Größte Risikofaktoren für die Wirtschaft sind die desolate Sicherheitslage und die zunehmende politische Polarisierung. Seit Erdogan türkische Streitkräfte nach Nordsyrien schickte, versinkt das Land immer tiefer im Morast des syrischen Bürgerkrieges. Die Invasion in Syrien macht die Türkei auch im Innern verwundbar. Während der IS und kurdischer Extremisten das Land mit ihrem Terror in die Zange nehmen, geht Erdogan mit eiserner Faust gegen mutmaßliche Anhänger und Mitläufer seines früheren Verbündeten und heutigen Erzfeindes vor, des Exil-Predigers Fethullah Gülen.
Fast 124.000 Menschen verloren seit dem Putsch ihre Jobs, über 42.000 sitzen in Untersuchungshaft. Die „Säuberungen“ sorgen auch in der Wirtschaft für wachsende Beunruhigung. Rund 600 Unternehmen von angeblich Gülen-nahen Geschäftsleuten ließ Erdogan bereits unter staatliche Zwangsverwaltung stellen. Das enteignete Firmenvermögen beläuft sich auf geschätzt zehn Milliarden Dollar.
Gegen Ende Januar soll das Parlament Erdogans neue Präsidialverfassung billigen. Sie wird ihm eine nahezu unumschränkte Machtfülle geben. Der Staatschef kann künftig Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, den Notstand ausrufen und das Parlament nach Belieben auflösen. Die neue Verfassung könnte dem heute 62-jährigen Erdogan den Platz an der Staatsspitze bis 2029 sichern – vorausgesetzt, die Wirtschaft spielt mit.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Erdogan gilt als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das statistische Pro-Kopf-Einkommen. Die Türkei erzielte jährliche Wachstumsraten von durchschnittlich fast sieben Prozent. Aber nun schwächelt die Konjunktur. Für 2016 erwartet die EU-Kommission ein Wachstum von 2,7 Prozent, für 2017 setzt sie drei Prozent an. Das ist viel zu wenig für ein Schwellenland wie die Türkei. Sie braucht mindestens fünf Prozent Wachstum, um ihre Beschäftigung zu halten. „Die Anzeichen für 2017 sind nicht gut, die Alarmglocken klingeln schon“, sagt der Istanbuler Ökonom Mustafa Sönmez. Er erwartet „Turbulenzen im privaten Sektor, Nervosität bei den Banken, steigende Arbeitslosigkeit und fallende Einkommen“.
Die Arbeitslosigkeit liegt mit elf Prozent so hoch wie seit der globalen Finanzkrise nicht mehr. Die Inflation stieg im Dezember auf 8,5 Prozent. Das ist nicht zuletzt ein Ergebnis verteuerter Importwaren durch die schwache Lira, wobei die Inflation den Kurs der Währung wiederum zusätzlich unter Druck bringt – ein Teufelskreis.
Lange war die starke Wirtschaft Erdogans Trumpfkarte. Doch jetzt sticht sie nicht mehr. Erdogan scheint zu ahnen, dass ihm die Entwicklung gefährlich werden kann. Rutsch das Land in eine Rezession, könnte das seine Wiederwahl 2019 gefährden. „Lasst uns alle Mittel mobilisieren, lasst uns produzieren, verkaufen, kaufen, investieren, Leute einstellen und die Märkte wiederbeleben“, appellierte der Staatschef deshalb vergangene Woche in einer leidenschaftlichen Rede vor Dorfvorstehern in seinem Präsidentenpalast.
Wie immer, wenn er mit Widrigkeiten konfrontiert ist, wittert Erdogan eine Verschwörung: „Bestimmte Kreise“, denen es nicht gelungen sei, „die Türkei mit Panzern und Gewehren zu zerstören“, hätten dem Land jetzt einen Wirtschaftskrieg erklärt. Deshalb komme es darauf an, „Stabilität und Vertrauen“ wiederherzustellen. Genau daran fehlt es jetzt.