Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

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Der Spekulant ist zur Dauerpräsenz in der Gegenwart verurteilt? Exakt. Die ständige Herausforderung der Gegenwart als vorgestellte Zukunft sowie das starke Abdunkeln der Vergangenheit bestimmen die Identität des Spekulanten; nur so kann er seine ökonomische Rationalität sicherstellen. Eine heikle Subjektkonstruktion... ... die durch die Modernität der Medien noch verschärft wurde: Das Internet verhindert die Flucht in die Isolation – und archiviert Informationen, die den idealen Spekulanten nur belasten. Dadurch fällt es ihm zunehmend schwer, sich auf seine eigentliche ökonomische Aufgabe zu konzentrieren: in die Zukunft zu schauen. Sie meinen, er starrt nur noch auf die Kurse – und lässt den Blick nicht mehr in die Ferne schweifen? Die Medialität der Spekulation hat die Selbstreferenz der Börse gesteigert, keine Frage. Die eigentliche Revolution fand aber nicht durch das Internet statt, sondern in den 1870er-Jahren mit der Einführung des Börsentickers, der ein schmales Endlosband mit Wertpapierkürzel, Handelsvolumen und Kurs perforierte. Es war der Ticker, der Börsenkurse erstmals in Echtzeit an einer prinzipiell unbeschränkten Anzahl von Orten verfügbar machte – und der aus dem Spekulanten als Zukunftsdeuter einen Beobachter von Kursbewegungen machte. Was macht den Ticker so verführerisch? Der Ticker ermöglicht die Teilnahme am Markt, ohne anwesend sein zu müssen. Als Lieferant reiner Information verspricht er dem Spekulanten genau die Unabhängigkeit, die er zur Erreichung seiner Ökonomizität anstrebt. Nur kann der Ticker das Versprechen der Rationalität letztlich nicht halten, weil er zum Orakel wird. Er dient dem Spekulanten nicht nur als Mittel der Information, sondern wird auch als Medium selbst interessant: Der Spekulant entwickelt dank des Tickers ein feeling für den Markt, ein Gefühl, das sich durch das reine Hören des Tickers, durch die Geschwindigkeit des Zahlenflusses an seinem Bewusstsein vorbeischleicht. Das heißt, der Ticker ermöglicht theoretisch eine höhere Rationalität, die er praktisch sofort wieder auflöst? Das ist der Punkt. Der Ticker schenkt dem Spekulanten die besten Bedingungen, rein ökonomisch denkendes Subjekt zu sein – und schlägt ihm diese Bedingungen gleich wieder aus der Hand, indem er durch seine Geräusche, seine Geschwindigkeit, seine Luftschlangenproduktion fasziniert, kurz: durch seine Medialität. Der Ticker selbst wird zum Spektakel – und dementiert die ökonomische Vernunft. Treiben die modernen Medien diese Grenzkonflikte zwischen Spiel und Spekulation auf die Spitze? In gewisser Weise, ja. Die sinnliche Qualität des Börsentickers wird im Internet virtuell aktualisiert: als Variation der uralten Faszination, dass sich auf dem Finanzmarkt etwas Unverstehbares, Unfassbares, mehr denn je Unsichtbares abspielt, das in eine kontinuierliche Abfolge von Zeichen verwandelt werden kann. Das Börsenband fasziniert durch die Dialektik von höchster Kontingenz und absoluter Gewissheit. Gerät die ökonomische Vernunft der Spekulation durch das Internet endgültig unter die Räder? Ach was, nein. Die Spektakularität der Spekulation ist nicht vermeidbar, das Ökonomisch-Sein der Ökonomie war seit Beginn der Spekulation durch sie bedroht. Der Traum der Wirtschaftswissenschaftler, einen durch und durch rationalen Raum der Ökonomie zu erhalten, der sich durch mathematische Modelle vollständig modellieren ließe, ist unerfüllbar – gerade weil die Ökonomie selbst einen nichtökonomischen Überschuss erzeugt, um funktionieren zu können. Es ist ein Fehler zu glauben, das irrationale Moment werde von außen in die Ökonomie hineingetragen. Es ist der Markt, der immer wieder seine Logik verdirbt, um sich selbst zu erhalten und erneuern.

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