Riedls Dax-Radar
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Wo der Ausverkauf im Dax enden könnte

Nach 20 Prozent Verlust seit Jahresanfang beginnt am Aktienmarkt das Ausloten der Tiefpunkte. Eine besondere Rolle spielt dabei SAP, die wichtigste deutsche Technologieaktie.

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Mit der größten Zinserhöhung seit drei Jahrzehnten geht die amerikanische Notenbank Fed mit einer Entschlossenheit gegen die Inflation vor, die ihr vor wenigen Wochen noch nicht zugetraut wurde. Die britische Notenbank hebt den Leitzins schon zum wiederholten Mal an, die norwegische Notenbank begann schon im September mit Zinserhöhungen, auch die Schweizerische Nationalbank zieht die Zinszügel nun an. Und selbst die EZB hat, trotz aller politischen Rücksichtnahme auf wirtschaftlich schwache Länder, mittlerweile einen Straffungskurs eingeschlagen. Die große Zinswende, seit Jahren an den Wertpapiermärkten befürchtet, ist Wirklichkeit geworden. Und die Dynamik, die sie entfaltet, überrascht selbst Skeptiker. 

Seit März haben sich die Renditen für zehnjährige amerikanische Staatsanleihen auf bis zu 3,5 Prozent mehr als verdoppelt. Sie haben den höchsten Stand seit 2010 erreicht. Im Augenblick pendeln sie um die Marke von 3,2 Prozent. In Europa sind die Renditen für die führenden zehnjährigen Bundesanleihen binnen sechs Monaten von minus 0,4 auf plus 1,7 Prozent gestiegen. Die nächste, wichtige Spitze der Anleihezinsen liegt bei 2,0 Prozent. So hoch waren die Renditen letztmals Ende 2013. 

An den Aktienmärkten wird gern davon gesprochen, dass durch die heftigen Kursverluste der vergangenen Monate die Zinserhöhungen schon eskomptiert seien, also verarbeitet. Das mag für den gerade vorgenommenen 75-Punkte-Schritt der Fed gelten und womöglich auch für einen ähnlichen Schritt bei ihrer nächsten Sitzung im Sommer. Ob damit aber das gesamte Ausmaß einer echten Zinswende schon abgehakt sei, darf bezweifelt werden. Bei der letzten großen Zinswende 1982, als die Renditen damals nach jahrzehntelanger Kletterpartie wieder nach unten drehten, gab es für US-Anleihen 16 Prozent und für Bunds 11 Prozent – und der Dax stand damals bei 500 Punkten. Seitdem ist er um 3160 Prozent gestiegen; da ist erheblicher Korrekturspielraum entstanden. 

Dabei sind steigende Zinsen bei weitem nicht das einzige Problem der Wertpapiermärkte. Höhere Renditen erschüttern die gesamte Finanz- und Wirtschaftsarchitektur. Für das EU-Land Italien liegen die zehnjährigen Renditen schon im Bereich um vier Prozent. Angesichts einer Staatsverschuldung des Landes, die bei 150 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, zeichnet sich hier das Risiko einer Schuldenkrise ab. 

Und gerade jetzt verliert die Weltkonjunktur, die nach dem Coronaschock von 2020 zunächst wieder Fahrt aufgenommen hat, deutlich an Dynamik. Versorgungsprobleme, von Energie über Halbleiter bis zu Nahrungsmitteln, und die daraus folgenden Preissteigerungen machen eine Rezession wieder wahrscheinlicher. Die Häufung der Krisen trifft dabei längst nicht nur schwache Länder oder Unternehmen. Selbst Topunternehmen und Überflieger geraten unter Druck.   

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Hightech-Champion SAP mit weiteren Rückschlagrisiken 

Unter den Dax-Werten und großen Unternehmen hierzulande hat keines in den vergangenen Jahrzehnten so langfristige Wachstumsraten erzielt wie SAP. Doch der Wandel vom klassischen Verkäufer von Programmlizenzen zur Vermietung von Software via Cloud, den das Unternehmen nun eingeschlagen hat, verläuft langwierig und holprig. SAP profitiert damit zwar von einem Megatrend, der durch die aktuellen Turbulenzen noch angetrieben wird. So ist Software für das Management von Lieferketten, das Supply Chain Management, derzeit besonders gefragt; und SAP ist hier mit seinen Kernprodukten Weltspitze. Dennoch laufen die Kosten aus dem Ruder. Qualifiziertes Personal, Investitionen in Infrastruktur, Aktienoptionen und dann noch der teure Rückzug aus Russland drücken auf die operativen Zahlen. Dazu kommt die Wirkung steigender Zinsen, die das zuletzt starke Finanzergebnis wieder schwächer ausfallen lassen könnten. Schon im ersten Quartal hatte SAP mit nur 632 Millionen Euro Nettogewinn einen herben Rückgang hinnehmen müssen. 

