Die E-Mail scheint Routine: „Sehr geehrter Kunde, bitte beachten Sie, dass in Ihrem Postfach eine aktuelle Nachricht eingegangen ist.“ Die Nachricht aber ist so gar nicht mehr banktypisch; es ist die Rede von „operativen Fehlern“, in deren Folge Anleger „einen Verlust erlitten“ hätten. Für betroffene Anleger kann das viel Geld bringen: Sie bekommen nicht nur Geld zurück, das ihnen die Bank zu viel berechnet hat, sondern können womöglich Geschäfte, die ihnen Verlust gebracht haben, auch nach Jahren noch komplett stornieren.
Es geht um Zertifikate von Royal Bank of Scotland (RBS). Zertifikate sind Papiere, mit denen Anleger in Gold, Rohstoffe, Aktien oder Währungen investieren können. In aller Stille ist hier eine gigantische Entschädigungsaktion angelaufen. Die Bank, bis vor Kurzem eine ganz große Adresse in dem Geschäft, hat die Preise von über 300 Zertifikaten über Jahre falsch gerechnet. Das hat sie jetzt in Briefen an Anleger von sich aus zugegeben.
Wer Geld verloren hat, soll entschädigt werden. Der Fall ist einzigartig: Falsche Kurse in diesem Ausmaß und ein solches Entschädigungsangebot gab es noch nie, seit Zertifikate vor einem Vierteljahrhundert an deutschen Börsen eingeführt wurden.
Es geht dabei keineswegs um Peanuts: Deutsche Anleger haben aktuell 66 Milliarden Euro in Zertifikaten stecken. Anders als bei Aktien werden die Kurse von Zertifikaten nicht von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern von der Emittentin – der Bank, die sie konstruiert und verkauft hat. Rechnet die falsch, kann das Anleger viel Geld kosten.
Die Zertifikate beziehen sich vor allem auf Rohstoffe und auf Gold, Silber und Öl. Einige bilden auch internationale Aktienindizes ab, etwa den japanischen Nikkei oder den amerikanischen S&P 500. Zwei Drittel der betroffenen Papiere sollen den Preis ihres entsprechenden Basiswerts eins zu eins abbilden, etwa den für Gold. Andere sind Hebelzertifikate – riskante Spekulationsvehikel, die Kursbewegungen ihrer Basiswerte um ein Vielfaches verstärken und so mit kleinem Einsatz große Gewinne ermöglichen. Oder Verluste.
Kurse der Quanto-Zertifikate falsch berechnet
Herausgegeben wurden die Zertifikate seit 2003, viele von der niederländischen ABN Amro Bank. 2007 übernahm die RBS die ABN Amro und deren Zertifikategeschäft. Der Rohstoffboom an den Weltbörsen führte dazu, dass Anleger der ABN Amro und später der RBS die Zertifikate aus den Händen rissen. 2012, als die Preiskurven für Gold und Öl nahe ihrem Rekordniveau verliefen, hatte die RBS an dem damals 100 Milliarden Euro großen deutschen Zertifikatemarkt insgesamt 3,6 Prozent Anteil. Bei spekulativen Hebelpapieren war sie mit fast zwölf Prozent Marktanteil einer von drei ganz großen Spielern.
Falsch berechnet wurden vor allem die Kurse von sogenannten Quanto-Zertifikaten. Das sind Zertifikate, die Anleger vor Währungsverlusten schützen sollen, etwa vor Einbußen durch einen fallenden Dollar. Dieser Schutz ist sinnvoll, weil fast alle Rohstoffe in Dollar notieren. Wer Gold- oder Ölzertifikate kauft, hat automatisch auch die US-Währung im Depot. Quanto-Zertifikate sicherten Anleger vor einem Wertverfall des US-Dollar ab – gegen eine Gebühr, die sich die Bank sofort vom Kurs des Zertifikats abzweigt. Und diese Gebühr wurde falsch berechnet. „Bestimmte Eingabewerte“ seien über „einen längeren Zeitraum nicht aktualisiert“ worden, heißt es in einem RBS-Schreiben an ihre Anleger.
