Die Ehrlichkeit, mit der Twitter-Chef Jack Dorsey vergangene Woche über die Probleme beim Geldverdienen sprach, ließ die Aktien des Unternehmens bis zu elf Prozent abstürzen. Denn das junge amerikanische Unternehmen aus der High-Tech-Schmiede im Silicon Valley schreibt seit seiner Gründung im Jahr 2006 Verluste. Laut Dorsey fehlt es vor allem an neuen Nutzern. Einige Analysten sehen das Unternehmen gar nur als "Modeerscheinung".
Dabei ist es ein populärer Sport, Kurzbotschaften über Twitter zu veröffentlichen, 316 Millionen Menschen nutzen den Dienst mindestens einmal im Monat. Auch Pressestellen, Medien und Behörden nutzen Twitter als Marketing- und Informationswerkzeug und natürlich zur PR.
Den Investoren ist es also noch nicht gelungen, Twitters Datenschatz zu heben. Wissenschaftler sind dagegen schon einen Schritt weiter. Sie haben sich mit dem Kurznachrichtendienst den Traum erfüllt, per Computer Haussen und Baissen an den Börsen zuverlässiger vorherzusagen als bisher. Die gängigen Methoden dafür lassen allerdings noch etwas zu wünschen übrig.
Zahlen und Fakten zu Twitter
Twitter war zunächst nicht mehr als ein Nebenprodukt der Firma Odeo, die eine (allerdings wenig erfolgreiche) Podcasting-Plattform entwickelte. Die Macher suchten 2006 nach Alternativen – und entwickelten den Dienst mit seinen 140 Zeichen kurzen Texthäppchen. In den ersten Monaten gewann er zwar kaum Nutzer, doch nach einem erfolgreichen Auftritt auf der Technologiekonferenz SXSW hob Twitter ab.
Anfangs standen vier Freunde hinter Twitter: Evan Williams, der dank des Verkaufs seiner Plattform Blogger.com an Google auch Geldgeber war; außerdem Jack Dorsey, Biz Stone sowie Noah Glass. Letzterer wurde allerdings wegen seiner schwierigen Art schon bald aus der Firma gedrängt.
Die kurze Geschichte der Firma ist geprägt von Machtkämpfen zwischen den einstigen Freunden. Der erste Chef Jack Dorsey musste auf Veranlassung des Mitgründers Evan Williams sowie des Verwaltungsrates seinen Posten verlassen. Williams selbst hielt sich auch nicht dauerhaft an der Spitze – bei seiner Entmachtung im Oktober 2010 hatte Dorsey seine Finger im Spiel. Seitdem lenkte Dick Costolo, zuvor bei Google tätig, die Firma. Nach der Warnung des Unternehmens im ersten Quartal 2015, dass die angepeilten Umsätze nicht erreicht würden, und die Aktie weit unter den Ausgabekurs rutschte, war die Luft für ihn dünn geworden. Nach Monaten der Kritik von der Wall Street, Anteilseignern, Mitarbeitern und Kunden wurde Costolo am 1. Juli 2015 durch Twitter-Mitgründer Jack Dorsey ersetzt.
Twitter hat noch nie Gewinn gemacht. Im zweiten Quartal 2015 lag der Verlust bei unterm Strich 137 Millionen Dollar - immerhin 8 Millionen weniger als im Vorjahr. Vor allem Vergütungen für Mitarbeiter in Form von Aktienpaketen und Optionen machen sich bemerkbar.
Twitter hatte bis vor drei Jahren noch kein Werbegeschäft. Die Gründer verzichteten in der Anfangszeit bewusst auf Anzeigen, um die Nutzer nicht zu verschrecken. Im Frühjahr 2010 starteten erste Versuche mit Werbung zwischen den Tweets. Inzwischen ist das Geschäft beträchtlich angewachsen. Im zweiten Quartal 2015 stammten von den 502 Millionen Dollar Umsatz fast 90 Prozent aus dem Geschäft mit mobilen Anzeigen auf Smartphones oder Tablets. Die Werbeeinnahmen nahmen im vergleich zum Vorjahr um 63 Prozent auf 452 Millionen Dollar zu.
