Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

Seite 2/7

Seither steht die Spekulation unter dem Generalverdacht des Glücksspiels... ... und wird ihn nicht mehr los. Spiel und Spekulation werden seit dem 18. Jahrhundert gleichermaßen als irrational undvernunftfern kritisiert, als Niederlage der Zivilisation und „blinder Fleck der Aufklärung“. Entsprechend werden Spiel und Spekulation als zerstörerische Sucht beschrieben, als Epidemie, die das Gemeinwesen bedroht. Noch folgenreicher ist, dass Spiel und Spekulation als parasitär erachtet werden, als Beleidigung des Arbeitsprinzips, als Verachtung der persönlichen Leistung. Warum? Weil beide das Geld zur Selbstreferenz erheben – und die ökonomische Praxis des Gebens und Nehmens verhöhnen? Exakt. Die Spekulation wird als pervertierte Ökonomie beschrieben, in der die Motive des Marktes – fairer Tausch, gerechte Preisbildung – und das Prinzip von Angebot und Nachfrage suspendiert sind. Der Spekulant erhöht in diesen Lesarten seine Gewinne nicht durch das Dazwischentreten von Arbeit, er ist auch kein Unternehmer, der Verantwortung übernimmt – das heißt, er beschäftigt sich nicht mit Werten, sondern mit Wertdifferenzen. Genauso der Spieler: Auch ihm gehe es nicht darum, seine Arbeitskraft gegen Geld anzubieten, sondern mittels künstlich erzeugter Wertdifferenzen – „Full House“ schlägt „Straße“ – eilige Gewinne zu erzielen. Aber geht es dem Spieler wirklich um den Gewinn? Ist es nicht das Spiel selbst, das ihn reizt? Ja, genau – für die Spekulationsgegner ist dies jedoch nur ein weiterer Anlass zur Kritik: Spieler und Spekulanten kaufen weder reale noch fiktive Güter, das heißt die Geldverwendung selbst wird zum Thrill, die Tatsache, dass Geld Geld mehren kann. Ein Teil des Thrills wird durch die zeitweilige Unbestimmtheit von Verlust und Gewinn erzeugt, sprich: durch die Erfahrung von Kontingenz im Spiel. Der Spieler erfährt seine Ungewissheit als äußerste psychische und körperliche Anspannung – und genießt diese Kontingenz als Präsenzerfahrung. Wir halten fest: Der Spieler im Spekulanten genießt die Lust an seinem antiaufklärerischen Tun? Ja und nein. Er genießt die Kontingenz des Spiels, einerseits. Andererseits betreibt er es mit äußerst rationalen Mitteln. So wie der professionelle Spieler ausgeklügelte Systeme zur Steuerung seiner Gewinnchancen entwickelt, beschäftigt sich der Spekulant mit Formeln, Chartanalysen und Investmenttechniken, um sein Tun zu rationalisieren. Eben das ist der unauflösbare Widerspruch der Börsenspekulation: Wenn man wirklich rationales Subjekt wäre, würde man nicht zu spekulieren beginnen, hat John Maynard Keynes einmal gesagt – es bedarf das Irrationale, damit Spekulation entstehen kann. Der Skandal der Finanzökonomie besteht darin, dass der Spekulant sich – wie der Spieler – bewusst entscheidet, irrational zu sein. Und dass er versucht, eine ungewisse Zukunft nicht nur beherrschbar, sondern berechenbar zu machen. Wann trat der Spekulant aus seiner Identität als „Homo ludens“ heraus? Wann reifte er zum „Homo oeconomicus“? In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts, das heißt in dem Moment, als es die ersten Börsen gab, oder besser: die ersten Börsengebäude, zu denen manche Zugang hatten und manche nicht. Es ist der gleiche Moment, an dem der Versuch unternommen wird, die Finanzspekulation zu einer ökonomischen Praktik zu machen und gegen das Glücksspiel abzugrenzen. Und? Gelingt diese Abgrenzung? Zunächst nicht. Die alten Kritiker des Geldspiels sehen nicht ein, dass Spekulation allein deshalb besser sein soll, weil sie nunmehr hinter verschlossenen Türen stattfindet. Im Gegenteil: Sie verschärfen ihre Kritik, indem sie dem Geldspiel zugestehen, mit seiner moralischen Fragwürdigkeit offen und ehrlich umzugehen. Die Spekulation hingegen wird als Spielhölle in der Maske des Geschäfts angeklagt, als unehrliche Glücksspielerei, die sich den Tarnmantel der Ökonomie umhängt.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%