Börsenpsychologie Die kalkulierte Unvernunft

Mit seiner spektakulären „Ökonomie des Spieltischs“ sägt der Basler Soziologe Urs Stäheli am Stuhl von Max Weber. Seine Theorie der Börsenspekulation entlarvt die ökonomische Rationalität des Marktes als Fiktion – und erklärt das Glücksspiel zur Bedingung seines Funktionierens. WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas hat mit Urs Stäheli gesprochen.

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WirtschaftsWoche: Herr Stäheli, sieben Jahre nach dem Boom and Bust der New Economy sind die Kapitalmärkte wieder Spektakel: Der Dax steigt und stürzt, in China wetten 100 Millionen Kleinanleger auf steigende Kurse. Gibt es ihn also doch, den Kasino-Kapitalismus? Stäheli: Und wie es ihn gibt. Noch dazu in seiner wohlbekannten Form: als Glücksspielwiese und Wohlstandswürfelei – nicht zuletzt der kleinen Leute. So verstanden, entwickelt der Begriff überhaupt erst seine eminente Bedeutung: Er thematisiert, dass immer auch ein spielerisches Moment in der Finanzökonomie enthalten ist. Das Problem ist, dass „Kasino-Kapitalismus“ heute vor allem als zensorischer Begriff verwendet wird: Seine Benutzer wollen mit ihm die Gefährlichkeit der Spekulation bezeichnen. Leider gerät dabei das Entscheidende aus dem Blick, nämlich dass das Spiel als populäres Element der Börsenwirtschaft ihr notwendiger Bestandteil ist. Das Spielerische ist keine Pathologie der Finanzökonomie, sondern eine Bedingung ihres Funktionierens. Sie wollen die Protestantismus-These von Max Weber auf den Kopf stellen und durch eine Ökonomie des Spieltischs ergänzen? Warum denn nicht? Die klassische These einer asketischen Lebensführung erzählt doch allenfalls die halbe Wirtschaftsgeschichte. Die Entstehung der Finanzmärkte kann nicht mit Max Weber, sondern nur aus dem dionysischen Geist des Spieltischs heraus erklärt werden, aus der Freude an der Selbstreferenz von Geld. Wenn wir verstehen wollen, wie moderne Ökonomie funktioniert, ist es wichtig, das irrationale, rauschhafte Element der Kapitalmärkte mit zu erfassen. Wir müssen uns das Wechselspiel anschauen zwischen der Leidenschaft in der Finanzökonomie einerseits und ihrer Rationalisierung und Disziplinierung andererseits. Lässt sich der Begriff des „Kasino-Kapitalismus“ in diesem Sinne fruchtbar machen für die Beschreibung der Kapitalmärkte? Ja – aber nur, wenn man mit ihm auf die prekäre Grenze zwischen Glücksspiel und Spekulation hinweist, die für die Finanzökonomie seit jeher konstitutiv ist – und die sie immer wieder neu vermessen muss. „Kasino-Kapitalismus“, richtig verstanden, bezeichnet einen Konflikt, den die Börse selbst produziert: Sie wird einerseits durch Spekulation populär – und andererseits durch sie als Institution der ökonomischen Vernunft bedroht. Seine widerständige Kraft entfaltet der „Kasino-Kapitalismus“ nicht als fundamentaloppositioneller Kampfbegriff, sondern als Kritik der Finanzökonomie eo ipso am Übergewicht des Spekulativen in ihr. Wenn es die Finanzökonomie selbst ist, die die Balance zwischen Spiel und Vernunft an der Börse herstellt, liegt der Schluss nahe, die Spekulation sei aus dem Glücksspiel entstanden. Genauso ist es ja auch. Die Spekulation wurzelt im Glücksspiel – und eben das ist ihre Kalamität: Einerseits bezieht sie ihre Anziehungskraft aus den Momenten des Zufalls und Glücks; sie will attraktiv sein und möglichst viele Teilnehmer für sich gewinnen. Andererseits droht sie ihre ökonomische Integrität, ihren guten Ruf als Barometer, ja