Das war knapp. Anfang Februar stand die Stromversorgung in Deutschland kurz vor dem Kollaps. Strom, der im Inland gebraucht wurde, floss nach Frankreich. Wegen des Kälteeinbruchs hatten die Franzosen ihre Elektroheizungen aufgedreht. In Deutschland, wo mit Öl und Gas geheizt wird, mussten die Netzbetreiber die Notreserve für Störfälle anzapfen, also zusätzliche Kraftwerke ans Netz bringen – etwa ein Gaskraftwerk in Wiesbaden und ein Kohlekraftwerk in Mannheim.
Zocker treiben den Strompreis
Schuld an dem Engpass, so die Bundesnetzagentur, sollen Stromhändler gewesen sein, die den Bedarf ihrer deutschen Stromkunden bewusst nach unten gerechnet hatten, um Kosten zu sparen. Statt den Strom teuer an der Börse zu kaufen, um ihre Lieferverpflichtungen an Kunden zu erfüllen, hätten sie darauf vertraut, dass die Netzbetreiber die Stromlücke füllen. Viel Luft war nicht mehr: Anfang Februar war die Notreserve zeitweise zu 90 Prozent beansprucht. Der Vorfall wirft erneut ein schlechtes Licht auf den Stromhandel.
Strom ist keine Ware wie jede andere. Zwar wird er wie Öl, Eisenerz oder Weizen an der Börse gehandelt, aber er lässt sich, anders als Rohstoffe, nicht in großen Mengen speichern. Wer zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Menge Strom benötigt, kann an der Börse zwar auf Termin kaufen, muss dann aber darauf vertrauen, dass im entscheidenden Moment ausreichend Strom im Netz ist. Solange sich alle, die am Stromhandel beteiligt sind – vor allem Energiekonzerne und ihre Handelstöchter –, an die Spielregeln halten, funktioniert das System. Es wird dann nur so viel verkauft, wie ins Stromnetz eingespeist wird.
Rechenfehler führen zu Notkäufen
Der Börsenpreis dient als Referenzpreis für den gesamten Stromhandel, der zu 75 bis 80 Prozent außerhalb der Börse stattfindet. Er soll Angebot und Nachfrage auf dem Strommarkt abbilden. Das System krankt an drei Problempunkten:
- 80 Prozent des Stromangebots und auch ein Großteil des Handels, werden von den vier Produzenten E.On, RWE, EnBW und Vattenfall kontrolliert. Sie können ihre Marktmacht zum eigenen Vorteil und zulasten des Stromkunden einsetzen.
- Die Auftraggeber von Börsengeschäften bleiben anonym. Manipulationen sind möglich, aber schwer nachweisbar.
Der außerbörsliche Stromhandel unterliegt keinerlei Aufsicht. Es besteht die Gefahr, dass Preise abgesprochen werden.
Stromhändler können in Eigenregie oder im Auftrag ihrer Kunden – Energiekonzerne, Industrieunternehmen oder Finanzinstitute – in drei Börsensegmenten handeln: Im Intraday-Handel decken sich Käufer innerhalb eines Tages, am Spotmarkt für den folgenden Tag und am Terminmarkt Wochen bis Monate im Voraus ein. Der Terminmarkt läuft an der Strombörse Leipzig (EEX), der Intraday-Handel und der Spotmarkt dagegen sind an der EPEX in Paris angesiedelt, einer Tochter der EEX und der französischen Strombörse Powernext.
Anfang Februar sollen einzelne Händler weniger Strom geordert haben, als ihre deutschen Kunden benötigten. Die Händler, die unter Verdacht stehen, arbeiten an der Nahtstelle zwischen den Kraftwerksbetreibern und den regionalen Stromanbietern sowie den Großabnehmern und Privathaushalten. Damit das Netz einer Region genug Strom für alle Kunden liefert, müssen sie Prognosen über den Bedarf des Folgetages abgeben. Verrechnen sie sich, muss der Netzbetreiber zusätzlichen Strom einkaufen, aus Kraftwerken, die in Reserve gehalten werden.
Stromriesen im Visier
Normalerweise weichen die Prognosen nur leicht vom tatsächlichen Verbrauch ab. Anfang Februar war die Differenz so hoch, dass die Bundesnetzagentur Verdacht schöpfte. Dabei unterstellte sie folgendes Szenario: Weil die Franzosen wegen des Kälteeinbruchs mehr Strom verheizten, schoss der Börsenpreis für kurzfristig gehandelten Strom nach oben (siehe Grafik). Im Börsen-Intraday-Handel für Strom, der frühestens nach 45 Minuten geliefert wird, stieg der Preis am besonders frostigen 7. Februar zeitweise bis auf 380 Euro je Megawattstunde. Normal sind etwa 50 Euro je Megawattstunde.
Bedarf klein gerechnet
Den Händlern war der Börsenpreis zu hoch. Um nicht teuren Strom kaufen zu müssen, rechneten sie den Bedarf ihrer Kunden nach unten. Wegen der falschen Prognosen floss ein Teil des in Deutschland erzeugten Stroms nach Frankreich. Die Bedarfslücke mussten die Netzbetreiber füllen. Die Händler wetteten darauf, dass dieser Strom aus den Reservekraftwerken (Regelenergie) billiger sein werde als der an der Börse gehandelte. Die Regelenergie wird nicht an der Börse gehandelt, weil sie nur für Störfälle oder kurzfristige Verbrauchsabweichungen vorgesehen ist. Sie ist nicht dazu da, um Kosten im Stromeinkauf zu optimieren.
