Um genau 9 Uhr, 23 Minuten und 51 Sekunden des 8. Juli 2013 ist es geschafft: Osram, traditionsreicher Hersteller von Leuchtstoffröhren und Glühbirnen, hat das Licht der Weltbörsen erblickt. „Erster Kurs: 24,00 Euro“, zeigt der Orderschirm des Handelssystems Xetra der Börse Frankfurt. Der Händler rutscht, unter deutlich vernehmbarem Pusten, an der Lehne seines Sessels in die Tiefe: „Das war ’ne schwere Geburt, was?“
Man kann schlecht widersprechen. Zwei Mal hatte Siemens schon versucht, Osram loszuwerden, ein halbes Dutzend Sanierungsprogramme bei seiner Tochter durchgezogen. 2011 scheiterte ein Börsengang, 2012 ein Verkauf der Sparte an Investoren.
Niemand wollte Osram haben – immerhin die Nummer zwei im weltweit wachsenden Markt für Leuchtdioden, LEDs. Zu viele Altlasten, zu viel Investitionsstau, zu starke Konkurrenz. Also spaltete Siemens den Bereich einfach ab und buchte seinen Aktionären je zehn Siemens-Aktien eine Osram ins Depot. Mehr als 80 Prozent von Osram ist der Konzern so nun los, muss deren Ergebnisse (oft waren es Verluste) nicht mehr in der eigenen Bilanz ausweisen.
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Erfreut sind heute, nur drei Wochen nach dem Start, alle Beteiligten: Die Osram-Aktie hat satte 17 Prozent im Kurs zugelegt, Siemens-Papiere ebenfalls zunächst starke sieben Prozent – bis eine Gewinnwarnung vergangenen Donnerstag den Anstieg stoppte. Addiert waren bis dahin Siemens/Osram acht Milliarden Euro mehr wert als vor der Abspaltung.
Auf eine ähnliche Erfolgsgeschichte hoffen aktuell Aktionäre von Sony. Bei den Japanern forciert ein aggressiver Investor eine Aufspaltung: Hedgefondsmanager Daniel Loeb verwaltet gut 13 Milliarden Dollar und ist bei Vorständen gefürchtet, weil er gerne seiner Meinung nach unzureichend arbeitende Manager öffentlich in seinen Newslettern abkanzelt. Loeb, der 6,5 Prozent am Elektronikriesen hält, findet, Sonys Unterhaltungssparte sei unterbewertet und solle möglichst rasch aus dem Konzern herausgelöst werden.
Nicht nur Loeb bemängelt seit Jahren, dass Sony als Ganzes nicht besonders profitabel arbeitet. Besonders die Elektronik-sparte leidet unter den vielen chinesischen und koreanischen (Billig-)Wettbewerbern und hat in den vergangenen Jahren Verluste in Höhe von mehreren Milliarden Dollar eingefahren. Allein das Geschäft mit der Sony Play Station verlor 2012 zwölf Prozent Umsatz; 2012 machte der Konzern umgerechnet 4,2 Milliarden Euro Verlust. Auch der Aktienkurs leidet seit Jahren unter dem schwachen Stammgeschäft mit TV, Computer und Handy.
Demgegenüber ist die Unterhaltungssparte mit Plattenfirma und Filmstudios (Sony Entertainment) hoch profitabel. Wenn auch nicht ganz so profitabel wie reinrassige Branchenvertreter. Eine Abspaltung brächte Sony um die zwei Milliarden Dollar ein – genug, um seine restlichen Bereiche zu sanieren, argumentiert Loeb. Ganz Unrecht gibt ihm der Kapitalmarkt nicht: Seit Loebs Forderungen erstmals laut wurden, hat die Sony-Aktie um rund 90 Prozent zugelegt.
Start mit Hindernissen
Mächtig Gewinn machten auch Bayer-Aktionäre, die 2005 Teile des Chemiegeschäfts der Leverkusener als Zusatzaktie ins Depot gebucht bekamen: Färb- und Gerbstoffe erschienen wenig sexy und passten dem Dax-Konzern nicht mehr ins Portfolio. Als sich keine Käufer fanden, verschenkte Bayer die Tochter an seine Aktionäre.
Töchter zum Schnäppchenpreis
Die so entstandene Lanxess wurde unter eigenem Management bald saniert. Die Aktie liegt heute 200 Prozent im Plus und ziert, wie die Mutter, inzwischen den Dax. Anleger, so zeigen es die Beispiele Osram und Lanxess, die zum richtigen Zeitpunkt zugreifen, bekommen von Konzernen abgespaltene Töchter (Spin-offs) oft zum Schnäppchenpreis.
