Börsen Die Amerikanisierung der Finanzmärkte und ihre Folgen

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SEC-Chef Christopher Cox will Quelle: REUTERS

Dieser Wunsch dürfte zwar kaum in Erfüllung gehen, zu etabliert sind die großen amerikanischen Analysehäuser Standard & Poor’s (S&P) und Moody’s. Die Skepsis der Kanzlerin ist dennoch berechtigt, schließlich haben die Institutionen gewaltige Marktmacht – wenn sie den Daumen senken, müssen Unternehmen Anleihekäufern deutlich höhere Zinsen zahlen. Und ob sie ihn senken, entscheiden S&P und Co. auf Basis amerikanischer Regeln. Dass sie dabei wenig zimperlich vorgehen, zeigte sich 2003, als die S&P-Analysten Unternehmen wie ThyssenKrupp und Linde überraschend ein schlechteres Rating verpassten. Der Grund waren hohe Pensionsverpflichtungen der Konzerne, die nach Ansicht der Analysten wie klassische Schulden bewertet werden mussten – und nicht wie zuvor als Rückstellungen. Das vermindert auf dem Papier die Bonität und verteuert die Aufnahme von Fremdkapital. „Wir halten es für anmaßend, dass Standard & Poor’s mitten im Spiel die Regeln ändert“, sagte der damalige ThyssenKrupp-Finanzvorstand Stefan Kirsten.

Dass die Pensionsrückstellungen in Deutschland Jahrzehnte gut funktioniert hatten, interessierte nicht. „Die Ratingagenturen haben zunächst die Finanzierung der Pensionsverpflichtungen über die Bilanz nicht verstanden“, sagt Thomas Jasper, der das Beratungsgeschäft von Rauser Towers Perrin in Frankfurt leitet.

Auf Druck der US-Ratingagenturen lagern jetzt immer mehr deutsche Konzerne Pensionsverpflichtungen aus. RWE schaffte 81 Prozent seiner 15,7 Milliarden Euro an Pensionsverpflichtungen aus der Bilanz, MAN sogar 93 Prozent. An der Verwaltung der danach gegründeten Pensionsfonds verdienen wiederum US-Vermögensverwalter wie Black Rock, Goldman Sachs oder State Street. Das lohnt sich – für die Verwalter: Laut einer Studie von Watson Wyatt sind 2007 bei internationalen Pensionsfonds die Kosten von 0,65 auf 1,10 Prozent des betreuten Vermögens gestiegen.

ThyssenKrupp hielt, anders als RWE oder MAN, dem Druck der US-Ratingagenturen stand. Für die Beschäftigten ist das ein Segen: 2007 schaffte Thyssen eine Rendite von 20,7 Prozent auf das zurückgestellte Kapital – weit mehr als der Durchschnitt, der bei deutschen Pensionskassen bei etwa vier Prozent lag.

Bilanzierung. Tausende deutsche Mittelständler müssen sich schon bald auf gravierende Änderungen einstellen. Denn die schwarz-roten Koalitionäre unterziehen das gute alte Handelsgesetzbuch (HGB), seit 1897 Grundlage für die Bilanzierung deutscher Kaufleute, derzeit einer Generalrevision. Voraussichtlich im Herbst wird dann das „Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz“ den Bundestag passieren.

Das neue HGB wird viele Regeln amerikanischen Ursprungs enthalten. So sollen sich auch nach HGB bilanzierende Unternehmen künftig sehr viel stärker an den Marktwerten der Vermögensgegenstände orientieren dürfen. Damit wird das kaufmännische Vorsichtsprinzip aufgeweicht, das Gläubiger schützen soll.

Wer wissen will, warum das HGB immer amerikanischer wird, findet die Antwort in Delaware an der amerikanischen Ostküste. Hier residiert eine Stiftung, die von großen Banken, Wirtschaftsprüfern und Industriekonzernen finanziert wird und die das International Accounting Standards Board (IASB) in London installiert hat. Das Gremium hat mit den International Financial Reporting Standards (IFRS) Bilanzregeln entwickelt, die seit 2005 für börsennotierte Unternehmen in der Europäischen Union Pflicht sind.