Twitter ist für die mobile Ära gerüstet. Ein Großteil der Werbeerlöse wird auf Smartphones und Tablet-Computern erwirtschaftet. Insgesamt hat Twitter mehr als 316 Millionen Nutzer pro Monat.
Twitter versucht nicht, den Einfluss der Gründer durch eine Aktienstruktur mit zwei Klassen zu sichern. Andere Internet-Unternehmen wie Google oder Facebook haben bei ihren Börsengängen den Investoren Papiere angeboten, die weniger Stimmrechte haben als die Aktien von Gründern und Spitzen-Managern. Bei Twitter sind alle Anteilseigner gleich, die Ausgabe von Vorzugsaktien ist nur als Möglichkeit für die Zukunft vorgesehen.
Wie es besser funktioniert, zeigen Huina Mao und Johan Bollen von der Indiana University in den USA und der Microsoft-Mitarbeiter Scott Counts in einer neuen von der Europäischen Zentralbank veröffentlichten Studie mit dem Titel „Quantifying the Effects of Online Bullishness on International Financial Markets“. Die drei Forscher haben geprüft, ob die von Internetnutzern an ihre Twittergefolgschaft verbreiteten Kurznachrichten die Stimmung an den Börsen widerspiegeln und ob sich die Kursentwicklung mit Hilfe der Tweets vorhersagen lässt. Auf diese Aspekte hin haben sie gleichzeitig die in der Suchmaschine Google abgefragten Suchbegriffe untersucht.
Twitter vor Google
Das Ergebnis: „Verbreiten Twitternutzer eine bullige Börsenstimmung, deutet das auf steigende Kurse am nächsten Tag hin.“ Allerdings bewegen sich die Indizes laut Studie binnen zwei bis fünf Tagen wieder auf ihren Ausgangswert zurück. Twitter und Google können auf kurze Sicht Stimmungsschwankungen an den Börsen besser vorhersagen als etablierte Verfahren. Dabei sind die aus Twitterdaten abgeleiteten Prognosen etwas präziser als die Vorhersagen über Google, zudem eilt die Marktstimmung auf Twitter der in der allwissenden Suchmaschine um wenige Tage voraus.
Die Forschungsmethode funktioniert vereinfacht dargestellt wie folgt: Die Wissenschaftler zählten per Computer die Tweets und Suchanfragen mit den Wörtern „bullish“ – für steigende Kurse – und „bearish“ – für fallende Kurse, ganz ohne auf den Rest des Inhalts zu achten. Die Daten sind öffentlich zugänglich über Twitter Gardenhose, wo täglich rund 45 Millionen Tweets einlaufen und Google Trends, wo alle eingegebenen Suchbegriffe gespeichert werden. Untersucht wurden die Jahre 2010 bis 2012 und die Reaktion von Börsenindizes wie dem Dow Jones in den USA, nicht aber einzelne Aktien. „Ich denke, es ist auch möglich, die Entwicklung einzelner Aktien zu prognostizieren“, sagt Studienautorin Mao. Das könnte dann der Stoff für neue Forschungsarbeiten sein.
Anders als die Twitter-Methode analysieren ältere Prognosewerkzeuge komplette Artikel in Anlegerblogs, Zeitungen oder Nachrichtenportalen, wobei allerdings Zweifelsfälle entstehen, weil viele Formulierungen doppeldeutig sind. Die einfache Methode der Studie hat dagegen einen Vorteil: Nutzer verwenden das sprachliche Bild vom Bullen- und Bärenmarkt nur in Bezug auf Finanzmärkte, sodass Zweifelsfälle wie bei textgestützten Analysen fast ausgeschlossen sind. Eine tiefere Interpretation der getwitterten und gesuchten Inhalte erübrigt sich dadurch. Die Twitter-Vorhersage funktioniert in den USA, Großbritannien und Kanada.
Im ebenfalls großen Finanzmarkt China versagt das Instrument. Das dürfte den banalen Grund haben, dass Chinesen statt Twitter den Kurznachrichtendienst Weibo nutzen und ihre Nachrichten meist in chinesischen Schriftzeichen verbreiten. Wissenschaftlerin Mao hält es aber auch für möglich, dass das an der Marktstruktur in China liegt. Dort könnten viele Anleger weniger onlineaffin sein, etwa Rentner, die sich die Langeweile mit kleinen Börsenspekulationen vertreiben.