Quintessenz der Wirtschaft in eben dem Maße zu verlieren, wie sie an Popularität gewinnt. Es ist das unauflösbare Paradox der Börsenspekulation, dass sie gleichzeitig ein Maximum an Kontingenz und Vernunft erzeugen muss, um sich als populäre Institution auf Dauer zu stellen. Wie ist sie in dieses Dilemma geraten? Als die Spekulation zu Beginn des 19. Jahrhunderts anfing, sich als Teilbereich der Wirtschaft zu etablieren, musste sie sich vom Glücksspiel scharf abgrenzen – weil sie aus ihm hervor ging. Sie müssen wissen, dass die Spekulation im 17. und 18. Jahrhundert noch an den gleichen Orten wie das Glücksspiel stattfand: in Caféhäusern, auf Jahrmärkten und öffentlichen Plätzen. In der Figur des curbstone traders, des Straßenrandhändlers, ist der spekulative Spieler dieser Zeit sinnbildlich verewigt: Er bezeichnet eine Person, die zugleich Händler war und Investor, Spekulant und Spieler. Der curbstone trader war eine im Wortsinn zwielichtige Figur. Damals gab es noch keine Börsengebäude als offizielle Orte der Spekulation, keine ausdifferenzierten Rollen zwischen Händler und Maklern, keine zentrale Instanz, die Aktienkurse festgelegt und überwacht hätte. Spekulation fand damals lokal, gelegentlich und auf der Straße statt: als Variation des Glücksspiels.

Seither steht die Spekulation unter dem Generalverdacht des Glücksspiels... ... und wird ihn nicht mehr los. Spiel und Spekulation werden seit dem 18. Jahrhundert gleichermaßen als irrational undvernunftfern kritisiert, als Niederlage der Zivilisation und „blinder Fleck der Aufklärung“. Entsprechend werden Spiel und Spekulation als zerstörerische Sucht beschrieben, als Epidemie, die das Gemeinwesen bedroht. Noch folgenreicher ist, dass Spiel und Spekulation als parasitär erachtet werden, als Beleidigung des Arbeitsprinzips, als Verachtung der persönlichen Leistung. Warum? Weil beide das Geld zur Selbstreferenz erheben – und die ökonomische Praxis des Gebens und Nehmens verhöhnen? Exakt. Die Spekulation wird als pervertierte Ökonomie beschrieben, in der die Motive des Marktes – fairer Tausch, gerechte Preisbildung – und das Prinzip von Angebot und Nachfrage suspendiert sind. Der Spekulant erhöht in diesen Lesarten seine Gewinne nicht durch das Dazwischentreten von Arbeit, er ist auch kein Unternehmer, der Verantwortung übernimmt – das heißt, er beschäftigt sich nicht mit Werten, sondern mit Wertdifferenzen. Genauso der Spieler: Auch ihm gehe es nicht darum, seine Arbeitskraft gegen Geld anzubieten, sondern mittels künstlich erzeugter Wertdifferenzen – „Full House“ schlägt „Straße“ – eilige Gewinne zu erzielen. Aber geht es dem Spieler wirklich um den Gewinn? Ist es nicht das Spiel selbst, das ihn reizt? Ja, genau – für die Spekulationsgegner ist dies jedoch nur ein weiterer Anlass zur Kritik: Spieler und Spekulanten kaufen weder reale noch fiktive Güter, das heißt die Geldverwendung selbst wird zum Thrill, die Tatsache, dass Geld Geld mehren kann. Ein Teil des Thrills wird durch die zeitweilige Unbestimmtheit von Verlust und Gewinn erzeugt, sprich: durch die Erfahrung von Kontingenz im Spiel. Der Spieler erfährt seine Ungewissheit als äußerste psychische und körperliche Anspannung – und genießt diese Kontingenz als Präsenzerfahrung. Wir halten fest: Der Spieler im Spekulanten genießt die Lust an seinem antiaufklärerischen Tun? Ja und nein. Er genießt die Kontingenz des Spiels, einerseits. Andererseits betreibt er es mit äußerst rationalen Mitteln. So wie der professionelle Spieler ausgeklügelte