Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

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Mit welcher Folge? Mit der Folge, dass es spät und massenhaft auf den Zug aufspringt. Dabei hat das Internet die Ansteckungsgefahr noch erhöht: Seither sind Gerüchte nicht mehr auf persönliche Begegnungen angewiesen, können sich gewissermaßen ohne Absender und Adressat verbreiten. In der Panik wird die Schnelligkeit der Gerüchtekommunikation besonders offenbar. Hier schlägt die Gier plötzlich in Angst um – und damit die Sammlung der Masse in ihre fluchtartige Auflösung: Jeder möchte sich so schnell wie möglich retten, ohne Rücksicht auf die anderen... ...und so wird in der Panik auch der professionelle Spekulant zum Lemming? Natürlich, denn auch er büßt seine Distanz zum Markt ein. Gerade deshalb sind Paniken für die Ökonomie auch so eine enorme Provokation: Durch die affektive Aufladung der Spekulation, durch die wilde Logik der Ansteckung und die Suggestion der Gerüchte werden die klassischen individualistischen Handlungsmodelle der Wirtschaftstheorie radikal infrage gestellt. Und wie rehabilitiert die Finanzökonomie den zum Herdentier herabgewürdigten Spekulanten? Ein interessanter Versuch, mit der Inkompetenz und Beeinflussbarkeit der Massen umzugehen, ist die Aufgabe der Hoffnung, jeder kleine Spekulant könne zum ökonomisch kompetenten Subjekt gemacht werden. Wie bitte? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich in den Contrariern eine Investmentschule, die sich die breite Teilnahme von Laien und deren irrationales Massenverhalten zunutze machte. Der Contrarier versucht, die Gesetze der Masse zu entschlüsseln, die es ihm – der sich gegen die Masse stellt – erlauben, von der Dummheit der Masse zu profitieren. Damit steigert der Contrarier die Entreferentialisierung der Spekulation: Er interessiert sich nicht dafür, in welcher ökonomischen Situation sich ein Unternehmen befindet, sondern nur noch dafür, wie die Masse über das Unternehmen denkt. Der Contrarier ist ein klassischer Beobachter zweiter Ordnung – er fällt ausschließlich derivative Werturteile. Damit gibt er vollständig die Position auf, dass es so etwas wie einen rationalen Markt geben könnte. In seinen Augen kann höchstens er selbst gegen die Marktmasse rational agieren. Indem er mit der Masse mitläuft – und sich im entscheidenden Moment von ihr löst? Das ist das Geheimnis seines Erfolgs, ja. Ein Contrarier muss seine Rationalität temporär aufgeben. Um die Masse zu kennen, muss er sich von ihr anstecken lassen, und um sich rechtzeitig gegen sie stellen zu können, muss er immer schon geimpft sein. Wird dem Contrarier die rigorose Selbstbeobachtung nicht zum Problem? Ein erfolgreicher Spekulant muss sich doch auf seine Instinkte verlassen und möglichst schnell handeln können. Der Contrarier ist so etwas wie ein Musterbeispiel für die Disziplinierungstechniken der Finanzökonomie, die eingesetzt und eingeübt werden müssen, will der Spekulant nicht im wilden, exzessiven Marktgeschehen untergehen. Dazu ist eine stabile Identität wichtig – sie ist Voraussetzung dafür, sich Nüchternheit, Gelassenheit und Empathieverzicht anzutrainieren. Die Mittel dazu sind Affektkontrolle, die zeitweise Isolation vom aktuellen Marktgeschehen – und ständige Selbstbeobachtung. Sie entwickeln den Spekulanten zu einer Figur, die er selbst gern verlacht, zu einem Zweifler und Zögerer, der eine Selbsterfahrungstherapie nötig hat. Der Spekulant hat eine höchst komplexe, teils widersprüchliche Identität. Seine Zukunft braucht keine Herkunft, im Gegenteil: Seine Identität baut sich nicht auf Erzählungen auf, sondern darauf, dass er jederzeit vergessen können muss, was er einmal gedacht hat. Ein guter Spekulant betrachtet seine Wertpapiere nicht als Konsumgüter – niemals hängt er an ihnen. Er überprüft jederzeit neu, ob er die Papiere abstößt oder behält.

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