Verkehrte (Finanz)welt
Quelle: dpa

Reagieren die Börsen (nicht mehr) auf politische Krisen?

Bis weit in den Juli dieses Jahres schienen sich die Börsen von politischen Krisen und realwirtschaftlichen Belastungsfaktoren abgekoppelt zu haben. Dies könnte sich nun ändern.

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Bis vor wenigen Wochen ließ sich ein – lange Zeit widerstandfähiges – Phänomen an den globalen Finanzmärkten beobachten: Ungeachtet weltpolitischer Krisen und wirtschaftlicher Unsicherheiten verbuchten Aktienindizes wie DAX und DJ EUROSTOXX 50 (mit Ausnahme einiger Rücksetzer vornehmlich im zweiten Quartal) steigende Kurse. Ebenso lagen die Schwankungsbarometer VDAX NEW (der Volatilitätsindex des DAX) sowie seine US- und Europa-Pendants VIX und VSTOXX noch bis Anfang Juli mit Werten um 12 bis 13 Punkten ausgesprochen niedrig. Ende Juli schnellten die Werte dann auf 22 bis 25 Punkte nach oben. Sind die Börsen in der Wirklichkeit angekommen?

Börsen treffen auf Wirklichkeit

Der unter anderem von Stanford-Ökonomen entwickelte Economic Policy Uncertainty Index misst den Grad politischer Unsicherheit der größten Volkswirtschaften weltweit. Sein Allzeithoch aus dem November 2018 (341 Punkte) hatte der Index bereits im Februar dieses Jahres fast erreicht, als er bei 318 Punkten notierte. Im Mai war es dann soweit: Der Index sprang auf 342 Punkte. Die Datenhistorie reicht bis ins Jahr 1999 zurück und speist sich, neben weiteren Variablen, vornehmlich aus einer Auswertung führender Tageszeitungen und der Nennung beziehungsweise Häufigkeit bestimmter Schlüsselbegriffe.

Folgten die Finanzmärkte zuletzt diesen Warnsignalen nicht (mehr)? War die Wechselbeziehung zwischen politischem Raum, Realwirtschaft und Kapitalmärkten lange Zeit ausgehebelt?

Globale Politische Unsicherheit anhand des „Economic Policy Uncertainty Index“ von Scott Baker, Nicholas Bloom und Steven J. Davis.Quelle: policyuncertainty.com

Diese Betrachtung bedarf einer Differenzierung. Einerseits sollten immer die genauen Laufzeitbänder und damit die zugrundeliegenden Zeiträume berücksichtigt werden. Zudem ist eine Betrachtung, die rein auf globale Indizes abstellt, nicht immer hilfreich. Die lokalen Unsicherheitsindizes für Europa lagen lange Zeit im Bereich ihres historischen Mittelwertes, ähnlich verhält es sich mit dem US-Pendant. Anders China und Hong Kong: Hier lagen die politischen Unsicherheiten ab der zweiten Jahreshälfte beim zwei- bis dreifachen ihres 5-Jahres-Durchschnitts.

Nervosität nimmt zu

Bereits im April hatten wir in einer Umfrage mehr als 50 institutionelle Investoren zu den dringlichsten wirtschaftspolitischen Risiken befragt: Mehr als zwei Drittel der Anleger (70 Prozent) nannten damals den Handelskonflikt zwischen den USA und China, gefolgt von den Themen Brexit (51 Prozent), sinkende Unternehmensgewinne (32 Prozent) und Stabilität des italienischen Bankensystems (23 Prozent).

Schauen wir uns die Entwicklung im Zeitraum April bis September an, so lässt sich konstatieren, dass die Nervosität in den meisten Feldern weiter zugenommen hat. Dies zeigte sich besonders deutlich während der temporären Verkaufswelle Mitte August. Neben der Gefahr einer weiteren Eskalation des Handelskonflikts kamen immerhin zwei Regierungswechsel (Großbritannien und Italien) sowie mit Hong Kong ein weiterer Belastungsfaktor hinzu. Zudem legen schwache Geschäftsklima- und Einkaufsmanagerindizes nahe, dass Deutschland sich bereits mitten im Abschwung oder am Beginn einer Rezession befindet.

Daran, dass der aktuelle Konjunkturzyklus seinen Höhepunkt überschritten hat, gibt es keine Zweifel mehr. Lange Zeit hatten die Anleger ein sehr stark ausgeprägtes Vertrauen, dass die Zentralbanken die Konjunktur am Laufen halten. Die Europäische Zentralbank (EZB) investierte im Rahmen ihrer Politik der quantitativen Lockerung, die zum Jahresende 2018 auslief, rund 2,6 Billionen Euro in Staats- und Unternehmensanleihen. Die kumulierten Effekte der seit Mitte 2014 ergriffenen geldpolitischen Maßnahmen auf das BIP-Wachstum im Euroraum werden auf 1,9 Prozentpunkte geschätzt. Durch diese Maßnahmen in Verbindung mit historisch niedrigen Zinsen konnten die Nachfrage nach Gütern künstlich hochgehalten und Unternehmen am Leben gehalten werden. Einige Ökonomen rechnen damit, dass damit in den Kreditbüchern der Banken ein weiteres, erhebliches Risiko heranwächst.

Wie wird es also weitergehen? Heilsam ist die Erkenntnis, dass die Phase der allgemeinen Sorglosigkeit wohl vorbei sein dürfte. Ob die jüngste Senkung des Banken-Einlagesatzes und die aktuelle Wiederaufnahme eines (kleineren) Anleihenkaufprogramms zu einer neuerlichen Form des Ausblendens oder Wegblendens von Risiken führt, bleibt abzuwarten.

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