Die Meldungen, die von der Lage in Russland und der Ukraine an der Börse eintreffen, treiben Anleger hin und her: Während der amerikanische Präsident Joe Biden mit einem russischen Angriff in den nächsten Tagen rechnet, schüren die Aussichten auf ein baldiges Treffen der Außenminister Russlands und der USA die Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Diese Unentschiedenheit spiegelt sich in den zentralen Barometern der Finanzwelt wider: Die Renditen für zehnjährige amerikanische Staatsanleihen haben seit Verschärfung der Krise mit Russland ihren Steigflug unterbrochen und sind in eine Schaukelpartie zwischen 1,95 und 2,06 Prozent übergegangen. Grund dafür sind Investorenkäufe amerikanischer Staatsanleihen, die in Krisenzeiten als sicherer Hafen gelten. Bei den Renditen für zehnjährige Bundesanleihen liegt die Bandbreite der Renditen derzeit zwischen 0,20 und 0,32 Prozent.
Eine neue Richtung haben die Renditen allerdings trotz der Kriegsgefahr nicht eingenommen. Auf den Anleihemärkten spielt sich eine klassische Konsolidierung nach den vorangegangenen dynamischen Anstiegen ab. Eine solche Konsolidierung ist eine Bestätigung des großen Trends – und damit dürfte ein weiterer Zinsanstieg nur eine Frage der Zeit sein. Nachdem die US-Renditen in der ersten Phase ihres Anstiegs von 0,5 auf 1,7 Prozent gestiegen sind, könnten sie mittelfristig in der zweiten Phase dann etwa von 1,2 auf 2,4 bis 2,5 Prozent klettern.
Etwas verlangsamt hat sich zuletzt der Anstieg des Ölpreises. In der Spitze sind die Notierungen für ein Fass der Nordseesorte Brent bis auf 97 Dollar gekommen, nun pendeln sie im Bereich um 92 Dollar. Auch das ist, wie bei den Renditen, vorerst kein neuer Trend. Allerdings könnte der Ölpreis nach seiner Rally von 50 Prozent binnen zweieinhalb Monaten eher zu einer größeren Korrektur neigen als die Zinsen – vor allem bei einer möglichen Verständigung in der Russlandkrise und bei einem weiteren Nachlassen der allgemeinen Wirtschaftsdynamik.
Lesen Sie hier, wie günstig derzeit die Kurse an der russischen Börse sind und ob es sich jetzt lohnt, dort Aktien zu kaufen – in der Hoffnung, dass die Kanonen nie donnern.
Auf den Anlagemärkten hat die Auseinandersetzung mit Russland die anderen Kernthemen aus dem Blickfeld rücken lassen, vor allem die Inflationsfrage und die Neubewertung der Technologieaktien. Auch von der US-Notenbank ist es zuletzt etwas ruhiger geworden. Das deutet darauf hin, dass die Fed wahrscheinlich doch erst bei ihrem nächsten offiziellen Treffen am 16. März konkrete Maßnahmen vorstellt, also etwa die Zinsen um 0,5 Prozent anhebt. Bis dahin dürfte es dann auch mehr Klarheit über die Entwicklung in Russland und der Ukraine geben.
Der deutsche Aktienmarkt verkraftet die aktuellen Risiken mit einer bemerkenswerten Entwicklung: Im Index finden seit Ende Januar unentschiedene, nicht einmal besonders große Schwankungen statt; in den Einzelwerten aber sind die Ausschläge differenziert und durchaus heftig. Weiter voran mit seinem Turnaround kommt Bayer. Dass es derzeit einmal nicht nur um das leidige Thema Glyphosat geht, ist ein Schritt hin zu mehr Normalität. Gute Nachrichten gibt es vom Krebsmittel Nubeqa, für das Bayer nach vielversprechenden Studien höhere Umsätze erwartet. Bayer kommt derzeit auf eine 1,2-fache Umsatzbewertung. Das ist ein erheblicher Abschlag gegenüber anderen Pharmawerten, deren Umsatzbewertung oft zwischen dem Dreifachen und dem Fünffachen des jährlichen Geschäftsvolumens liegt. Auch für Agrarchemiker – Bayers zweiter großer Bereich – sind höhere Multiples möglich. Die amerikanische Corteva etwa kommt auf das 2,2-Fache.
Für Bayer-Aktien heißt das: Je eher es Klarheit durch die in diesem Jahr anstehende Entscheidung des Obersten Gerichts in den USA zu den finanziellen Belastungen durch den Unkrautvernichter Glyphosat gibt, desto deutlicher dürften die Kurse anziehen. Entscheidend dürfte dabei in den nächsten Wochen der Kursbereich zwischen 56 und 58 Euro werden. Hier liegen seit Jahren wichtige mittelfristige Konsolidierungspunkte sowie der seit 2017 bestehende Abwärtstrend. Ein Anstieg über diese Zone, besser noch über die Marke von 60 Euro hinaus, wäre ein starkes Kaufsignal für Bayer. Dass der Kurs den Anstieg über die 200-Tagelinie bei 50 Euro schon geschafft hat, ist dafür ein gutes Vorzeichen.