Riskante Wetten
Derzeit fahndet die Netzagentur nach den Schuldigen. Infrage kommen vor allem Händler der Stromanbieter. Die Töchter von RWE und E.On bestreiten jedoch eine Beteiligung. E.Ons Stromhandel etwa reklamiert, man habe während der Kälteperiode durch massive Unterstützung der Netzbetreiber in Deutschland dazu beigetragen, die Stromversorgung zu sichern. RWE will sogar mehr Bedarf angemeldet haben, als tatsächlich benötigt wurde. Stromanalyst Tobias Federico von Energy Brainpool in Berlin glaubt, dass die Händler, die sich auf die Notreserve verlassen haben, mit ihren Wetten ein hohes Risiko eingegangen sind. Erst in einigen Wochen ziehe der Netzbetreiber Bilanz und rechne aus, was der Strom aus den hastig angeworfenen Reservekraftwerken tatsächlich gekostet habe. „Der Preis für diese Regelenergie könnte über dem Börsenpreis liegen, der Anfang Februar zu zahlen war“, sagt Federico. Wie hoch er ausfällt, hängt davon ab, welche Kraftwerke zugeschaltet wurden und zu welchen Kosten diese Strom produziert haben. Je mehr Regelenergie nachgefragt wird, desto höher ist der Preis, weil das zuletzt hochgefahrene Kraftwerk immer das teuerste ist.
Außerbörslicher Preishandel
Der Fehler steckt im System. Kaum ein Markt ist so intransparent. Weil die großen Energiekonzerne den Strom erzeugen, verteilen und mit ihm handeln, haben konzerneigene Stromhändler deutlich mehr Macht als etwa Händler von Großbanken an der Aktienbörse. Sie wissen früher als andere, wann sich durch unvorhersehbare Ereignisse Nachfrage oder Angebot auf dem Strommarkt verändern. Zudem liefern sie der Konzernmutter wertvolle Informationen, wann es sich lohnt, Kraftwerke hochzufahren oder abzuschalten. Beides hat Einfluss auf den Strompreis und erleichtert es den Händlern, Informationen zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Vorgeschobene Störfälle
2007 behauptete ein Mitarbeiter der Leipziger Strombörse, E.On und RWE hätten dem Börsenhandel große Mengen an Strom entzogen, um den Preis nach oben zu treiben. Das Bundeskartellamt schaltete sich ein, konnte aber keine Beweise für Preismanipulationen finden. Die Kartellwächter stellten aber fest, dass auffällig häufig Kraftwerkskapazitäten wegen technischer Probleme ausgefallen waren. Es sei nicht auszuschließen, so das Amt, dass Störfälle nur vorgeschoben waren.
Energiekonzerne waschen ihre Hände in Unschuld
2009 hatte die Bundesregierung Regeln für den bis dahin weitgehend unregulierten Spotmarkt für Strom eingeführt. Im selben Jahr verlagerte die EEX ihren Spotmarkt von Leipzig nach Paris. In Frankreich greifen die deutschen Handelsvorschriften nicht, die EPEX unterliegt keiner staatlichen Aufsicht. War es Zufall oder Absicht? Auf jeden Fall ist das Vertrauen in den Börsenhandel nicht gestiegen. Auch im außerbörslichen Stromhandel liegt einiges im Argen. Jeder der vier großen Energiekonzerne erzeugt für sich genommen mehr Strom als insgesamt an der EEX in Leipzig gehandelt wird. Wenn 80 Prozent des Stromhandels aber außerhalb der Börse und unbeaufsichtigt laufen, liegt die Vermutung nahe, dass die Preise hier gemacht werden. Zwar beteuern die Händler der Energiekonzerne, die Preise im außerbörslichen Handel unterschieden sich nur minimal vom Börsenpreis an der EEX, nachprüfbar ist das allerdings nicht.
Handelsvorschriften sollen helfen
Die Europäische Union will verhindern, dass „Unternehmen und Verbraucher für Energie mehr bezahlen müssen, als unbedingt notwendig“. Dazu müssten Marktmissbrauch und Insiderhandel unterbunden werden. Seit Ende vergangenen Jahres ist eine EU-Verordnung in Kraft, die den europaweiten Handel mit Strom reguliert. Danach müssen sich alle Handelsteilnehmer registrieren lassen und ihre Transaktionen der zentralen Aufsichtsbehörde Acer (Agency for Cooperation of Energy Regulators) melden. Sie müssen nicht nur die Menge des gehandelten Stroms, den Preis und das Datum für Kauf und Lieferung angeben, sondern auch den Namen ihres Auftraggebers nennen. „Die neuen Handelsvorschriften werden zur Schaffung fairer Energiepreise beitragen“, hofft Energiekommissar Günther Oettinger.
Schonfrist für Stromhändler
Noch gilt für die Stromhändler jedoch eine Schonfrist, weil die EU noch keine detaillierten Vorschriften vorgelegt hat, wie die Meldepflichten in der Praxis umzusetzen sind. Bis Mitte 2013 will sie liefern. Danach hätte die Bundesnetzagentur drei Monate, um ein Register aufzubauen. Wegen des langen Vorlaufs werden die neuen Meldevorschriften erst Ende 2013 greifen.
Bereits jetzt müssen Energiekonzerne aufgrund der EU-Verordnung alle Insiderinformationen zum Strommarkt unverzüglich veröffentlichen. Dies gilt beispielsweise, wenn sie Kraftwerke abschalten oder hochfahren. Zwar kann die EU-Verordnung Manipulationen wie die im Februar nicht ausschließen, es wird für die Täter aber deutlich schwieriger, sich zu verstecken. Wer lieber im Dunkeln bleibt, müsste sich dann eine neue Spielwiese suchen.