Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

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Wie reagiert die Finanzökonomie auf die Kritik? Sie nimmt die moralische Kritik auf, vereinnahmt sie gewissermaßen – und entwickelt an ihr Argumente, die einen Nutzen der Spekulation für die Ökonomie behaupten. So wird die Lust am Risiko im Glücksspiel zur vernunftbetonten Vermeidung des Risikos in der Spekulation umgedeutet, das heißt: Spekulation erscheint nicht mehr als Wette auf die Zukunft, sondern im Gegenteil als der Versuch ihrer Beherrschung. Spekulation wird, ganz im Sinne des lateinischen Wortstamms, als seherische Fähigkeit aufgefasst, die der Wirtschaft auf zweifache Weise dient: als erwartungsvoller Blick nach vorn, das heißt als Antrieb für Innovationen und Entdeckungen. Und als Spähen in die ferne Zukunft, das heißt als Praktik, die verhindert, „das Fehlentwicklungen verborgen bleiben“ – so hat Milton Friedman es einmal gesagt. Eine Ökonomie, die über keine Spekulation verfügt, so lautet die Schlussfolgerung, ist blind und orientierungslos. Sie produziert ins Blaue hinein. Was erreicht die Finanzökonomie mit dieser Wendung? Sie entkräftet den Vorwurf, die Spekulation sei ein Parasit der Ökonomie. Weshalb sie sich übrigens nicht nur als „Auge der Ökonomie“ darstellt, die die Zukunft als gegenwärtige Wahrscheinlichkeit abbildet, sondern auch als produktive Kraft, das heißt: Der Spekulant wird als Hersteller von Preisen eingeführt, als Händler, der seinen Kunden weltweit rund um die Uhr verlässliche ökonomische Informationen liefert. Was hier stattfindet, ist eine Rückkopplung der Spekulation an die Produktivitätsökonomie – der Parasitismusvorwurf wird dadurch entkräftet, dass der Spekulant dem Arbeiter und Unternehmer wieder an die Seite gestellt, in die ökonomische Ordnung reintegriert wird. Nachhaltig war diese Strategie aber nicht. Hat sich die Wahrnehmung des Spekulanten als Parasit im Heuschrecken-Vorwurf nicht aktualisiert? In der Tat. Die Heuschrecken, die über ein Feld herfallen, es zerstören und dann wieder verschwinden, sind in gewisser Weise Parasiten: Sie leben auf Kosten anderer. Interessant ist, dass die Kritik hier ganz im Gegensatz zur traditionellen Marx’schen Diktion eine Opposition aufbaut, die nicht Arbeiter und Unternehmer gegeneinander stellt, sondern Arbeiter und Unternehmer gegen den Spekulanten in Stellung bringt. Hier wird nicht nur ein Feindbild aktualisiert, sondern auch eines aufgegeben. Haben der Parasitismus-Vorwurf damals und die Heuschrecken-Debatte heute die (Eigen-)Wahrnehmung ihrer professionellen Teilnehmer als elitäre Paria begünstigt? Der Vorwurf hat jedenfalls dazu geführt, dass sich die Börse damals wie heute als Markt der Märkte verheiligt, als Ort, an dem man den Kern und das reine Wesen der Ökonomie vorfindet. Danach übernimmt die Spekulation die Funktion, den Markt mit sich selbst in Einklang zu bringen. Die Strategie, die hinter diesem Argument steckt, ist klar: Wollen die Kritiker der Spekulation nicht gleich die Systemfrage stellen, das heißt die ökonomische Ordnung als Ganzes hinterfragen, müssen sie ihre Kritik an der Finanzökonomie entschärfen. Wie erfolgreich ist die Strategie? Gewinnt die Spekulation mit ihrer Selbstbeschreibung als Markt der Märkte an Attraktivität? Durchaus. Durch die Abwesenheit aller Opportunitätskosten, die entstehen, wenn tatsächliche Produkte getauscht werden, erscheint die Börse dem Profi als Ausdruck des idealen Marktes. Dem Laien hingegen tritt die Börse durch die Selbstreferenz des Geldes als populäres Spektakel entgegen. Die Abstraktion der Ware „Preis“, die ungeheure Verdichtung reiner Börseninformation und die Rolle des Spekulanten als (Selbst-)Beobachter der Ökonomie – das alles führt in den 1870er-Jahren zu einem Inklusionsschub an den Börsen. Aber bezahlt die Finanzökonomie ihre Popularität nicht mit ihrer Fiktionalisierung? Das Geschehen an der Börse wird für den Laien doch zunehmend undurchschaubar. Natürlich, das ist die Kehrseite: Die Spekulation wird zur Bühne reiner Fiktionen – eben weil nichts Materielles an ihr verhandelt wird. Nirgends wird das deutlicher als im Future-Handel, der die Abstraktion der Ökonomie auf die Spitze treibt, indem er eine Art Spekulation auf die Spekulation betreibt: Es findet ein Geschäft zwischen einem Verkäufer statt, der die Ware nicht hat, nicht erwartet, sie jemals zu haben und sie auch gar nicht haben will – und einem Käufer, der die Ware nicht will, sie nicht erwartet zu erhalten und sie auch nie bekommt.

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