Bei der Allianz gibt es mehr Klarheit über die Belastungen aus Rechtsstreitigkeiten in den USA. Dafür legt der Versicherer nun 3,7 Milliarden Euro zurück; der Jahresüberschuss 2021 wird mit 2,8 Milliarden Euro belastet. Zwar halten die Gespräche mit dem US-Justizministerium und der Wertpapieraufsicht SEC weiter an, doch die Risiken sollten damit in etwa abgedeckt sein. Operativ kommt die Allianz noch besser voran als erwartet. In allen Sparten sind die Geschäfte lebhaft. Die Dividende wird erhöht, eine Milliarde Euro fließt in Aktienrückkäufe. Allianz-Aktien sollten sich nach den jüngsten Meldungen zunächst weiter zwischen 210 und 230 Euro halten. Ein Anstieg über das alte Hoch bei 230 Euro könnte dann im späteren Jahresverlauf möglich sein – etwa wenn die Rechtsprobleme in den USA dann endgültig abgehakt werden.
Kräftig im Aufwind ist RWE. Deutschlands größter Energieerzeuger profitiert nicht nur von deutlich gestiegenen Strompreisen. Da der Strombedarf angesichts der forcierten Elektrisierung langfristig weiter zunimmt, fossile Kapazitäten jedoch zurückgefahren werden, wächst die Bedeutung, die Marktführer RWE für die allgemeine Versorgung hat. Zugleich ziehen die laufenden Geschäfte an: Für 2022 setzt RWE die Aussichten für den operativen Gewinn nun auf bis zu 4,0 Milliarden Euro hoch. Angesichts seiner Schlüsselrolle ist RWE mit einem Börsenwert von 26 Milliarden Euro nicht zu teuer. Kurzfristig könnte der Anstieg der RWE-Aktie im Bereich der Kursspitzen um 39 Euro ins Stocken kommen. Langfristig gehört RWE Dank seiner Schlüsselstellung auf dem Wachstumsmarkt Energie und seinem Ausbau der erneuerbaren Stromquellen zu den Favoriten im Dax. Die partielle Renaissance der Nuklearenergie ist ein zusätzlicher Kurstreiber.
Kräftig erwischt hat es seit Jahresanfang Dax-Neuling Symrise. In der Spitze hat die Aktie gut ein Viertel ihres Werts verloren. Zuletzt sorgten vor allem moderat ausgefallene Zahlen des großen Schweizer Konkurrenten Givaudan für Unsicherheit. Größte Belastung sind derzeit hohe Rohstoffkosten, die Symrise versucht, an Kunden weiterzugeben. Insgesamt dürfte das vergangene Jahr dennoch sieben bis acht Prozent Wachstum gebracht haben und ein höheres Gewinnplus. Die Position auf dem weltweiten Markt für Aroma- und Duftstoffe ist gut, der Ausbau des rentablen Geschäfts mit Zusätzen für Tiernahrung vielversprechend, Forschungen für Pflegezusätze erweitern das Angebotsspektrum.
Die größte Hypothek der Aktie ist ihre Bewertung. Die war zum Jahreswechsel so hoch, dass Symrise in den umfassenden WirtschaftsWoche-Analysen der 40 Dax-Werte nur als Halteposition eingestuft wurde. Zwar ist Symrise jetzt mit einer gut dreifachen Umsatzbewertung und einem KGV von mehr als 30 immer noch nicht billig. Doch die Bewertungsrelationen liegen nun immerhin im langjährigen Durchschnitt. Bei Kursen um 100 Euro ist ein Neueinstieg wieder interessant. Sollte Symrise noch etwas weiter nachgeben, wäre eine Aufstockung möglich.
Fazit für den Dax: Kurzfristig wird die Russlandkrise darüber entscheiden, ob im Dax weiterhin das wichtige Kursfundament zwischen 14.800 und 15.000 Punkten hält. Wenn die Anleihezinsen jetzt nicht gleich wieder nach oben durchziehen und die Ölpreise insgesamt eher konsolidieren, sollte das erst einmal möglich sein. Offene Flanke bleibt die hektische Entwicklung der Hightechwerte. Der Index der amerikanischen Nasdaq-Börse ist weiterhin relativ schwach, die laufenden Umschichtungen aus Technologieaktien dürften noch nicht beendet sein. Im Dax stehen besonders SAP und Infineon weiter unter Abgabedruck.
Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Aktien, deren Dynamik aktuell nach oben zeigt: Das sind vor allem Bayer, RWE, E.On, die Deutsche Bank und die Telekom. Dazu kommen stabile Klassiker wie Allianz, Münchener Rück, BASF, Mercedes-Benz, BMW sowie die Turnaround-Hoffnungen Continental, MTU Aero Engines und womöglich Henkel. Je mehr der deutsche Aktienmarkt durch solche differenzierte Entwicklungen durch die laufende Neubewertungsphase kommt, desto geringer ist sein generelles Crash-Risiko, wenn sich die Lage in Russland dann doch wieder zuspitzen sollte.
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