Systeme zur Steuerung seiner Gewinnchancen entwickelt, beschäftigt sich der Spekulant mit Formeln, Chartanalysen und Investmenttechniken, um sein Tun zu rationalisieren. Eben das ist der unauflösbare Widerspruch der Börsenspekulation: Wenn man wirklich rationales Subjekt wäre, würde man nicht zu spekulieren beginnen, hat John Maynard Keynes einmal gesagt – es bedarf das Irrationale, damit Spekulation entstehen kann. Der Skandal der Finanzökonomie besteht darin, dass der Spekulant sich – wie der Spieler – bewusst entscheidet, irrational zu sein. Und dass er versucht, eine ungewisse Zukunft nicht nur beherrschbar, sondern berechenbar zu machen. Wann trat der Spekulant aus seiner Identität als „Homo ludens“ heraus? Wann reifte er zum „Homo oeconomicus“? In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts, das heißt in dem Moment, als es die ersten Börsen gab, oder besser: die ersten Börsengebäude, zu denen manche Zugang hatten und manche nicht. Es ist der gleiche Moment, an dem der Versuch unternommen wird, die Finanzspekulation zu einer ökonomischen Praktik zu machen und gegen das Glücksspiel abzugrenzen. Und? Gelingt diese Abgrenzung? Zunächst nicht. Die alten Kritiker des Geldspiels sehen nicht ein, dass Spekulation allein deshalb besser sein soll, weil sie nunmehr hinter verschlossenen Türen stattfindet. Im Gegenteil: Sie verschärfen ihre Kritik, indem sie dem Geldspiel zugestehen, mit seiner moralischen Fragwürdigkeit offen und ehrlich umzugehen. Die Spekulation hingegen wird als Spielhölle in der Maske des Geschäfts angeklagt, als unehrliche Glücksspielerei, die sich den Tarnmantel der Ökonomie umhängt.

Wie reagiert die Finanzökonomie auf die Kritik? Sie nimmt die moralische Kritik auf, vereinnahmt sie gewissermaßen – und entwickelt an ihr Argumente, die einen Nutzen der Spekulation für die Ökonomie behaupten. So wird die Lust am Risiko im Glücksspiel zur vernunftbetonten Vermeidung des Risikos in der Spekulation umgedeutet, das heißt: Spekulation erscheint nicht mehr als Wette auf die Zukunft, sondern im Gegenteil als der Versuch ihrer Beherrschung. Spekulation wird, ganz im Sinne des lateinischen Wortstamms, als seherische Fähigkeit aufgefasst, die der Wirtschaft auf zweifache Weise dient: als erwartungsvoller Blick nach vorn, das heißt als Antrieb für Innovationen und Entdeckungen. Und als Spähen in die ferne Zukunft, das heißt als Praktik, die verhindert, „das Fehlentwicklungen verborgen bleiben“ – so hat Milton Friedman es einmal gesagt. Eine Ökonomie, die über keine Spekulation verfügt, so lautet die Schlussfolgerung, ist blind und orientierungslos. Sie produziert ins Blaue hinein. Was erreicht die Finanzökonomie mit dieser Wendung? Sie entkräftet den Vorwurf, die Spekulation sei ein Parasit der Ökonomie. Weshalb sie sich übrigens nicht nur als „Auge der Ökonomie“ darstellt, die die Zukunft als gegenwärtige Wahrscheinlichkeit abbildet, sondern auch als produktive Kraft, das heißt: Der Spekulant wird als Hersteller von Preisen eingeführt, als Händler, der seinen Kunden weltweit rund um die Uhr verlässliche ökonomische Informationen liefert. Was hier stattfindet, ist eine Rückkopplung der Spekulation an die Produktivitätsökonomie – der Parasitismusvorwurf wird dadurch entkräftet, dass der Spekulant dem Arbeiter und Unternehmer wieder an die Seite gestellt, in die ökonomische Ordnung reintegriert wird. Nachhaltig war diese Strategie aber nicht. Hat sich die Wahrnehmung des Spekulanten als Parasit im Heuschrecken-Vorwurf nicht