Hinter Quanto steckt eine komplizierte Rechnung, die Gebühr muss ständig parallel zum Auf und Ab an den Währungsmärkten aktualisiert werden. Zieht die Bank zu wenig Gebühr vom Zertifikatekurs ab, kommt sie nicht auf ihre Kosten, denn Währungssicherung ist teuer. Zieht sie zu viel ab, nimmt sie dem Anleger zu Unrecht Geld weg.
Absicherung über Finanzinstrumente
Technisch läuft die Absicherung über Optionen. Das sind Finanzinstrumente, die ihrem Besitzer das Recht geben, zum Beispiel den Dollar zu einem späteren Zeitpunkt zu einem bereits heute vereinbarten Preis zu kaufen oder zu verkaufen. Veränderungen des Optionspreises sollen Währungsschwankungen ausgleichen. Weil Optionen irgendwann fällig werden, viele Zertifikate aber unbegrenzt laufen, müssen immer wieder neue Optionen mit ihnen verknüpft werden. „Dies alles genau zu berechnen und stets möglichst aktuell zu halten ist für Emissionsbanken durchaus kompliziert und kann im Laufe der Jahre zu einer erheblichen Fehlerquote führen“, sagt ein ehemaliger Banker von Goldman Sachs.
Für Anleger können Fehler in der Quanto-Berechnung teure Folgen haben. Wenn der Basiswert eines Zertifikats, etwa der Goldpreis, in einem Jahr um 15 Prozent steigt und die Währungssicherung zwei Prozent pro Jahr kostet, bleiben unterm Strich 13 Prozent übrig. Wenn nun aber die Emissionsbank die Quanto-Gebühr falsch berechnet und womöglich vier Prozent abzieht, bleiben dem Anleger nur noch elf Prozent. Je länger solche Fehlberechnungen anhalten, umso größer der Schaden für Anleger.
Genau dieser Langzeiteffekt machte sich bei den RBS-Papieren bemerkbar.
Zu den beliebtesten Zertifikaten auf dem deutschen Markt gehören seit mehr als zehn Jahren Papiere auf den Goldpreis. Jede führende Zertifikatebank hat ein solches Papier im Angebot; natürlich auch in Quanto-Version, verspricht die doch die gleiche Wertentwicklung wie die bekannte Goldpreiskurve in Dollar, weil sie die Währungsschwankungen eliminiert. Einer der Bestseller dieser Art, ein währungsgesichertes Goldzertifikat der Deutschen Bank, wurde sogar von Börsen und Fachgremien als „Zertifikat des Jahres“ ausgezeichnet.
WirtschaftsWoche warnte vor „fataler Gebührenfalle“
In der Phase des Goldpreisanstiegs bis 2011 liefen alle Gold-Quantos fast genauso wie Gold in Dollar – auch das wichtigste RBS-Gold-Zertifikat mit der Nummer A0AB84. Seit 2011 jedoch, das zeigt der Chartvergleich, driften die Kurven auseinander. Während Gold in Dollar in der Baisse 2011 bis 2015 um 45 Prozent sank, verlor das RBS-Zertifikat 60 Prozent. Das vergleichbare Papier der Deutschen Bank schlug sich deutlich besser.
Die WirtschaftsWoche warnte am 16. September 2013 vor der „fatalen Gebührenfalle“ bei RBS-Quanto-Zertifikaten. Die RBS berechnete zum damaligen Zeitpunkt 3,66 Prozent jährliche Quanto-Gebühr, deutlich mehr als andere Banken. „Dass bestimmte Werte für die Festsetzung der Höhe der Quanto-Gebühr nicht aktualisiert worden waren, wurde damals nicht bemerkt“, sagt RBS-Sprecherin Andrea Blecker. Je länger die Zertifikate auf dem Markt waren, desto stärker wirkten sich die Fehler aus.
Vor zwei Jahren begann die Royal Bank of Scotland damit, sich des Zertifikategeschäfts zu entledigen. Ab Herbst 2014 ging die ganze Palette der RBS in mehreren Schritten auf die französische Großbank BNP Paribas über. Spätestens bei dieser Migration, so vermuten Vertreter der beteiligten Banken gegenüber der WirtschaftsWoche, seien die falschen Kurse offensichtlich geworden. Am 14. Dezember 2015 informierte die RBS deshalb Kunden der Banken, über die ihre Zertifikate verkauft worden waren. Auf sechs Seiten listete sie die Zertifikate auf, bei der sie falsche Kurse festgestellt hatte.
