aktienmarkt doch nur eine verfrühte Hoffnung breit, die über kurz oder lang dann wieder von der realen Entwicklung überrollt wird?
Der Blick auf einzelne Unternehmen zeigt, welche Belastungen dabei in den nächsten Wochen auf den Aktienmarkt zukommen können. Beispiel Volkswagen. Das Umfeld für die Autobranche verdüstert sich, die Zulassungen von Neufahrzeugen in Europa brechen ein. Bei Volkswagen ging der Absatz im Februar um 11,5 Prozent zurück. Lieferprobleme bei Chips und Kabelbäumen bremsen die Produktion, Spritpreise von weit über zwei Euro je Liter vergällen die Lust am Autofahren.
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Volkswagen: Risiken in Russland und China
Dazu kommt ein hohes Russland-Risiko. Volkswagen hat in den Jahren 2006 bis 2021 nach eigenen Angaben 2,06 Milliarden Euro in dem Land investiert; mehr als die Hälfte davon in dem neuen Motoren- und Fahrzeugwerk Kaluga 170 Kilometer südwestlich von Moskau. Um dieses Werk herum ist eine ganze Automobilregion gewachsen. Diese Verbindungen lassen sich nicht von heute auf morgen einfach kappen. Sollte es trotzdem zu einem radikalen Schnitt in Russland kommen, droht diesen Assets die Verstaatlichung – und der VW-Bilanz enorme Abschreibungen.
Russland ist für Volkswagen nicht das einzige geopolitische Risiko. In China verkaufen die Wolfsburger 40 Prozent ihrer Fahrzeuge. Sollte das Land konjunkturell abkippen, etwa als Folge neuer Coronawellen, oder käme es zu einem weiteren geopolitischen Konflikt – etwa um Taiwan –, wären die Folgen für VW immens. Ein Rückzug aus China, so Konzernchef Herbert Diess, komme für VW nicht infrage. Dass Volkswagen nun mit Nachdruck sein Engagement in Nordamerika ausbaut, ist nur die Konsequenz dieser Risiken. Doch es wird Jahre dauern, bis Volkswagen auch auf diesem Markt eine seiner Größe entsprechende Bedeutung erreicht.
Geht es nach der klassischen Gewinnbewertung, wären VW-Aktien derzeit extrem preiswert. Doch die Basis dieser Unterbewertung sind allgemeine Analystenprognosen, die für Volkswagen nach dem Rekordgewinn von 2021 nun für 2022 noch einmal einen Gewinnzuwachs von mehr als zehn Prozent erwarten. Angesichts der vielfachen Risiken dürften diese Hochrechnungen deutlich überzogen sein. VW selbst macht zwar noch keine Abstriche an seinen Erwartungen, deutet aber mittelfristig Korrekturen an.
Die Börse ist dieser Entwicklung voraus. Schon Mitte vergangenen Jahres haben VW-Aktien den seit dem Coronatief bestehenden Aufwärtstrend gebrochen und sind danach unter die Durchschnittslinie der vergangenen 200 Tage gerutscht. Die Kurserholung seit Dezember wurde im Februar mit dem russischen Angriff auf die Ukraine jäh abgebrochen. Der Abwärtstrend, in dem VW-Aktien seit Herbst verlaufen, hat sich damit noch einmal beschleunigt. Trotz der jüngsten Kurserholung notiert VW noch immer deutlich unterhalb des großen Widerstandsbereichs zwischen 160 und 185 Euro. Erst wenn die Aktie diese Zone überwindet, wäre sie reif für eine nachhaltige Erholung. Bis dahin sind Kursanstiege nur vorübergehende Reaktionen im Abwärtstrend. Ein Rückfall unter 140 Euro ist nicht ausgeschlossen.
Natürlich gibt es im Dax mittlerweile auch Aktien, die von den Risiken offensichtlich weniger getroffen werden als VW und auch die anderen Fahrzeugwerte wie vor allem BMW und Zulieferer Continental. Gut erholt von den großen, indextragenden Aktien hat sich zuletzt die Allianz. Der Versicherer zieht sich aus seinem ohnehin nicht umfangreichen Russlandgeschäft zurück und ist zudem ein Gewinner steigender Zinsen. Die Telekom gehörte zwar bisher mit über 2000 Mitarbeitern in Russland zu den größten IT-Unternehmen des Landes und ist seit 1995 vor Ort; an der Börse werden derzeit aber offensichtlich ihre defensiven Qualitäten und ihre Dividende höher eingeschätzt. Linde-Aktien können sich wegen ihres langfristig und weltweit ausgerichteten Geschäfts ebenfalls deutlich erholen, obwohl der Industriegasespezialist bisher durchaus ein wichtiges Russland-Geschäft hatte; vor allem im Energieanlagenbau und mit dem Großkunden Gazprom. Der Spezialfall unter den deutschen Großunternehmen, die Bayer-Aktie, hat mit seinem jüngsten Anstieg über 55 Euro sogar ein Kaufsignal gegeben.
Fazit für den Dax: Gemessen an den Tagesschlussständen hat der Dax bei seiner jüngsten Erholung von den 3440 Punkten Minus, die von Januar bis März entstanden sind, bisher rund 1600 Punkte wieder gut gemacht. Das ist knapp die Hälfte der vorangegangenen Verluste. Aktuell, bei rund 14.300 Punkten, rangiert der Dax deutlich unter seinem mittelfristigen Abwärtstrend (der derzeit bei etwa 14.800 verläuft) und der 200-Tagelinie (bei 15.478). An der generellen Abwärtsbewegung des Marktes hat die jüngste Erholung nichts verändert.
In den jüngsten Kursgewinnen spiegelt sich also weniger eine frühe Ahnung eines versöhnlichen Ausgangs der großen Risiken des Aktienmarktes wider (Krieg und Geopolitik, Inflation und Zinsen, Konjunktur, Pandemie), sondern sie sind eher technische Folge der vorangegangenen schweren Verluste. Vor allem die Paniktage um den 7. und 8. März wurden damit erst einmal ausgeglichen. Dennoch ist diese Reaktion des Marktes ein wichtiges Zeichen für eine mögliche Bodenbildung. Offensichtlich lassen sich auf dem erreichten Niveau immer weniger Investoren von den Risiken schrecken.
Hilfreich ist dabei die Stärke der US-Märkte. Obwohl die Renditen für zehnjährige US-Staatsanleihen mit 2,15 Prozent weiterhin im Bereich ihrer jüngsten Höhen pendeln, ist der Vorreiter unter den Indizes, das Technologiebarometer Nasdaq 100, schon ein kleines Stück über den seit Januar bestehenden Abwärtstrend hinausgekommen. Wichtige Einzelwerte wie Apple, Amazon, Microsoft oder Nvidia bauen langsam wieder Stärke auf.
Im Dax kommt es nun darauf an, dass sich die Notierungen möglichst oberhalb der Zone 13.600 bis 14.000 Punkten halten. Wenn der Dax trotzdem noch einmal weiter abrutscht, sollte er das bisherige Tief, das per Tagesschlusskurs am 8. März bei 12.832 Punkten erreicht wurde, möglichst nicht unterschreiten. Wenn das gelingt, könnte aus der gesamten Kursspanne zwischen 12.800 bis 14.500 eine großer Kursboden werden. Dessen positives Potenzial übrigens läge dann ziemlich genau bei 16.300 Punkten, dem bisherigen Hoch.
Hinweis: Der nächste Dax Radar erscheint erst wieder Ende März.
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