aktualisiert? In der Tat. Die Heuschrecken, die über ein Feld herfallen, es zerstören und dann wieder verschwinden, sind in gewisser Weise Parasiten: Sie leben auf Kosten anderer. Interessant ist, dass die Kritik hier ganz im Gegensatz zur traditionellen Marx’schen Diktion eine Opposition aufbaut, die nicht Arbeiter und Unternehmer gegeneinander stellt, sondern Arbeiter und Unternehmer gegen den Spekulanten in Stellung bringt. Hier wird nicht nur ein Feindbild aktualisiert, sondern auch eines aufgegeben. Haben der Parasitismus-Vorwurf damals und die Heuschrecken-Debatte heute die (Eigen-)Wahrnehmung ihrer professionellen Teilnehmer als elitäre Paria begünstigt? Der Vorwurf hat jedenfalls dazu geführt, dass sich die Börse damals wie heute als Markt der Märkte verheiligt, als Ort, an dem man den Kern und das reine Wesen der Ökonomie vorfindet. Danach übernimmt die Spekulation die Funktion, den Markt mit sich selbst in Einklang zu bringen. Die Strategie, die hinter diesem Argument steckt, ist klar: Wollen die Kritiker der Spekulation nicht gleich die Systemfrage stellen, das heißt die ökonomische Ordnung als Ganzes hinterfragen, müssen sie ihre Kritik an der Finanzökonomie entschärfen. Wie erfolgreich ist die Strategie? Gewinnt die Spekulation mit ihrer Selbstbeschreibung als Markt der Märkte an Attraktivität? Durchaus. Durch die Abwesenheit aller Opportunitätskosten, die entstehen, wenn tatsächliche Produkte getauscht werden, erscheint die Börse dem Profi als Ausdruck des idealen Marktes. Dem Laien hingegen tritt die Börse durch die Selbstreferenz des Geldes als populäres Spektakel entgegen. Die Abstraktion der Ware „Preis“, die ungeheure Verdichtung reiner Börseninformation und die Rolle des Spekulanten als (Selbst-)Beobachter der Ökonomie – das alles führt in den 1870er-Jahren zu einem Inklusionsschub an den Börsen. Aber bezahlt die Finanzökonomie ihre Popularität nicht mit ihrer Fiktionalisierung? Das Geschehen an der Börse wird für den Laien doch zunehmend undurchschaubar. Natürlich, das ist die Kehrseite: Die Spekulation wird zur Bühne reiner Fiktionen – eben weil nichts Materielles an ihr verhandelt wird. Nirgends wird das deutlicher als im Future-Handel, der die Abstraktion der Ökonomie auf die Spitze treibt, indem er eine Art Spekulation auf die Spekulation betreibt: Es findet ein Geschäft zwischen einem Verkäufer statt, der die Ware nicht hat, nicht erwartet, sie jemals zu haben und sie auch gar nicht haben will – und einem Käufer, der die Ware nicht will, sie nicht erwartet zu erhalten und sie auch nie bekommt.

An welchem Punkt wird die Fiktionalisierung der Börsen für sie zum Problem? An dem Punkt, an dem die Realitätsreste kaum mehr erkennbar sind und die Märkte als undurchschaubar unter Manipulationsverdacht stehen. An diesem Punkt greifen nicht nur Politik und Öffentlichkeit von außen in die Debatte ein, sondern auch das Recht. So hat 1889 der Supreme Court in den USA den Handel mit Futures eingeschränkt und reine Differenzgeschäfte verboten. Das Gericht stellte fest, dass an der Börse künftig die Absicht eines Geschäfts erkennbar sein müsse. Gibt es umgekehrt ein Beispiel dafür, dass die Finanzökonomie selbst zuweilen spekulative Praktiken kritisiert? Ein besonders schönes sogar: Die Kritik an den Bucketshops um 1900. Bucketshops waren Travestien der Börse, ihre perfekten Imitationen; sie sahen Maklerbüros ähnlich, sie offerierten ihren Kunden Zigarren – und sie boten Spekulationen auf Börsenkurse an. Der einzige Unterschied zur realen Börse