Türkei Erdogan vergrault die Investoren

Seite 2/2

Erdogan gilt als Vater des türkischen Wirtschaftswunders

Größte Risikofaktoren für die Wirtschaft sind die desolate Sicherheitslage und die zunehmende politische Polarisierung. Seit Erdogan türkische Streitkräfte nach Nordsyrien schickte, versinkt das Land immer tiefer im Morast des syrischen Bürgerkrieges. Die Invasion in Syrien macht die Türkei auch im Innern verwundbar. Während der IS und kurdischer Extremisten das Land mit ihrem Terror in die Zange nehmen, geht Erdogan mit eiserner Faust gegen mutmaßliche Anhänger und Mitläufer seines früheren Verbündeten und heutigen Erzfeindes vor, des Exil-Predigers Fethullah Gülen.

Fast 124.000 Menschen verloren seit dem Putsch ihre Jobs, über 42.000 sitzen in Untersuchungshaft. Die „Säuberungen“ sorgen auch in der Wirtschaft für wachsende Beunruhigung. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten ließ Erdogan bereits unter staatliche Zwangsverwaltung stellen. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzt zehn Milliarden Dollar.

Gegen Ende Januar soll das Parlament Erdogans neue Präsidialverfassung billigen. Sie wird ihm eine nahezu unumschränkte Machtfülle geben. Der Staatschef kann künftig Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, den Notstand ausrufen und das Parlament nach Belieben auflösen. Die neue Verfassung könnte dem heute 62-jährigen Erdogan den Platz an der Staatsspitze bis 2029 sichern – vorausgesetzt, die Wirtschaft spielt mit.

Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?

Erdogan gilt als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen. Die Türkei erzielte jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich fast sieben Prozent. Aber nun schwächelt die Konjunktur. Für 2016 erwartet die EU-Kommission ein Wachstum von 2,7 Prozent, für 2017 setzt sie drei Prozent an. Das ist viel zu wenig für ein Schwellenland wie die Türkei. Sie braucht mindestens fünf Prozent Wachstum, um ihre Beschäftigung zu halten. „Die Anzeichen für 2017 sind nicht gut, die Alarmglocken klingeln schon“, sagt der Istanbuler Ökonom Mustafa Sönmez. Er erwartet „Turbulenzen im privaten Sektor, Nervosität bei den Banken, steigende Arbeitslosigkeit und fallende Einkommen“.

Die Arbeitslosigkeit liegt mit elf Prozent so hoch wie seit der globalen Finanzkrise nicht mehr. Die Inflation stieg im Dezember auf 8,5 Prozent. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis verteuerter Importwaren durch die schwache Lira, wobei die Inflation den Kurs der Währung wiederum zusätzlich unter Druck bringt – ein Teufelskreis.

Lange war die starke Wirtschaft Erdogans Trumpfkarte. Doch jetzt sticht sie nicht mehr. Erdogan scheint zu ahnen, dass ihm die Entwicklung gefährlich werden kann. Rutsch das Land in eine Rezession, könnte das seine Wiederwahl 2019 gefährden. „Lasst uns alle Mittel mobilisieren, lasst uns produzieren, verkaufen, kaufen, investieren, Leute einstellen und die Märkte wiederbeleben“, appellierte der Staatschef deshalb vergangene Woche in einer leidenschaftlichen Rede vor Dorfvorstehern in seinem Präsidentenpalast.

Wie immer, wenn er mit Widrigkeiten konfrontiert ist, wittert Erdogan eine Verschwörung: „Bestimmte Kreise“, denen es nicht gelungen sei, „die Türkei mit Panzern und Gewehren zu zerstören“, hätten dem Land jetzt einen Wirtschaftskrieg erklärt. Deshalb komme es darauf an, „Stabilität und Vertrauen“ wiederherzustellen. Genau daran fehlt es jetzt.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%