Denn meist sind die ausgegliederten Bereiche die Stiefkinder der Mutterkonzerne. Sie gelten beim Start ins eigene Börsenleben oft als wachstumsschwach oder unrentabel, mindestens aber als langweilig. Zum echten Spin-off, bei dem die Aktionäre des Mutterkonzerns ungefragt Aktien der neuen Firma ins Depot gebucht bekommen, kommt es zudem oft erst, wenn andere Mittel, um die Bereiche unter die Anleger zu bringen, schon gescheitert sind – ein Verkauf an Investoren, Konkurrenten oder ein klassischer Börsengang.
Genau darin liegt die Chance für geduldige Investoren: Spin-offs kommen so gut wie nie überteuert an den Markt, eben weil es nicht die Filetstücke der Konzerne sind. Abgabedruck durch Investoren, die die Aktien im Rahmen der Abspaltung unfreiwillig in die Depots gebucht bekamen, sorgt nicht selten dafür, dass die Aktien der Börsenneulinge in den ersten Handelswochen sogar noch billiger werden. Im günstigen Fall entwickeln die früheren Stiefkinder bald ein Eigenleben mit neuem, fokussiertem Management, Zugang zum Kapitalmarkt und einer besser motivierten Mannschaft.
Preise nicht ausreizen
„Wäre etwa Lanxess als klassisches IPO an den Markt gekommen, wäre die Wertentwicklung sicher schwieriger gewesen“, sagt Klaus Schlote, Chef des Research beim Broker Solventis. Der Grund: Das Gros der Börsengänge findet statt, wenn die Aktienmärkte schon gut gelaufen und die Bewertungen hoch sind – das Marktumfeld also günstig ist, wie es in der Sprache der Investmentbanker heißt.
Bei IPOs wird der Preis oft überzogen: In der Hausse hungern Investoren nach neuen Aktien, das Unternehmen will möglichst viel Geld einsammeln, Banken überbieten sich gegenseitig mit ihren hochfliegenden Businessplänen und Schätzungen; kein Wunder, dass die spätere Wertentwicklung der allermeisten IPOs sehr zu wünschen übrig lässt.
Anders bei Spin-offs. Christian Funke und Timo Gebken von der Fondsboutique Source-for-Alpha haben Spin-offs wissenschaftlich untersucht. Die Frankfurter betreiben einen Fonds, der unter anderem gezielt in junge Unternehmen an der Börse investiert. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Spin-offs den Gesamtmarkt fast immer schlugen; das galt sowohl in positivem Börsenumfeld wie in Bärenmärkten.
In einer US-Studie von 2003 schaffte ein Korb aus 101 zufällig zusammengestellten Spin-offs eine Wertentwicklung von 29,8 Prozent in vier Jahren. Der Gesamtmarkt verbuchte einen Verlust von neun Prozent im selben Zeitraum. Funke: „Allerdings ist die Wertentwicklung der einzelnen Spin-off-Aktien sehr unterschiedlich; es gab zahlreiche ausgegliederte Unternehmen, die mehr als 90 Prozent verloren haben, aber noch viele Aktien mehr, deren Kurs in den ersten vier Jahren nach dem Börsenlisting gleich um mehrere Hundert Prozent zulegte; insgesamt ist die Bilanz positiv.“
Spin-offs laufen besser als der Rest der Börse
Die wissenschaftlichen Untersuchungen widersprechen der häufigen Meinung, dass in Spin-offs nur unverkäuflicher Schrott an den Markt komme, den die Konzernmütter dringend loswerden wollten. „Es stimmt nicht generell, dass nur Bauchläden von schwach-rentablen Bereichen als Abspaltungen an den Markt kommen und IPOs das Tafelsilber enthielten“, sagt der US-Finanzwissenschaftler Byron Hollowell.
„Vielmehr entscheidet die aktuelle Marktphase – Hausse oder Baisse – darüber, ob ein Konzernteil als Börsengang oder als Spin-off an den Markt kommt.“ IPOs und Verkäufe an Investoren würden oft auch einfach nur deswegen einem Spin-off vorgezogen, weil schnell Cash gebraucht werde, so Hollowell.
Warum laufen Spin-off-Aktien im Durchschnitt besser als der Rest der Börse und vor allem viel besser als Börsengänge (IPOs)? Es liegt erstens vor allem am Preis: Oft wurde im Vorfeld schon ein Verkauf an ein anderes Unternehmen oder einen Investor versucht, „da können die Konzernmanager beim Preis nicht mehr pokern und sind häufig bereit, das ausgegliederte Geschäft fast zu verschenken“, sagt Robert Suckel, Hedgefondsmanager bei SPS Investment in Hamburg.