bestand darin, dass echte Käufe und Verkäufe nicht getätigt wurden, das heißt, dass mit dem Kauf eines Papiers nicht dessen Kurs beeinflusst, sondern nur auf die Kursveränderung gewettet wurde. Die Fiktionalisierung der Spekulation wurde dadurch gewissermaßen verdoppelt. Und die Bucketshops – um 1900 gab es etwa 1000 in den USA – stellten eine zweifache Bedrohung für die Börsen dar: Einerseits saugten sie Kapital vom Markt, andererseits beschädigten sie den Ruf der Spekulation insgesamt. Und wie reagierten die Börsen? Indem sie die traditionell gegen sie erhobenen Vorwürfe an die Bucketshops weiterreichten. Die Finanzökonomie kritisierte die Fiktionalität der Bucketshops als exzessiv und suchte nach einer Abgrenzung zu ihren eigenen, legitimen ökonomischen Operationen. Und sie fand sie in einer juristischen Bestimmung: Während der Spieler im Bucketshop mit nichts als fiktiven Werten handelt, geht der Aktienkauf und -verkauf beim Spekulanten mit einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse einher. Welche Lehre zieht die Finanzökonomie aus der Episode mit den Bucketshops? Etwa die, dass die Abstraktion der Spekulation ihre Attraktivität nicht mindern kann? Das ist die Pointe, in der Tat: Wir haben es bei der Spekulation mit dem seltsamen Fall zu tun, dass ihre Selbstreferentialität auch für die attraktiv wird, die nicht verstehen, wie sie funktioniert. Die Zirkulation des Geldes wird an der Börse selbst zum Vergnügen – und das Beobachten der Spekulation eben dadurch zum Spektakel, dass man sich keinen Reim auf sie machen kann. Das Chaos auf dem Parkett in den tempelgleichen Gebäuden, das wilde Durcheinander der Stimmen, die Heftigkeit der Gesten, das rasante Auf und Ab der Kurse... das alles wirkt auf den Laien anziehend. An der Börse wird die Abstraktion selbst zum Spektakel. Na ja – in Deutschland hält sich die Begeisterung nach dem Crash der New Economy in Grenzen. Wird die Börse als attraktiver Ort für Leute ohne ökonomische Kompetenz in den USA anders bewertet? Und wie! Die USA wurden ja gewissermaßen im Geist der Spekulation geboren – sie haben das spekulative Moment in die Bestimmung der eigenen Identität aufgenommen, bis hinein in die Botschaft, die jeden Migranten heute noch weltweit erreicht: Du kannst zwar heute kein Neuland mehr erschließen, aber du kannst die USA weiterhin als „Möglichkeitsraum“ auffassen – und auf deinen sozialen Aufstieg spekulieren. Vergleichbares lässt sich von keiner europäischen Nation behaupten. Hat die positive Bewertung der Spekulation in den USA auch eine andere Aktienkultur befördert als in Europa? Davon bin ich überzeugt. In Deutschland findet ja erst seit wenigen Jahren so etwas statt wie eine Börsenspekulation für jedermann. In den USA hat es sie von Beginn an gegeben – positiv verbunden mit dem Argument, dass die Beteiligung des kleinen Spekulanten am Aktienmarkt eine Form der demokratischen Partizipation ist. Die Börse als Hort der Demokratie? Sie übertreiben. Ganz und gar nicht. Die Börse wird in den USA von vielen als Ort der praktizierten Gleichheit verstanden, als Geschäftsstätte, die jedem offensteht, der auch nur über ein bisschen Geld verfügt, die im Gegensatz zur Politik frei ist von Netzwerkkarrieren, Hahnenkämpfen und rhetorischer Kraftmeierei – und die aufgrund ihrer Anonymität niemanden wegen seines Geschlechts oder seiner Hautfarbe diskriminiert. Die Börse ist die täglich erreichbare Wahlurne des kleinen Mannes; an ihr kann er jederzeit selbst über sein Schicksal abstimmen.