Noch erwarten Banken von SAP in diesem Jahr einen Nettogewinn von 3,8 Milliarden Euro. Dazu müssten die Walldorfer nun in jedem Quartal im Schnitt mehr als eine Milliarde Euro netto verdienen. Ob SAP das angesichts der wackligen Wirtschaft schafft, ist fraglich. Sowohl bei Großkunden wie bei den zunehmend angepeilten mittelständischen Unternehmen hängt SAP eng am allgemeinen Auf und Ab der Wirtschaft. 

SAP-Aktien noch nicht billig, es bleibt Rückschlagpotenzial

Mit Kursen um 88 Euro liegen SAP-Aktien um 38 Prozent unter ihrem Allzeithoch aus dem Jahr 2020. Ein Schnäppchen sind sie deshalb aber nicht. Sollte SAP in diesem Jahr zum Beispiel 3,5 Milliarden Euro Nettogewinn erzielen, wäre das umgerechnet auf jede der 1,17 Milliarden Einzelaktien 3,0 Euro. Eine in kritischen Zeiten angemessene zwanzigfache Bewertung ergäbe dann einen theoretischen Zielkurs um 60 Euro. Das wäre immer noch ein Rückschlagpotenzial von 30 Prozent. Zuletzt notierte die Aktie in den Jahren 2013 bis 2015 auf einem solchen Niveau. 

Es gibt keinen Automatismus, der SAP jetzt noch so tief drücken muss. Dennoch zeigt diese Rechnung, dass selbst Aktien von Topunternehmen im Dax durch die Kursrückgänge der vergangenen Monate nicht einfach billig geworden sind. Kurstechnisch hat SAP den seit 2002 bestehenden langjährigen Aufwärtstrend mittlerweile deutlich gebrochen und zudem in den vergangenen sechs Jahren eine riesige obere Trendwende ausgebildet. Deren untere Begrenzung verläuft derzeit bei 95 Euro. Mit 88 Euro notiert die Aktie also schon ein Stück tiefer, das ist ein Warnsignal. SAP-Aktien stecken schon mitten im Kampf um den großen Trend, der sich wahrscheinlich zwischen 80 und 95 Euro entscheiden dürfte. Aus der Gefahrenzone wäre die Aktie erst wieder bei einem Anstieg auf deutlich über 100 Euro. Die schwierige Situation des Paradeunternehmens SAP zeigt, wie tief die Krise im Dax geht und dass sie wahrscheinlich erst nach langen Monaten, wenn nicht sogar erst nach Jahren, überwunden sein dürfte. 

Fazit für den Dax: Inflation, Zinswende, Schuldenkrise, Energie- und Rohstoffknappheit, Rezessionsgefahr, die geopolitische Verhärtung und nun auch noch eine mögliche Rückkehr der Pandemie: Angesichts dieser Ballung an Risiken ist ein Dax von 13.000 Punkten – das entspricht immerhin dem oberen Niveau von 2020 – alles andere als eine Katastrophe. Die Abschläge, die es im Dax seit Januar gibt, sind zwar heftig, aber sie haben bisher noch nicht das Ausmaß in den Abwärtsphasen der Hightechbaisse 2002/03, der Finanzkrise 2008 und des Coronacrashs 2020 erreicht. 

Besonders sichtbar ist das am Angstbarometer V-Dax, der aus den erwarteten Schwankungen am Optionsmarkt errechnet wird. Derzeit pendelt der V-Dax um einen Wert von 30, in Panikphasen des Aktienmarktes schnellt er aber auf 50 bis 80 hoch. Einfach gesagt bedeutet das: Am Aktienmarkt herrscht zwar eine deutlich erhöhte Nervosität, es besteht aber noch keine Ausverkaufspanik. 

Bei jeder großen Dax-Baisse der vergangenen Jahrzehnte kam es am Ende des Kursrückgangs zu einer Ausverkaufsphase mit Werten von über 50 im V-Dax. Angesichts der Masse der aktuellen Probleme wäre es verwunderlich, wenn es dieses Mal anders ablaufen sollte. Eine endgültige Bereinigung des Marktes steht damit weiterhin aus. 

Wo dies stattfinden könnte, dafür gibt es zumindest Anhaltspunkte. Bisher verlief die Abwärtsbewegung seit Januar in zwei Phasen: Einem ersten dynamischen Abschwung bis Anfang März und dann einer Seitwärtsbewegung bis Anfang Juni. Die erneut heftigen Abschläge in den vergangenen Tagen sind das Zeichen einer neuen, dynamischen Abwärtsphase. Sollte diese dritte Phase eine ähnliche Dimension wie die erste Phase annehmen, ergäbe das rechnerisch eine Rückschlaggefahr bis in den Bereich um 11.500 Punkte. Geht es nach den typischen Jahresschwankungen des Dax, könnte sich dieser Rückgang unter heftigen, kurzfristigen Schwankungen bis in die statistisch schwachen Monate August und September hinziehen.

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Licht am Ende des Tunnels könnte dann ausgerechnet von der Inflationsseite kommen. Schon erste Anzeichen dafür, dass die Dynamik der Preissteigerungen ihren Hochpunkt erreicht, vielleicht im Spätsommer, dürfte an den Aktienmärkten eine heftige Erleichterungsrally entfachen.

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