Zweitens: Spin-offs haben, anders als an der Börse bereits etablierte Unternehmen, noch keinen für die Investoren nachvollziehbaren Erfolgsausweis, etwa seit einigen Quartalen stabile Cash-Flows, Gewinne oder gar Dividenden. „Häufig bekommt man nicht mal eine vernünftige Gewinn-und-Verlust-Rechnung oder Bilanz für die vergangenen Jahre des abgespaltenen Bereichs“, so Suckel, „an der Börse drückt das den Preis der Neulinge.“
Nicht zu früh kaufen
Wichtig für Anleger ist Geduld. „In den ersten Monaten verlieren die abgespaltenen Aktien häufig weiter an Wert, weil viele Investoren, die die Papiere ungefragt ins Depot gebucht bekommen haben, sie schnell wieder verkaufen wollen“, meint Funke. Anleger sollten daher nicht zu früh einsteigen. Funke: „In den ersten beiden Quartalen sind die jungen Aktien zudem noch sehr volatil, es herrscht noch große Unsicherheit bei Investoren darüber, wie die ersten Quartalsergebnisse ausfallen werden.“
Bei den meisten untersuchten Spin-offs wäre der ideale Kaufzeitpunkt daher drei bis sechs Monate nach dem Börsendebüt gewesen, meint Funke.
Gibt es Kriterien, nach denen Spin-offs besonders gut laufen? „Es gibt Ausnahmen von der Regel, aber in der Tendenz gilt: je kleiner und fokussierter der abgetrennte Bereich, desto besser die Chance auf eine langfristige Wertsteigerung“, sagt Funke. Häufig würden die sogenannten „Pure Plays“ später wieder von anderen Konzernen aufgekauft.
Das prominenteste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die Übernahme von Motorola Mobility durch Google 2012, nachdem der Handybereich zuvor aus dem Motorola-Konzern ausgegliedert worden war. Gebken: „Wir haben seit 1990 in den USA 280 neue Unternehmen, die von ihren Müttern abgespalten wurden, untersucht, davon wurden 62 in den ersten fünf Jahren nach der Abspaltung wieder übernommen.“ Fast alle waren sogenannte „Pure Plays“ – also Firmen, die auf eine einzige Branche konzentriert sind.
Vom Allrounder zum Spezialisten
Durch Abspaltungen entstehen oft Branchenspezialisten, wie Osram, Takkt (ehemals Gehe/Celesio), AOL (von TimeWarner) oder der Online-Reisedienst Expedia (von Microsoft). Diese hätten häufig im früheren Konzernverbund nicht frei genug agieren können, um ihre Stärken auszuspielen, meint der US-Finanzwissenschaftler John McConnell. „Die langen Entscheidungswege in einem Konzern sind in der Regel hinderlich, vor allem wenn man sich in einem schnell wachsenden Markt oder in technologischem Neuland bewegt“, sagt McConnell.
Eine verlässliche Methode
Der Druck auf die Konzerne, unrentable oder schwache Bereiche auszugliedern, werde zunehmen, meinen Kapitalmarktexperten. „In unseren jüngsten Investoren-Umfragen kam klar heraus, dass Investoren in den kommenden Monaten von den Unternehmen nicht mehr so sehr Firmenkäufe, sondern vor allem Verkäufe schwach rentabler Bereiche fordern werden“, sagt Frank Plaschke, Senior Partner bei Boston Consulting.
„In dem Maße, wie die anderen Methoden zur Rentabilitätssteigerung schon ausgeschöpft sind, etwa der Zukauf stark rentabler, kleinerer Wettbewerber oder Kostensenkungsprogramme, werden Spin-offs wieder populärer und häufiger werden, meint Joe Cornell von der US-Beratungsfirma Spin-Off Advisors: „Sie sind für Konzernmanager eine einfache und verlässliche Methode, die Rentabilität und damit den Börsenwert des Gesamtkonzerns zu erhöhen.“
Gemessen am Spin-Off-Index des Datenanbieters Bloomberg, der die Wertentwicklung aller abgespaltenen Aktien misst, ist das wahr: Binnen zwölf Monaten stieg der Index zuletzt um 47 Prozent (siehe Grafik), weit mehr als der US-Gesamtmarkt, der (gemessen am S&P 500) nur 14 Prozent hinzugewann.
„Spin-offs kommen üblicherweise in steigenden, aber volatilen Märkten, weil die heftigen Schwankungen wiederum hinderlich für klassische Börsengänge sind“, meint Doug Sandler vom US-Hedgefonds River Front, „in nächster Zeit werden wir noch einige Abspaltungen sehen“, prophezeit Sandler, „zumal die IPO-Aktivität, gemessen an den Höchstständen vieler Indizes, zu gering ist.“
Der Düsseldorfer Anlagenbauer Gea etwa will sein Geschäft mit Wärmetauschern abgeben. Es macht mit rund 1,6 Milliarden Euro knapp 30 Prozent des Umsatzes aus, war aber in den vergangenen drei Jahren der wachstumsschwächste Bereich. Allerdings könnte der Bereich womöglich noch nicht so schnell an die Börse kommen, da Gea ihn wohl zunächst Finanzinvestoren andienen möchte. Dem Vernehmen nach will Gea 1,3 Milliarden Euro dafür haben.