Wann hat Europa die Vorstellung eines demokratischen Aktienmarktes erreicht? Mit dem Thatcherismus, zu dessen Erfolgsgeheimnissen der people’s capitalism gehörte. Das Interessante am Thatcherismus war, dass er nicht – wie üblich – die Ökonomisierung des Politischen thematisierte, sondern die Politisierung der Ökonomie beschrieb. Seither ist es möglich, auch linke Emanzipationsvorstellungen in die Marktlogik einzuschreiben: Die Spekulation mag blind gegenüber dem ökonomischen Prozess sein – blind » gegenüber Geschlecht, Herkunft, Rasse und Klasse ist sie auf jeden Fall. Und doch hält sich hierzulande Kritik an der Spekulation, die Kleinanleger vom Markt fernhält. Es hat Tradition in Europa, die Leute vor der Spekulation zu schützen. Bereits Max Weber sah mit großem Unbehagen, dass kleine Anleger ihr Glück an der Börse versuchten. Sein Ideal der Börse war das eines Tätigkeitsfeldes für verantwortungsvolle Finanziers, die nicht beim ersten Fehlschlag Schiffbruch erleiden. Mit dem restriktiven Zugang zur Börse verband Weber die Hoffnung auf ihre Stabilität. Warum sah er sie von Kleinanlegern bedroht? Weber kritisierte, dass an der Börse Leute zu spekulieren begannen, die keine Ahnung von Ökonomie hatten– und die sich nur von diesem rauschhaft-spielerischen Moment der Speku-lation angezogen fühlten. Er sah dadurch die ökonomische Rationalität der Börse gefährdet – und er fragte sich: Was passiert, wenn die Mehrheit der Spekulanten nicht mehr über die Fähigkeit der Zukunftsbeherrschung verfügt? Weber glaubte nicht daran, dass mit der Liquidität auch die Stabilität des Marktes steigt. Die „Vernunft der Masse“ erschien ihm als fast schon religiöses Motiv: als irrationale, entpersonalisierte Logik des Marktes, die glaubt, sich über die Summe der irrigen Einzel-Logiken erheben zu können. Wenn man sich manche Marktteilnehmer anschaut, getrieben von der Gier und vom Traum eines bedingungslosen Einkommens... ...dann könnte man meinen, Weber habe teilweise recht. Hat er ja auch. Nur darf man nicht glauben, der professionelle Spekulant sei grundsätzlich besser gegen menschliches Fehlverhalten gefeit als der Kleinanleger. Gerade dies betonen von der Massenpsychologie beeinflusste Ökonomen: Jeder ist anfällig für die Suggestion der Massenbewegung, für die Logik der Masse als ansteckender Prozess – vor allem im Falle der Finanzmassen, die ja der kollektiven Täuschung erliegen, individuell reich zu werden. Wie wird die Masse zur Masse? Durch gegenseitige Ansteckung, durch die Schnelligkeit, mit der sie sich und damit ihre Attraktivität vergrößert – und durch die Begeisterung, die sich selbst entgegenbringt: Massen sind weniger von einem Zweck her bestimmt; stattdessen machen sie sich im Zuge eines Wirklichkeitsrausches zum Gegenstand ihrer Selbstbewunderung, das heißt, die Masse vergrößert sich, indem sie zum sinnlichen Fixpunkt wird. Im Falle der Finanzmasse kommt hinzu, dass sich in ihr jeder für rationaler und individueller als die Masse selbst hält – und dass ihre Selbstreferenz sich umso leichter entfalten kann, als sie der Selbstreferenz der Börsenspekulation entspringt. Die Finanzökonomie wird in diesen Krisendiagnosen aus ihrem Innersten heraus von den Gesetzen der Massenpsychologie beherrscht. Von welchen Gesetzen sprechen Sie? Etwa vom Gesetz des Gerüchtes und des imitatorischen Verhaltens. Gerüchte sind ihrem Wesen nach mitreißend, sie reduzieren Reaktionen auf Impulse, tilgen Information, erfordern schnelles Handeln. Gerüchte können die Entstehung von Massen also nicht nur begünstigen, sondern auch beschleunigen; sie initiieren eine Herdenlogik der Imitation. Im Boom sind sie affektiv aufgeladen durch die Geldgier: Das Publikum mag vielleicht nicht die Gründe für einen Kursanstieg verstehen, wohl aber versteht es, dass ein Wertpapier steigt – und dass ihm Gewinne durch die Lappen gehen.