Falsch gelaufene RBS-Zertifikate werden ausbezahlt
Gleichzeitig startete sie eine umfassende Entschädigungsaktion: Bei allen Zertifikaten, die zu diesem Zeitpunkt noch gehandelt wurden, korrigierte sie die Kursnotierung. Das Quanto-Goldzertifikat mit der Kennummer A0AB84 wurde bei dieser Aktion von 72 Euro auf 90 Euro heraufgesetzt; an einem Tag, an dem der Goldpreis selbst um zehn Dollar nachgab.
Gleichzeitig wurde der Verkauf des Zertifikats eingestellt, genauso wie der von etwa 100 weiteren immer noch an der Börse notierten Papieren, deren Kurse falsch waren. Seit Mitte Dezember bietet die Bank nur noch Geldkurse, zu denen Anleger die Zertifikate verkaufen können. Spätestens am 21. Dezember 2016 ist mit der Börsennotiz endgültig Schluss. Dann werden auch die letzten der einst falsch gelaufenen RBS-Zertifikate ausbezahlt.
Mit den Anlegern, die falsch bepreiste Zertifikate der RBS zwar besaßen, diese aber vor der Kursanpassung vom 14. Dezember verkauft hatten, sucht die RBS nun einen Ausgleich. Betroffene Anleger sollen sich mit der RBS in Verbindung setzen und ihre Käufe und Verkäufe jeweils durch Abrechnungen belegen. Die RBS prüft dann, ob Anleger infolge der falschen Kurse einen Verlust erlitten haben. Sollte dies der Fall sein, „werden wir für diesen Verlust eine Entschädigung anbieten“, verspricht die Bank.
Seit wenigen Wochen läuft die Entschädigungsaktion der RBS. „Wir sehen lebhafte Reaktionen von Anlegern und haben relativ viele Registrierungen“, sagt Jörn Peglow, Jurist bei der RBS. Da die RBS in jedem Einzelfall die Unterlagen prüft und die Kurse des entsprechenden Zertifikats neu berechnet, dürfte die gesamte Aktion noch Monate dauern. „Die Entschädigung soll den Unterschied ausgleichen, der durch die Fehlberechnung entstanden ist“, sagt Anwalt Peglow. „Verluste, die auf einen sinkenden Basiswert zurückzuführen sind, betrifft das aber nicht.“ Soll heißen: Wer Geld verloren hat, etwa weil der Goldpreis gefallen ist, bekommt nur die zu viel berechneten Kosten ersetzt, nicht seinen Gesamtverlust.
Entschädigung ist nur auf den ersten Blick großzügig
Genau hier macht es sich die Bank womöglich aber zu einfach: „Zivilrechtlich können Anleger geltend machen, dass sie das Zertifikat gar nicht gekauft hätten, wenn ihnen die jetzt von der RBS eingeräumten Fehler bekannt gewesen wären“, sagt Peter Mattil, Anlegeranwalt aus München. „Wenn Anlegern ein Schaden entstanden ist, könnten sie dann den vollen Kaufpreis zurückverlangen und nicht nur eine überschaubare Entschädigung aus der Fehlberechnung.“
Die Kosten für die RBS wären dann viel höher. Mit Goldzertifikaten haben Anleger in der Baisse viel verloren. Die Entschädigung, mit der die Bank die Flucht nach vorn antrat, könnte also nur auf den ersten Blick großzügig sein.
Sollten betroffene Anleger klagen? Bei kleinen Streitwerten dürfte das wenig lohnend sein. Doch bei großen, womöglich fünfstelligen Verlusten kann das anders aussehen. Immerhin 80 betroffene Zertifikate sind Hebelpapiere auf Gold und Silber, mit denen man richtig Geld versenken konnte.
Dass es zudem bei einigen exotischen Zertifikaten bei der Korrektur vom 14. Dezember zu erheblichen Kursanhebungen kam, spricht hier für einen enormen Entschädigungsbedarf. Sollten Anleger, die hohe Verluste erlitten haben, diese einklagen, könnten die Rechenfehler die Royal Bank of Scotland viele Millionen kosten.