In das neue Handelsgesetzbuch fließen viele Regeln ein, die an diese Bilanzregeln angelehnt sind – und diese wiederum sind vom US-Bilanzstandard US-GAAP geprägt. „Die IFRS sind praktisch wie ein Trojanisches Pferd, sie beinhalten die US-Regeln, sind nur anders etikettiert“, sagt Karlheinz Küting, Direktor des Instituts für Wirtschaftsprüfung an der Universität des Saarlandes. Kein Wunder, US-Bilanzlobbyisten sind im IASB die treibende Kraft.

Anlegern machen die neuen Bilanzregeln es keineswegs leichter, die Ertragskraft von Unternehmen einzuschätzen. HGB-Befürworter warnen vor allem vor aufgeblähten Gewinnen.

Daimler-Aktionäre wissen schon lange, dass die amerikanischen Regeln nicht der Weisheit letzter Schluss sind. Die Stuttgarter bilanzierten 1994 als erstes deutsches Unternehmen nach US-GAAP, mit dem Ziel, „mögliche Fehlentwicklungen“ bei der Rendite früh zu erkennen. Das ist gründlich schiefgegangen. Als Daimler das erste Zahlenwerk nach US-Vorbild präsentierte, lag der Aktienkurs umgerechnet bei gut 40 Euro – genau wie heute, 15 Jahre später.

Noch mehr ging beim US-Energiehändler Enron schief, der jahrelang bilanzielle Luftblasen abbildete und Ende 2001 die größte Pleite der US-Wirtschaftsgeschichte hinlegte. Trotz vollmundiger Ankündigungen wurden die Vorschriften seitdem kaum verschärft. Im Zuge der Finanzkrise ging auch Bear Stearns beinahe pleite, vor allem, weil Manager – genau wie die Enron-Chefs – außerhalb der Bilanz riskante Geschäfte eingegangen waren.

Experten kritisieren den Trend zur Amerikanisierung der Bilanzvorschriften. „Die Neuregelungen können zu Scheingewinnen führen, die Ergebnisse werden sprunghafter. Im alten HGB waren die Gewinne besser nachprüfbar“, sagt Bilanzprofessor Küting. Und Frank Reuther, Leiter Konzernrechnungswesen der Weinheimer Freudenberg-Gruppe, kritisiert: „Es wird zunehmend versucht, über alle Frisuren mit einem Kamm zu gehen. Das kann wegen der unterschiedlichen nationalen Rechtssysteme nicht funktionieren.“

Die Schwächen vieler neuer Regeln bekommen auch Anleger immer deutlicher zu spüren. Neben weniger aussagekräftigen Bilanzen stört zum Beispiel, dass Privatanlegern wichtige Informationen vorenthalten bleiben.

Der Bahn-Chef schwitzt; die Frage nach der Zukunft der Deutschen Bahn ist ihm sichtlich unangenehm: „Sie müssen verstehen, ich darf hierzu nichts sagen, die Anwälte haben es mir verboten“, sagt Hartmut Mehdorn. Der Grund: Alles, was zu einem Börsenkandidaten gesagt wird, muss in den Wertpapierprospekt, darüber wacht seit 2005 die BaFin.

Wieder eine US-Regel, die in deutsches Recht überführt wurde. Oberflächlich betrachtet soll sie den Anleger schützen. Realistisch gesehen führt die aus Furcht vor den rigiden US-Schadensersatzregeln eingeführte Prospektpflicht aber dazu, dass Privatanleger bei Börsengängen keine Informationen über Zukunftsaussichten mehr bekommen. Institutionelle Investoren dagegen spielen über Bande: Sie ziehen Prognosen aus den Analystenstudien der Banken – und die werden unter tatkräftiger Mithilfe der Unternehmen erstellt.

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