Mit welcher Folge? Mit der Folge, dass es spät und massenhaft auf den Zug aufspringt. Dabei hat das Internet die Ansteckungsgefahr noch erhöht: Seither sind Gerüchte nicht mehr auf persönliche Begegnungen angewiesen, können sich gewissermaßen ohne Absender und Adressat verbreiten. In der Panik wird die Schnelligkeit der Gerüchtekommunikation besonders offenbar. Hier schlägt die Gier plötzlich in Angst um – und damit die Sammlung der Masse in ihre fluchtartige Auflösung: Jeder möchte sich so schnell wie möglich retten, ohne Rücksicht auf die anderen... ...und so wird in der Panik auch der professionelle Spekulant zum Lemming? Natürlich, denn auch er büßt seine Distanz zum Markt ein. Gerade deshalb sind Paniken für die Ökonomie auch so eine enorme Provokation: Durch die affektive Aufladung der Spekulation, durch die wilde Logik der Ansteckung und die Suggestion der Gerüchte werden die klassischen individualistischen Handlungsmodelle der Wirtschaftstheorie radikal infrage gestellt. Und wie rehabilitiert die Finanzökonomie den zum Herdentier herabgewürdigten Spekulanten? Ein interessanter Versuch, mit der Inkompetenz und Beeinflussbarkeit der Massen umzugehen, ist die Aufgabe der Hoffnung, jeder kleine Spekulant könne zum ökonomisch kompetenten Subjekt gemacht werden. Wie bitte? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich in den Contrariern eine Investmentschule, die sich die breite Teilnahme von Laien und deren irrationales Massenverhalten zunutze machte. Der Contrarier versucht, die Gesetze der Masse zu entschlüsseln, die es ihm – der sich gegen die Masse stellt – erlauben, von der Dummheit der Masse zu profitieren. Damit steigert der Contrarier die Entreferentialisierung der Spekulation: Er interessiert sich nicht dafür, in welcher ökonomischen Situation sich ein Unternehmen befindet, sondern nur noch dafür, wie die Masse über das Unternehmen denkt. Der Contrarier ist ein klassischer Beobachter zweiter Ordnung – er fällt ausschließlich derivative Werturteile. Damit gibt er vollständig die Position auf, dass es so etwas wie einen rationalen Markt geben könnte. In seinen Augen kann höchstens er selbst gegen die Marktmasse rational agieren. Indem er mit der Masse mitläuft – und sich im entscheidenden Moment von ihr löst? Das ist das Geheimnis seines Erfolgs, ja. Ein Contrarier muss seine Rationalität temporär aufgeben. Um die Masse zu kennen, muss er sich von ihr anstecken lassen, und um sich rechtzeitig gegen sie stellen zu können, muss er immer schon geimpft sein. Wird dem Contrarier die rigorose Selbstbeobachtung nicht zum Problem? Ein erfolgreicher Spekulant muss sich doch auf seine Instinkte verlassen und möglichst schnell handeln können. Der Contrarier ist so etwas wie ein Musterbeispiel für die Disziplinierungstechniken der Finanzökonomie, die eingesetzt und eingeübt werden müssen, will der Spekulant nicht im wilden, exzessiven Marktgeschehen untergehen. Dazu ist eine stabile Identität wichtig – sie ist Voraussetzung dafür, sich Nüchternheit, Gelassenheit und Empathieverzicht anzutrainieren. Die Mittel dazu sind Affektkontrolle, die zeitweise Isolation vom aktuellen Marktgeschehen – und ständige Selbstbeobachtung. Sie entwickeln den Spekulanten zu einer Figur, die er selbst gern verlacht, zu einem Zweifler und Zögerer, der eine Selbsterfahrungstherapie nötig hat. Der Spekulant hat eine höchst komplexe, teils widersprüchliche Identität. Seine Zukunft braucht keine Herkunft, im Gegenteil: Seine Identität baut sich nicht auf Erzählungen auf, sondern darauf, dass er jederzeit vergessen können muss, was er einmal gedacht hat. Ein guter Spekulant betrachtet seine Wertpapiere nicht als Konsumgüter – niemals hängt er an ihnen. Er überprüft jederzeit neu, ob er die Papiere abstößt oder behält.