Rückenwind ohne Verkauf
Egal, ob Spin-off oder Verkauf – der Gea-Aktie könnte eine Abspaltung Rückenwind verleihen. Der Konzern könnte sich mehr auf das schnell wachsende Geschäft mit der Nahrungsmittelindustrie konzentrieren. Wegen der wachsenden Weltbevölkerung und steigendem Nahrungsbedarf sehen die Düsseldorfer hier steigenden Bedarf für ihre Maschinen und Anlagen.
Wegen des zu erwartenden stabileren Geschäfts und der gestärkten Finanzen würde das eine höhere Bewertung zulassen. Ingersoll Rand will seine Sicherheitssparte (Gebäudetechnik, Schließanlagen, Zutrittskontrolle) abspalten und an den Markt bringen, spätestens bis Ende 2013 und wohl nicht zuletzt auf Druck des Hedgefondsmanagers Nelson Peltz, wie es aus dem Unternehmen heißt.
Software AG sollte sich spalten
Der US-Mischkonzern mit Sitz in Irland stellt außerdem Kältetechnik („Thermo-King“), Golfzubehör, Kompressoren, Ventilatoren und Heizungsanlagen her und machte 2012 rund 14 Milliarden Dollar Umsatz. Einen Namen für die neue Sicherheitsfirma gibt es schon: Das neue Unternehmen wird Allegion heißen und rund zwei Milliarden Dollar Umsatz machen. Allegion hat das Zeug zur Erfolgsgeschichte: Die Sicherheitsbranche hat ein hohes Wachstum, und kaum ein reinrassiger Vertreter ist an der Börse notiert.
Auch der Darmstädter Software AG, nach SAP zweitgrößter deutscher IT-Konzern, täte die Abspaltung eines ihrer Geschäftsbereiche gut, meinen einige Analysten. Bei der Übernahme von IDS Scheer im Jahre 2010 habe man eigentlich deren Produkte („Aris“), nicht jedoch das umfangreiche, aber margenschwache Servicegeschäft im Auge gehabt.
Damals sei IDS aber nur als Gesamtpaket zu haben gewesen, heißt es. Es kam, wie zu befürchten war: Das ungewollte Servicegeschäft entwickelte sich unter dem neuen Management nicht unbedingt besser. Es ist seit der Übernahme von 178 Millionen auf nur noch rund 120 Millionen Euro Umsatz geschrumpft. Ein Teil davon, das US-Servicebusiness, ist schon verkauft.
Für den Rest (hauptsächlich Deutschland) fand sich offenbar noch kein solventer Käufer. Ein IPO scheint ebenfalls kaum möglich, denn „angesichts der niedrig bewerteten Konkurrenz und der schwachen eigenen Rentabilität kämen kaum mehr als 40 Millionen Börsenwert dabei rum“, meint ein Analyst. Gut möglich also, dass Software den Bereich abspaltet und sich wieder als reiner Softwarekonzern aufstellt.
Klein, aber gewinnträchtig
„Prinzipiell gefährdet sind alle Unternehmen, die, entweder aus früheren Übernahmen oder historisch gewachsen, Geschäftsfelder haben, die sich vom Rest des Unternehmens und dessen Kerngeschäft im Laufe der Zeit wegentwickelt haben und mit denen kaum noch Synergien ausgeschöpft werden können“, so Fondsmanager Suckel.
So könnten Fluggesellschaften auf die Idee kommen, Bereiche abzuspalten, die nicht (mehr) ihr Kerngeschäft sind, sich aber einst daraus entwickelten. So wie etwa Buchungssysteme oder das Catering. Genau das – sein Verpflegungsgeschäft abzuspalten – soll Insidern zufolge die Lufthansa intensiv prüfen. Beispiele in der Branche gibt es schon: Canadian Airlines trennte 2005 sein Bonuspunktesystem ab und brachte es als Aeroplan an die Börse.
Auf ein besonderes Schnäppchen werden die Anleger dagegen wohl noch eine Weile warten müssen: Immer wieder fordern Investoren, Fiat möge seine Sportwagentochter Ferrari abspalten und an die Börse bringen. Der Sportwagenbauer ist im Vergleich zur Mutter zwar klein, dafür aber hoch profitabel. Doch so bald, sagt ein hochrangiger Fiat-Manager, werde man Ferrari nicht von der Leine lassen, „obwohl die Aktie sicher Klasse hätte; ich persönlich würde sie jedenfalls sofort kaufen“.