Der Spekulant ist zur Dauerpräsenz in der Gegenwart verurteilt? Exakt. Die ständige Herausforderung der Gegenwart als vorgestellte Zukunft sowie das starke Abdunkeln der Vergangenheit bestimmen die Identität des Spekulanten; nur so kann er seine ökonomische Rationalität sicherstellen. Eine heikle Subjektkonstruktion... ... die durch die Modernität der Medien noch verschärft wurde: Das Internet verhindert die Flucht in die Isolation – und archiviert Informationen, die den idealen Spekulanten nur belasten. Dadurch fällt es ihm zunehmend schwer, sich auf seine eigentliche ökonomische Aufgabe zu konzentrieren: in die Zukunft zu schauen. Sie meinen, er starrt nur noch auf die Kurse – und lässt den Blick nicht mehr in die Ferne schweifen? Die Medialität der Spekulation hat die Selbstreferenz der Börse gesteigert, keine Frage. Die eigentliche Revolution fand aber nicht durch das Internet statt, sondern in den 1870er-Jahren mit der Einführung des Börsentickers, der ein schmales Endlosband mit Wertpapierkürzel, Handelsvolumen und Kurs perforierte. Es war der Ticker, der Börsenkurse erstmals in Echtzeit an einer prinzipiell unbeschränkten Anzahl von Orten verfügbar machte – und der aus dem Spekulanten als Zukunftsdeuter einen Beobachter von Kursbewegungen machte. Was macht den Ticker so verführerisch? Der Ticker ermöglicht die Teilnahme am Markt, ohne anwesend sein zu müssen. Als Lieferant reiner Information verspricht er dem Spekulanten genau die Unabhängigkeit, die er zur Erreichung seiner Ökonomizität anstrebt. Nur kann der Ticker das Versprechen der Rationalität letztlich nicht halten, weil er zum Orakel wird. Er dient dem Spekulanten nicht nur als Mittel der Information, sondern wird auch als Medium selbst interessant: Der Spekulant entwickelt dank des Tickers ein feeling für den Markt, ein Gefühl, das sich durch das reine Hören des Tickers, durch die Geschwindigkeit des Zahlenflusses an seinem Bewusstsein vorbeischleicht. Das heißt, der Ticker ermöglicht theoretisch eine höhere Rationalität, die er praktisch sofort wieder auflöst? Das ist der Punkt. Der Ticker schenkt dem Spekulanten die besten Bedingungen, rein ökonomisch denkendes Subjekt zu sein – und schlägt ihm diese Bedingungen gleich wieder aus der Hand, indem er durch seine Geräusche, seine Geschwindigkeit, seine Luftschlangenproduktion fasziniert, kurz: durch seine Medialität. Der Ticker selbst wird zum Spektakel – und dementiert die ökonomische Vernunft. Treiben die modernen Medien diese Grenzkonflikte zwischen Spiel und Spekulation auf die Spitze? In gewisser Weise, ja. Die sinnliche Qualität des Börsentickers wird im Internet virtuell aktualisiert: als Variation der uralten Faszination, dass sich auf dem Finanzmarkt etwas Unverstehbares, Unfassbares, mehr denn je Unsichtbares abspielt, das in eine kontinuierliche Abfolge von Zeichen verwandelt werden kann. Das Börsenband fasziniert durch die Dialektik von höchster Kontingenz und absoluter Gewissheit. Gerät die ökonomische Vernunft der Spekulation durch das Internet endgültig unter die Räder? Ach was, nein. Die Spektakularität der Spekulation ist nicht vermeidbar, das Ökonomisch-Sein der Ökonomie war seit Beginn der Spekulation durch sie bedroht. Der Traum der Wirtschaftswissenschaftler, einen durch und durch rationalen Raum der Ökonomie zu erhalten, der sich durch mathematische Modelle vollständig modellieren ließe, ist unerfüllbar – gerade weil die Ökonomie selbst einen nichtökonomischen Überschuss erzeugt, um funktionieren zu können. Es ist ein Fehler zu glauben, das irrationale Moment werde von außen in die Ökonomie hineingetragen. Es ist der Markt, der immer wieder seine Logik verdirbt, um sich selbst zu erhalten und erneuern.

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